I
Der Name Charles Beard ist in Deutschland und Europa allenfalls Fachhistorikern geläufig. Selbst in den USA, wo Charles Austin Beard (1874-1948) zu Lebzeiten eine führende Rolle als public intellectual spielte, zählt er außerhalb der Seminare zu den ›vergessenen‹ Autoren einer zeitlich entrückten Epoche des 20. Jahrhunderts, was nicht allein dem Wechsel intellektueller Moden zuzuschreiben ist. Vielmehr erregte Beard, über Jahrzehnte Protagonist eines in der progressive era geborenen reformerischen Geistes, wegen seiner massiven Kritik an Franklin D. Roosevelt und dessen Außenpolitik vor und während des II. Weltkriegs Empörung unter seinen internationalistisch gesinnten, von der welthistorischen Mission der USA überzeugten Historikerkollegen und verlor dabei seine Reputation als makelloser liberal. (Philbin, 91)
In den 1950er und 1960er Jahren trugen sodann von jüngeren Historikern vorgelegte Detailstudien zur amerikanischen Ära der ›Gründerväter‹ dazu bei, Beards Ruhm als bahnbrechender Historiker, der sich auf das 1913 erschienene Werk An Economic Interpretation of the American Constitution gründete, zu demontieren. Auf der anderen Seite fanden Beards ›ökonomische‹ Thesen auch wieder Verteidiger. (Hofstadter III, 207-284; Stevens; Manley, 2f.)
Vor diesem Hintergrund verdient ein Mann wie Beard aus unterschiedlichen Gründen unser Interesse: 1. aufgrund seiner Biografie als typischer progressive in den beiden Jahrzehnten vor und nach dem I. Weltkrieg sowie als eigenwilliger liberal in der Ära des New Deal,
2. unter historiographischem Aspekt als bekanntester Exponent einer Schule, die unter amerikanischen Historikern mit dem Begriff ›ökonomischer Determinismus‹ assoziiert wird,
3. als Repräsentant und Wegbereiter eines spezifischen ›Revisionismus‹ bezüglich der welthistorisch entscheidenden Rolle des Präsidenten F.D. Roosevelt.
II
Seiner Biografie nach erscheint der ›progressive‹ Beard als Repräsentant des klassischen liberalism, jener älteren idealistisch-aktivistischen Tradition, die, verwurzelt in der im Ursprung säkular-protestantischen Zivilreligion der USA, von der Wende zum 20. Jahrhundert bis in die Jahrhundertmitte hinein politisch maßgeblich war. (Schlesinger Jr., 130-144) Etwa seit den 1960er Jahren, im Gefolge des Civil Rights Movement, wurde diese sozialreformerische, egalitär-demokratische Tradition von im weitesten Sinne ›neulinken‹ Strömungen umgeformt, die den Charakter des heutigen liberalism, des amerikanischen Linksliberalismus, ausmachen.
Charles Beard, 1874 als Sohn eines wohlhabenden Landbesitzers, Bankiers und Zeitungsbesitzers im noch ländlich geprägten Indiana geboren, besuchte, seinem Familienhintergrund entsprechend, eine Quäkerschule (Spiceland Academy). Während des Studiums an der De-Pauw University, einem Methodisten-College in Greencastle, Indiana, vernahm er die Botschaft des frühen Social Gospel. Diese aktivistische , auf das ›Reich Gottes auf Erden‹ zielende Richtung eines liberalen Christentums – ihren Namen verdankt sie dem Buch The Social Gospel (1917) des Theologen Walter Rauschenbusch – bildete eine Grundströmung des progressivism, der allgemein Züge »einer modernen protestantischen Erweckungsbewegung« trug. (Hofstadter I, 152) Eine Exkursion führte den College-Studenten Beard (im Sommer 1896?) nach Chicago, in die amerikanische Symbolstadt der industriekapitalistischen Expansion und des neuen industriellen Elends. Dort verbrachte Beard einige Zeit in dem von Jane Addams (1860-1935) als soziale Heilstätte betriebenen Hull House. (Nore, 29; Goldman, 115; Wish, 354; Hicham, 1)
Biografisch bedeutsam wirkte Beards vierjähriger Studienaufenthalt (1898-1902) in Oxford, in der außerhalb ihres ehrwürdigen akademischen Kerns vom Industrialismus von Grund auf veränderten englischen Universitätsstadt. Akademisch gefördert von einem Geschichtsprofessor, der – wie sein Mentor an der DePauw University – noch der ›teutonischen‹ Geschichtstheorie (Teutonic Theory) von der Geburt der angelsächsischen Freiheitsgeschichte in den Wäldern Germaniens, anhing, wurde Beard zu einem engagierten Mitstreiter der Arbeiterbewegung. In Oxford begegnete er dem aus Kansas stammenden amerikanischen Gewerkschafter und christlichen Sozialisten Walter Vrooman sowie dem schottischen Gewerkschaftsführer Keir Hardie, dem Gründer der Independent Labour Party und in London lernte er auch den Anarchisten Fürst Piotr Kropotkin kennen. Unterstützt von britischen Gewerkschaftern sowie insbesondere von der ILP, gründete Beard 1899 das Arbeiterbildungszentrum Ruskin Hall, benannt nach John Ruskin, dem als Künstler und Kunsttheoretiker berühmten christlich-konservativen Sozialisten des viktorianischen Zeitalters. (Nore, 24-46, 61) Ein Porträt von Ruskin zierte zeitlebens Beards Arbeitszimmer. (Hicham, 1)
Bildung und Abstinenz schienen dem Aktivisten Beard die Voraussetzung für die Emanzipation des Arbeiters als eines selbstbewussten Trägers der sozialen Evolution zu sein – ein Progressismus, der von Auguste Comte, John Stuart Mill, Darwin, Herbert Spencer und nur zum geringstem Teil von Karl Marx inspiriert war. Er schrieb in der Universitätszeitschrift Young Oxford es gelte, sich den Herausforderungen der Gegenwart anzunehmen, »with a full comprehension of the profound meaning of the industrial revolution, a thorough grasp of the problem of democracy, a clear knowledge of the serviceableness of applied science and a complete acceptance of the principles of social evolution.« (Zit. in: Nore, 62) Der zukunftsoptimistische Grundton blieb kennzeichnend für Beards Wirken als Historiker und Publizist.
1902 kehrte Beard zusammen mit seiner gleichfalls dem Quäkertum entstammenden Frau Mary Ritter Beard – er hatte sie während eines Zwischenaufenthalts an der Cornell University geehelicht – in die USA zurück. An der Columbia University erwarb mit einer Arbeit über ein rechtsgeschichtliches Thema zum Amt des englischen ›Justice of the Peace‹ den Ph.D. Zunächst Lektor am Geschichtsdepartment, wurde er dort 1907 auf einen Lehrstuhl für ›Politics and Government‹ am Department of Public Law berufen. Zu seiner eigenen ›ökonomischen Geschichtsinterpretation‹ gelangte er unter dem Einfluss seines Mentors und Freundes James Harvey Robinson, bekannt als ›neuer Historiker‹ (An Outline of the History of the Intellectual Class in Europe, 1914), sowie seines Kollegen und Koautors E.R.A. Seligman, der bereits 1902 ein Buch mit dem Titel The Economic Interpretation of History vorlegte. Seligman war ein Marx-Kenner, der einen materialistischen Ansatz verfocht und zustimmend den Marxschen Satz aus Die Deutsche Ideologie vom Vorrang des sozialen Seins vor dem Bewusstsein des Subjekts zitierte. Er war gleichwohl kein Marxist, sondern ein Eklektiker, der sich bei Bedarf ebenfalls auf Ruskin beziehen konnte. (Nore, 66, 69f.) Beards nie versiegende Aversion gegen den Imperialismus speiste sich aus der Lektüre von John A. Hobsons epochalem Buch Imperialism. A Study (1902). (Stromberg, 1) Seine Sympathien für reformerischen Sozialismus gründeten zudem auf der Lektüre der Schriften von Eduard Bernstein, dem Erzvater des Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie. (Nore, 104)
Mit seinem 1913 erschienenen Werk The Economic Origins of the American Constitution, in dem er die materiellen Interessen der ›Gründerväter‹ bloßlegte, begründete Beard seinen Ruhm als historischer Mythenzerstörer. Ähnlich provokativ wirkte er mit seinem 1915 veröffentlichten Buch Economic Origins of Jeffersonian Democracy, worin er den für manche teilweise noch vom agrarischen Populismus der 1890er Jahre geprägten Progressives liebgewordenen Mythos desavouierte. Weder in den Anfangsjahren der Republik noch während seiner Präsidentschaft (1801-1809) habe Jefferson als selbstloser Protagonist des einfachen Volkes (»the people«) , etwa der kleinen Farmer – ganz zu schweigen von den rechtlosen Sklaven –, agiert, sondern als Exponent der Pflanzeraristokratie, mithin als Vertreter eigener Interessen. Die agrarisch dominierte Partei Jeffersons, die als dezentral-föderal gegen die zentralistischen ›Hamiltonians‹ auftretetenden ›Republicans‹, hätten nur – mit Erfolg – die Übernahme der Macht in der neuen Hauptstadt Washington aus der Hand der bisher dominierenden Kapitalbesitzer angestrebt. (Hicham, 2; Noble, 68; Nore, 138f.).
Neben seiner Lehrtätigkeit an der Columbia trat Beard zusammen mit seiner Frau, die sich in der Gewerkschaftsarbeit und für das – in den USA auf Bundesebene erst 1920 eingeführte – Frauenwahlrecht engagierte, als Vorkämpfer des ›Progressive Movement‹ hervor. Als Direktor der privat finanzierten ›Training School for Public Service‹, sodann des von den Columbia-Kollegen Seligman und Frank Goodnow gegründeten ›Bureau of Municipal Research‹ kämpfte er für kommunale Reformen, für öffentliche Versorgungsunternehmen – für diese bürgerte sich seinerzeit die Bezeichnung ›gas-and-water socialism‹ ein –, gegen die verbreitete Inkompetenz und politische Korruption in der Stadt New York. Als vorbildlich galt den Progressives die Gemeindeverwaltung in Deutschland, sie nahmen indes Anstoß an den als ›autokratisch‹ empfundenen Strukturen. (Nore, 98). In der 1914 gegründeten New Republic hatten die Progressives ihr publizistisches Sprachrohr, in dem ›X-Club‹ trafen sich deren namhafte Wortführer wie der Philosoph und Pädagoge John Dewey, der Journalist Lincoln Steffens sowie der Sozialist Morris Hillquit, dessen Wahlkampagne für den amerikanischen Kongress Beard 1907 unterstützte. (Ibid., 86f.)
Beard stand in Kontakt mit dem bis 1924 der Republikanischen Partei zugehörigen Robert M. La Follette, dem lange Jahre als Gouverneur (1901-1906), sodann im US-Senat (1906-1925) als Radikaldemokraten (»Fighting Bob«) agierenden Progressive aus Wisconsin. (Nore, 103f.; Goldman, 130-2, 224) Auf nationaler Ebene neigte er um 1914 jedoch mehr zu Theodore Roosevelt, der während seiner Präsidentschaft (1901-1909) als ›trustbuster‹ aufgetreten war, alsbald als ›progressiver‹ Protagonist eines ›New Nationalism‹ industrielle Expansion und demokratischen Fortschritt propagierte. Beards Antipathien richteten sich gegen Roosevelts Kontrahenten Woodrow Wilson, den anderen Exponenten des ›Progressive Movement‹. Wilson, den Verfechter demokratischer Moral unter der Parole ›New Freedom‹, zieh Beard der politischen Rückwärtsgewandtheit, indem er ihn zum geistigen Nachfahren des der Fiktion einer »agrarischen Demokratie« anhängenden Pflanzer-Aristokraten Thomas Jefferson erklärte. (Schlesinger Jr., 32) Als Roosevelt im Wahljahr 1912 die Republikanische Partei spaltete und gegen den ›konservativen‹ – ein in den USA damals aufkommender Begriff für meist wirtschaftsliberale Reformgegner – Amtsinhaber William H. Taft seine ›Progressive Party‹ gründete, verhalf er dem Demokraten Wilson zum Sieg. Vier Jahre später zog ›Teddy‹ Roosevelt mit der Forderung nach Kriegseintritt der USA in den Wahlkampf, während Wilson mit der Friedensparole ›He kept us out of war‹ seine Wiederwahl sicherte. (Noble, 64f., 68; Nore, 102; Hofstadter I, 206-237, 238-282; Heffner, 261-281)
Sein Quäker-Hintergrund hinderte Beard nicht, – anders als Progressives wie La Follette (Goldman, 184-6) – von Anfang als vorbehaltloser Befürworter eines Eintritts der USA in den Weltkrieg hervorzutreten – nicht erst im März 1917, mit patriotischen Tränen in den Augen vor Studenten der Columbia University (Nore, 169f). Eine Erklärung mag in Briefen zu finden sein, die er vor seinem Tode 1947 an den Historiker Arthur M. Schlesinger Sr sendet, mit dem er seit den gemeinsamen Columbia-Studienjahren befreundet war sowie an einen anderen ›revisionistischen‹ Autor, den Journalisten George Morgenstern von der Chicago Tribune, dem er schrieb: »I have been many things but never a pacifist nor any kind of absolutist.« (zit. in: Nore, 9) Ausschlaggebend für Beard war – ungeachtet seiner Liebe zur deutschen Sprache und Wissenschaft – die unter vielen Progressives verbreitete Abscheu vor deutscher »autocracy«, vor Kaiser und Junkertum (»Prussianism«). (Noble, 70) Darüberhinaus begrüßte Beard den Krieg als patriotisches Vehikel für soziale Reformen und demokratischen Fortschritt im Inneren sowie als historische Chance zur Beendigung des Imperialismus. Er pries die Finanz- und Industriemagnaten, die Rockefellers, Morgans, Vanderbilts und Harrimans als »creative pioneers« , die mit ihren »großartigen ökonomischen Strukturen« samt Kriegsindustrie die Basis für demokratische Kontrolle geschaffen hätten, und proklamierte zugleich die Umverteilung des nationalen Wohlstands. (Nore, 167f., 180) Aus derlei Motiven heraus stellte sich Beard zur Mitarbeit an einer staatlichen Propagandaeinrichtung (»Civic and Educational Cooperative Division of he Committee of Public Information«) zur Verfügung. (Ibid., 172)
III
Bis in die frühen 1920er Jahre gehörte Beard ins Lager der bekennenden Internationalisten, und seine Meinung über Wilson, der die ›Welt für die Demokratie sichern‹ wollte, wandelte sich vorübergehend ins Positive. (Noble, 70). Gleichwohl äußerte er sich skeptisch zu Wilsons ›14 Punkten‹. Anstelle des von Wilson angestrebten Völkerbunds – »an immense bureaucratic union of Governments instead of a democratic union of peoples« – veröffentlichte er Ende November 1918 zusammen mit den Columbia-Kollegen Robinson und Dewey ein Programm für eine ›League of Free Nations Association‹. Ein paar Jahre später hatte Beard angesichts der scheinbar unheilbaren Zustände in Europa seine Position revidiert. Er propagierte fortan den vollständigen politischen und ökonomischen Rückzug der USA aus der alten Welt. Er übte Kritik am Versailler Vertrag, wobei ihm in erster Linie die Rolle Amerikas missfiel, weniger der Umgang mit dem besiegten Deutschen Reich. (Nore, 167, 170, Zitat 176, 178; Noble, 73f.)
Kennzeichnend für Beards Charakter – ein ›idealistischer‹, von hoher Subjektivität und radikaldemokratischer Überzeugung gespeister Nonkonformismus – scheint die Begründung, mit der er bereits im Oktober 1917, seine Professur an der Columbia University niederlegte und damit seine akademische Karriere beendete. Er tat dies aus Protest gegen die Entlassung zweier Kollegen, die sich – einer von ihnen als konsequenter Pazifist – gegen den Krieg ausgesprochen hatten und die der Board of Trustees auf Betreiben des Universitätspräsidenten wegen ihrer ›unpatriotischen‹ Haltung aus dem Lehrkörper ausgeschlossen hatte. (Ibid., 180) Noch war Beard nicht zu der Überzeugung gelangt, dass Krieg und Bürgerrechte (›free speech‹) sich wechselseitig ausschlössen, worin seine Biografin ein Hauptmotiv für seine spätere radikale Ablehnung des amerikanischen Kriegseintritts in den II. Weltkrieg sieht. Immerhin bezeichnete er schon 1927 das erwähnte »Committee of Public Information« als »the grand Committee of public mystification«. (Ibid, 203, 172) Seine frühere Kriegsbegeisterung war der Empörung über die ökonomisch-imperialistischen Hintergründe des Weltkriegs gewichen.
Nach seinem Abschied von dddeer Columbia fungierte Beard noch zwei Jahre als Direktor des Bureau of Municipal Research. 1919 gründete er zusammen mit J.H. Robinson die »New School of Social Research«, die in den 1930er Jahren als wissenschaftlicher Zufluchtsort der aus Nazi-Deutschland emigrierten Gelehrten neue Bedeutung erlangen sollte. Zu den Mitgründern gehörten die Journalisten Herbert Croly – der Name steht für die in einigen Zügen auch bei Beard erkennbare ›technokratische‹ Variante des ›progressive movement‹ – und Alwin Johnson von der New Republic. Zu ihnen stieß der 1920 von der Universität Bejing – Ursprungsort der revolutionären, 1919 gegen ›Versailles‹ und den japanischen Imperialismus hervortretenden ›Bewegung des 4. Mai‹ – zurückgekehrte John Dewey. Nach Disputen schieden Beard und Robinson 1921 wieder aus. Erst in den dreißiger Jahren kehrte Beard, der sich für die deutschen Exilierten einsetzte, zu Vorlesungen an dieser Pflanzstätte des liberalism zurück. Seine materielle Existenz war durch Vorträge, Vorlesungen an Colleges, nicht zuletzt durch Tantiemen für seine Bücher gesichert.
Zu nennen ist vor allem das mit Mary Beard verfasste zweibändige Werk The Rise of American Civilization (1927), welches Generationen amerikanischer High School und College-Absolventen ihr Geschichtsbild lieferte. Amerika wurde als einzigartiges, von der Natur begünstigtes Land des Überflusses geschildert, welches in allen Phasen seiner Geschichte – von der Kolonialzeit über die Revolutionsära, vom Bürgerkrieg bis in die industrielle Gegenwart – einer aller europäisch-feudalen Fesseln ledigen Gesellschaft den Fortschritt der Freiheit und Demokratie ermöglicht habe. Als historisches Ziel stand den Beards noch immer eine ›social democracy‹ vor Augen. Der ›ökonomische‹ Ansatz trat gegenüber dem Lobpreis des demokratischen Fortschritts in den Hintergrund. Zugleich trugen die Beards, beide Gegner der Rassentrennung, mit ihrer Deutung des amerikanischen Bürgerkriegs als der ›Zweiten Amerikanischen Revolution‹ eine These vor, die als Standardinterpretation in die amerikanische Geschichtsschreibung einging . Im Bürgerkrieg sei es in erster Linie weniger um Moral und Menschlichkeit, d.h. um die Frage der Sklaverei, gegangen. An der Wurzel habe es sich um einen Konflikt zwischen agrarischen und kapitalistischen Interessen gehandelt, aus dem der industrielle Norden siegreich hervorging. (Nore, 265-293; Hicham, 2, ). Mit einer solchen These konnten sich aufgeschlossene Geister selbst im unterlegenen, von den ›Yankees‹ gedemütigten Süden anfreunden.
Zeitlebens pflegten die Beards eine ländliche Existenzweise als Besitzer von einer, später zwei Milchfarmen in Connecticut. Der als Gelehrter, unermüdlicher Publizist, als begehrter Redner und demokratische Instanz anerkannte Beard unterzeichnete seine Briefe mit ›Charles Beard, Dairy Farmer‹. Derlei Selbststilisierung lässt noch auf eine gewisse Ambivalenz gegenüber dem sonst panegyrisch gepriesenen technischen Fortschritt schließen. (Nore, 207-15, 217, 233)
IV
1922 reiste Beard auf Einladung des Bürgermeisters von Tokio nach Japan, wo er – ohne Honorar – Vorlesungen an einer neu errichteten Verwaltungsakademie hielt. Dort propagierte er einerseits eine zentralistische Verwaltungsreform, andererseits die demokratische Teilhabe von ›unten‹ auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts (das er in seinen Schriften hinsichtlich der anzustrebenden ›Wirtschaftsdemokratie‹ für politisch unzureichend hielt). Anerkennung in Japan erwarb er sich, als er auf Nachricht von dem großen, durch ein Erdbeben ausgelösten Brand von Tokio (1.9.1923), seine Rückreise in die USA abbrach, um einen Plan für den Wiederaufbau der Stadt auszuarbeiten. Sein progressives Konzept scheiterte an den Beharrungskräften japanischer Tradition, was ihn indes in seinem planerischen Optimismus und in seinem Glauben an die Segnungen von Wissenschaft und Technik nicht erschütterte. Ob aus seiner Japan-Erfahrung seine spätere Ablehnung Roosevelts erwuchs, ist nicht zu belegen, aber auch nicht auszuschließen. Immerhin warnte Beard, vehementer Kritiker der seit der Wende zum 20. Jahrhundert amerikanischen verfolgten ökonomisch-politischen Doktrin der ›offenen Tür‹ (open door policy) mit prophetischer Sicht schon Mitte der 1920er Jahre vor der aus imperialistischer Konkurrenz in China drohenden Gefahr eines Krieges zwischen Japan und den USA. Er sah keinen Grund für eine Rolle der USA als väterliche Schutzmacht für das ohnehin allen auswärtigen Mächten abgeneigte China. (Ibid., 244-60, 261-63)
Vielen Zeitgenossen galt Beard als ein ›radical‹, obgleich er sich – anders als manche seiner ›progressiven‹ Zeitgenossen – mit Enthusiasmus für die Oktober-Revolution zurückhielt. Einerseits hielt er Lenin noch für einen ›Pragmatiker‹, andererseits meinte er bereits 1922, die Bolschewiki hätten nichts als ›Staub und Asche‹ hervorgebracht. (Ibid., 232, 221) In den Jahren 1919/1920 setzten die Beards ihre Hoffnungen in eine neugegründete American Labor Party (ALP), im übrigen sympathisierten sie mit allen reformerischen Sozialisten, beispielsweise mit dem Beard seit seinen Oxford-Jahren bekannten Ramsay MacDonald (Goldman, 116) und einer 1924 erstmals – und nur kurzzeitig – etablierten Labour-Regierung. Für die USA schwebte Beard eine vom modernen Taylorismus (»the Taylor System of efficiency management«) gesteuerte Ordnung vor, getragen von Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Seine Vision würzte er mit einem an Theodore Roosevelts ›New Nationalism‹ erinnernden Patriotismus. Amerika »[should] bend all national energies and all national gains upon the creation of a civilization, which in power and glory and noble living, would rise above all the achievements of the past.« (Zit. in: Nore, 233f., 238) Außenpolitisch plädierte er für die Unabhängigkeit der von den USA im Krieg gegen Spanien 1898 okkupierten Philippinen und für einen Rückzug auf Hawaii als Basis im Pazifik. In den 1920er Jahren taucht erstmals der Begriff ›Continentalism‹ in Beards Schriften auf, was für die USA eine allen imperialistischen Machenschaften entrückte Position mit einem semiautarken Wirtschaftssystem verhieß. Seine Kritiker bespöttelten Beards progressives Konzept als »Little Americanism«. (Ibid., 237)
Seinem Ansehen als Gelehrter tat derlei Kritik in jenen Jahren noch keinen Abbruch. 1926 wurde Beard zum Vorsitzenden der American Political Science Association (APA) gewählt, 1933 und 1934 ehrte ihn die American Historical Association (AHA) durch zweimalige Wahl in das Spitzenamt.
1927 unternahm Beard auf Einladung der American-Yugoslav Society eine Europareise, die ihn aufgrund seiner Eindrücke auf dem Balkan – die Reise führte auch nach Montenegro, Albanien und Griechenland – in seinen Überzeugungen von der Notwendigkeit und den Segnungen des industriellen Fortschritts bestärkte. Urbanität, Wissenschaft und kapitalistische Rationalität seien die Voraussetzungen, die primitive Agrarwelt, wo ›böse Geister und die Segenssprüche der Priester‹ (»evil spirits and the priest’s blessing«) obwalteten, zu überwinden. Entwicklungschancen sah er trotz aller Rückständigkeit und ethnischen Spannungen auch für das erst seit 1929 so bezeichnete Jugoslawien. (Ibid., 306-9, Zitat 311)
Auf der Hinreise hielt er sich einige Zeit bei seinem Schwiegersohn, dem Sozialdemokraten Alfred Vagts (1892-1986) auf, der als Historiker am Institut für auswärtige Politik der Universität Hamburg lehrte und bereits 1932 emigrierte. Er lernte dabei den Gründer des Instituts, den Juristen Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, den Agrarökonomen Max Sering sowie den Nationalökonomen Werner Sombart kennen. An seinen deutschen Gesprächspartnern entsetzte ihn deren ›Weltfremdheit‹ und Obsession mit der Kriegsschuldfrage, was ihm als eine Art Unbehagen (»uneasiness«) angesichts der Frage nach ihrer eigenen Mitverantwortung für den deutschen Imperialismus und die Kriegsideologie von 1914 erschien. (Nore, 306)
Seine einstige Position gegenüber dem Weltkrieg hatte er um jene Zeit gänzlich revidiert. Er schrieb die Verantwortung für die Krieg allen Beteiligten zu, »with Russia and France each bearing a Titan´s share“ und ironisierte die „Sonntagsschul-Theorie«: »According to that theory, three pure and innocent boys . Russia, France, and England – without military guile in the hearts, were suddenly assailed while on the way to sunday school by two deep-eyed villains – Germany and Austria – who had long been plotting cruel deeds in the dark.« Die Kriegsteilnahme der USA lag für Beard im Rückblick außerhalb des amerikanischen Interesses – ein Begriff, der für sein Denken zunehmend bestimmend wurde, etwa in dem mit dem Ko-Autor G.H.E. Smith verfassten Buch The Idea of National Interest. An Analytical Study in American Foreign Policy. (Philbin, 94. Zitat 93)
V
Die Große Depression stürzte einen Mann wie Beard nicht in Verzweiflung, sondern beflügelte ihn in progressivem Reformeifer. Während er in dem als Ingenieur ausgebildeten republikanischen Präsidenten Herbert Hoover, der ihn in einer Rüstungsbegrenzungsfrage die Marine betreffend zu Rate zog (Nore, 342), Geistesverwandtschaft erkannte, legte er selbst 1931 einen eigenen ›Fünf-Jahresplan‹ zur Überwindung der Krise vor. Dieser sah auf ›ökonomische Prinzipien‹, d.h. auf Investitionen und – sozial zu nutzende – Rendite gegründetes Gemeineigentum an ›fundamentalen Industriezweigen‹ wie Eisen und Stahl, Energie, Baustoffe, Transportwesen usw. vor. Ein ›ökonomischer Konvent‹, analog dem US-Verfassungskonvent von 1787, sollte die Details des Reformplans ausarbeiten und ›dem Volk‹ zur Billigung vorlegen. Die ›konservativen‹, d.h. wirtschaftsliberalen Gegner Beards, denen er als Feind des Privateigentums erschien und die sich ihrerseits jeglicher Reformidee verschlossen, mokierten sich über derlei Utopismus. (Ibid., 319-21, 335-8; Schlesinger Jr. , 200)
Im Entscheidungsjahr 1932, als der demokratische Präsidentschaftskandidat Roosevelt den ›New Deal‹ als Ausweg aus der Krise proklamierte, verweigerte sich Beard dem Aufruf Deweys zur Gründung einer dritten Partei. Er trat als Anhänger Roosevelts hervor. (Ibid., 340f.) Während ihm – etwa mit dem Lobpreis auf die amerikanische Demokratie in der 1934 veröffentlichten Schrift The Open Door at Home (Noble, 131), – noch die Rolle eines Chefberaters des Präsidenten vorschwebte, unterstützte er anfangs die mit reformerischer Verve eingeleiteten, von bürokratischen Agenturen mit einprägsamen Abkürzungen (NRA = National Recovery Administration, AAA = Agricultural Adjustment Administration, CCC = Civilian Conservation Corps etc.) exerzierten staatsinterventionistischen Programme. Alsbald nahm er Anstoß an dem von wenig Erfolg gekrönten New Deal und ließ nur noch die von der Tennessee Valley Authority (TVA) auf den Weg gebrachten Projekte (Landschaftssanierung, Energiegewinnung, Kunstdüngerproduktion usw.) als gelungene Reformen gelten. Seinen Ärger erregte einerseits der selbstherrliche Umgang des Präsidenten mit der Verfassung – wenngleich dieser 1937 bei der Erweiterung (»packing«) des Supreme Court zur Durchsetzung politisch genehmer Kandidaten scheiterte –, andererseits die führende Rolle von Männern wie Außenminister Cordell Hull und Agrarminister Henry Wallace, die in der Roosevelt-Regierung als Exponenten des internationalen Freihandels wirkten und Beards Konzept des ›American Continentalism‹ – ignorierten. (Nore, 340f., 341-357, 366, 373)
Beard propagierte die wirtschaftliche Genesung der USA durch Ausbau der Binnenwirtschaft sowie der Handelsbeziehungen mit dem Subkontinent, bekannte sich gleichzeitig zur Aufrechterhaltung der Monroe-Doktrin. Auf die politische Schwäche dieses Modells verwies im Rückblick Richard Hofstadter: Das komplexe Sicherheitsproblem des Landes, bei dem es um brisante, konkurrenzbedingte ›Konfrontationen von Macht‹ gehe, sei nicht auf bloße ›Interessenkonkurrenz‹ von Handelsimperien zu reduzieren (»...the quest for security...involves hazardous competitive confrontations of power, and it is not simply a pursuit of competing interests in trade and empire.«) (Hofstadter III, 325)
Zum Bruch mit Roosevelt kam es über dessen Außenpolitik. Der vorbehaltlose Interventionist von 1914/1917 Beard hatte sich zum patriotischen Befürworter jener auf George Washingtons ›Abschiedsbotschaft‹ (»Farewell Address«) von 1796 zurückführenden Tradition gewandelt, die Amerika aus den machtpolitischen Händeln der alten Welt heraushalten wollte. Ohne bereits Roosevelt direkt zu unterstellen, er steuere auf einen Krieg mit Japan zu, befand Beard, die ungelösten Fragen der anhaltenden Depression könnten bei den Demokraten die Tendenz in Richtung Krieg als Ausweg befördern. Er schrieb schon 1935: »The Jeffersonian party gave the nation the War of 1812, the Mexican War, and its participation in the World War. The Pacific War awaits.« (Zit. in Nore, 428; Leuchtenburg, 212). In der Folge engagierte er sich auf Seiten der isolationistischen Politiker um den republikanischen Senator Gerald P. Nye aus North Dakota, die in den Jahren 1935-1937 im Kongress die Neutralitätsgesetze durchsetzten. Beard, einer der engagiertesten Unterstützer der von den faschistischen Mächten bedrohten Spanischen Republik, kritisierte einerseits die noninterventionistische Position des Präsidenten im spanischen Bürgerkrieg. Andererseits missfiel ihm Roosevelts ›Quarantäne-Rede‹ (5.10.1937) wegen ihres internationalistischen Tenors und der auf mögliche Intervention zielenden Warnungen an die Staaten, auf deren Konto »acts of aggression« gingen, sowie dessen Flottenbauprogramm. (Beard III, 477-9, 485f., 488-95) Der Präsident hatte seine früheren Bekenntnisse zu außenpolitischer Selbstbeschränkung ins Gegenteil verkehrt. Roosevelt erschien ihm »more or less obsessed by the universal philanthropy of Woodrow Wilson«. ( Zit. in: Nore, 440.)
In ihrem 1939 veröffentlichten Buch America in Midpassage rückten die Beards – in einem umfangreichen Kapitel über die »Quellen der Außenpolitik« – erneut den Primat des Ökonomischen in den Vordergrund. Seit dem Eintritt der USA in den Kreis der imperialistischen Mächte im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 konkurrierten zwei Schulen des Imperialismus: die ältere eines auf William McKinley und Theodore Roosevelt zurückgehenden ›imperialen Isolationismus‹ und die jüngere des von Wilson inaugurierten ›kollektiven Internationalismus‹ (»Collective Internationalism«), den sie, begründet in den den liberalen Doktrinen eines Richard Cobden (1804-1865), als amerikanische Variante des viktorianischen Freihandelsimperialismus betrachteten. Anhand von Quellen wie den Ermittlungen des ›Nye-Committee‹, des nach Nye benannten Untersuchungsausschusses im Senat, über die Rolle der Waffenindustrie im Weltkrieg gelangten sie zu einer frühen Analyse des später so genannten militärisch-industriellen Komplexes. Gleichwohl hielten sie es noch für höchst unwahrscheinlich, dass es den interventionistischen Freihandelsproponenten historisch beschieden sein könnte, das britische Empire zu stürzen und durch ein amerikanisches Imperium zu ersetzen.(Beard V, 381-500; Stromberg, 2)
In den Jahren 1940/41, als Präsident Roosevelt die Neutralitätsgesetze teils eigenmächtig, teils mit Zustimmung des Kongresses, durch Instrumente wie das Leih- und Pachtgesetz (Lend-Lease, 1941) außer Kraft setzte sowie über die Atlantik-Charta (14.08.1941) die Kriegsbereitschaft der USA ankündigte, wurde Beard zu einem Wortführer des isolationistischen Lagers, wenngleich nicht in der maßgeblich von Charles Lindbergh angeführten Kampagne des ›America First‹. Auf seine Weise blieb Beard konsequent: Er war stets pro-britisch, zugleich ein vehementer Gegner des britischen Imperialismus. Er opponierte gegen den ›Internationalismus‹ und die davon ausgehende Kriegsgefahr für die USA, aber er befürwortete vom Kongress zu genehmigende Kriegskredite für England. In einem 1944 fertiggestellten, aber auf Zuraten seines Verlegers erst 1946 veröffentlichten Buch zur amerikanischen Außenpolitik (American Foreign Policy in the Making, 1932-1940) warf er Roosevelt vor, mit seiner Embargo-Politik den Krieg mit Japan provoziert zu haben. (Nore, 462, 510)
Mit seiner eigenwilligen Antikriegs-Position verlor Beard die Sympathien der führenden Intellektuellen Amerikas. Reinhold Niebuhr hielt Beard »moralische Indifferenz« vor. (Ibid., 454) Kritik kam nicht nur von Seiten der liberalen Anhänger Roosevelts, sondern auch von Gegnern der demokratischen Partei wie dem Historiker Samuel F. Bemis. Mit dem kurz vor seinem Tod vollendeten Buch President Roosevelt and the Coming of the War (1941). A Study in Appearances and Realities (1948) gehörte Beard schließlich zu den ersten der Revisionisten, die den Kriegseintritt der USA in den II. Weltkrieg, ausgelöst durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbor, auf zielgerichtete Täuschungsmanöver des Präsidenten zurückführten. (Beard VII, 516-569) Im Hinblick auf die von Roosevelt proklamierten friedensethischen Kriegsziele und die in Teheran, Jalta und Potsdam getroffenen machtpolitischen Übereinkünfte zog er eine negative Bilanz. Falls der Krieg ›notwendig‹ gewesen sei, um Hitlers Despotismus zu beseitigen, so habe man an dessen Stelle nur einen anderen Despotismus mit noch höherer Machtentfaltung hervorgebracht (»another despotism was raised to a higher pitch of power«). Beard schloss seine Anklage gegen Roosevelt mit der Beschwörung drohenden Unheils; keine Gottheit könne die amerikanische Republik künftig vor einem Cäsar schützen (»with no divinity hedging our Republic against Caesar«). (Ibid., 577, 598)
VI
Wegen seiner als ›unpatriotisch‹ und historisch unmoralisch empfundenen politischen Position im II. Weltkrieg war Beard – als Gastprofessor an der Johns Hopkins University geriet er in Konflikt mit Historikerkollegen – in der Zunft zum Außenseiter geworden. Unberührt davon wirkte sein Ruf als Ikonoklast, als Vertreter eines ›ökonomischen Determinismus‹ bis in die 1960er Jahre nach. Noch 1959 erschien sein frühes Werk An Economic Interpretation of the American Constitution in der sechzehnten Druckauflage. (Beard I)
Womit erregte Beard 1913 Aufsehen, was machte ihn in den Augen empörter Gegner – wie des Ex-Präsidenten William H. Taft (Beard I, viii) – zu einem ›muckraker‹ (ein in der progressive era geläufiges Schimpfwort für radikale Kritiker der sozialen und politischen Mißstände)? Als Provokation empfand man Beards ›materialistische‹ Umdeutung ihrer Freiheitsgeschichte, revolutionär begründet und von den ›Gründervätern‹ besiegelt in einem als zeitlos transzendent wirkenden Dokument, der Verfassung. Schon Frederick Jackson Turner hatte mit seiner 1893 erstmals vorgetragenen Frontier-These Abschied genommen von dem vorherrschenden Geschichtsbild, wonach der Freiheitsgedanke der amerikanischen Geschichte seit den Pilgervätern eingeschrieben war. Turner verortete die Durchsetzung und Entfaltung der amerikanischen Demokratie an der kontinuierlich nach Westen wandernden ›Grenze‹ und erklärte den Individualismus selbstbewusster, freiheitsliebender Sieder für die eigentliche Wurzel der amerikanischen Demokratie. Mit der Betonung des Freiheitswillens an der ›frontier‹ ließ die Turner-These, die in ›materialistischem‹ Sinne den Blick auf »die geographischen , sozialen und ökonomischen Bedingungen« (zit. ibid., 5) amerikanischer Geschichte richtete, noch Raum für ein an höheren Idealen orientiertes Geschichtsbild. (Wish, 282-4; Turners epochaler Aufsatz The Significance of the Frontier in American History (ibid., 302-334).
In der Einleitung zu seiner ›Economic Interpretation‹ erklärte Charles Beard die vorherrschenden Schulen der amerikanischen Geschichtsschreibung – die von George Bancroft (1800-1891) begründete idealistische Geschichtsauffassung, die ›teutonische‹ Theorie sowie die auf hypothesenfreie Faktensammlung gerichtete Methode – für wissenschaftlich fragwürdig. Er distanzierte sich von Bancrofts – von Hegel sowie der Romantik inspirierten – Vorstellung einer ›higher power‹, die den Lauf der Menschheitsgeschichte durchwalte. (Ibid., 1f.) Hinter all dem – in moderaten Formen ausgetragenen – Streit im Konvent von Philadelphia (1787) erblickte Bancroft in seinem Werk zur Entstehung der amerikanischen Verfassung »the movement of divine power which gives unity to the universe, an order and connection to events.« ( Beard zitiert aus der Ausgabe Werkes Bancrofts von 1882, ibid.,1.)
Mit leichter Mokanz erklärte der ›neue Historiker‹ Beard den Historiker und Diplomaten Bancroft für befangen in den Vorstellungen seiner Klasse (»often swayed by his deference to the susceptibilities of the social class from which he sprang«, ibid., 1). Er selbst bekannte sich zur Methode des ökonomischen Determinismus: »The theory of economic determinism has not been tried out in American history, and until it is tried out, it cannot be found wanting.« (Ibid., 7)
Als Autoritäten für seine ›wissenschaftliche Methode‹ (scientific history) zur Analyse eines historischen – oder rechtsgeschichtlichen – Themas wie der amerikanischen Verfassung berief er sich auf den deutschen Juristen Rudolf Jhering und dessen ›epochales Buch‹ Der Zweck im Recht (1877-1883) sowie auf Ferdinand Lassalle und dessen Werk Das System der erworbenen Rechte (1861). (Ibid., 13f.) Als schwer zu widerlegenden Hauptzeugen seiner ›ökonomischen‹ Reinterpretation der US-Verfassung zitierte er indes den founding father und späteren Präsidenten James Madison, der in The Federalist (nr. 10) selbst eine präzise Definition seiner ›political science‹ gegeben habe.
Madison schrieb: »The diversity in the faculties of men, from which the rights of property originate, is not less an insuperable obstacle to a uniformity of interests. The protection of these faculties is the first object of government...« Des weiteren identifizierte Madison die Ursache von ›factions‹ (Parteiungen) in der unterschiedlichen und ungleichen Verteilung von Eigentum (»the various and unequal distribution of property«). »Those who hold and those who are without property have ever formed distinct interests in society.« Er spezifizierte diese Interessengruppen, welche in zivilisierten Nationen zwangsläufig erwüchsen und diese in soziale Klassen schieden, angetrieben von verschiedenen Empfindungen und Ansichten »grow up of necessity in civilized nations and divide them into different classes, actuated by different sentiments and views«, als Gläubiger und Schuldner, als Interessenvertreter von Landbesitz, von Manufakturen, Handel, Geld und »many lesser interests«. »The regulation of the various and interfering interests forms the principial task of modern legislation, and involves the spirit of party and faction and ordinary operations of government.« (Zit. ibid., 14.f.)
Beard kommentierte den Auszug aus dem Federalist wie folgt: »Here we have a masterly statement of the theory of economic determinism in politics.« In einer Fußnote zitierte er sodann die entsprechende, an Marx angelehnte Passage aus dem oben genannten Buch von Seligman. (Ibid., 15). Ein paar Seiten weiter erläuterte er seine ›Theorie‹ als eine mildere Version der Klassenkampfdialektik: »The whole theory of the economic interpretation of history rests upon the concept that social progress in general is the result of contending interests in society – some favorable, others opposed to change.« (Ibid., 19)
In seiner frühen Economic Interpretation zielte Beard darauf, gemäß seinen progressiven Überzeugungen, die bereits im zweiten Gründungsakt – nach der Unabhängigkeitserklärung von 1776 – angelegten demokratischen Defizite der amerikanischen Geschichte und Politik aufzuzeigen. Mit dem Bezug auf Madison und die Federalist Papers verfügte er über ein schwer angreifbares theoretisches Gerüst sowie über eine anerkannte Quelle. Für die Detailargumentation seines Buches nutzte er Akten des US-Schatzministeriums mit Dokumenten über die Besitz- und Steuerverhältnisse in den frühen Jahren der Republik.
Über weite Strecken wirken Beards Ausführungen zur Zusammensetzung der Konvents von Philadelphia wie eine Illustration der von Madison genannten Interessenträger. Er unterschied zwei Hauptgruppen, die Besitzer von ›real property‹ (Grundbesitz) und von ›personal property‹. Unter letzteren, oft einfach auch als ›capitalists‹ bezeichnet, deren politische Ziele von ›personalty interest‹ – so der juristische Terminus – bestimmt waren, unterschied er vier Gruppen, und zwar die Besitzer von Geldvermögen, von ›public securities‹ (um 1787 ungesicherte Staatsanleihen), von Manufakturen, Schiffsbau (shipping) sowie jene, die Kapital in Landspekulation in den westlichen Regionen der Einzelstaaten investiert hatten. (Ibid., 19-51). Aus diesen Gruppen kamen die lautesten Forderungen nach einer Überarbeitung der unter den ›Articles of Confederation‹ (1777/1781) bestehenden Verfassungsordnung. (Ibid., 17, 52-63) Ihr Hauptinteresse war die Überwindung der inflationären Krise durch Schaffung einer einheitlichen stabilen Währung. Mit ihnen liierte sich eine Anzahl von sklavenhaltenden Plantagenbesitzern, so dass im Konvent geographische Trennungslinien nicht zum Tragen kamen. Die genannte Interessenallianz bildete die deutliche Mehrheit im Verfassungskonvent. Ihre Gegner, so Beard, waren die kleinen Farmer, vielfach verschuldet und daher an der Beibehaltung von Papiergeld und Abwertungsmechanismen interessiert. Die ›Schuldner‹ (debtors) waren im Konvent nur als Minderheit repräsentiert, da die Besitzklauseln in den einzelstaatlichen Verfassungen einer stärkere Repräsentation in Philadelphia verhinderten.
Im umfangreichen Kapitel V des Buches führte Beard anhand von Kurzbiographien der fünfundfünzig in Philadelphia versammelten ›Gründerväter‹ den Nachweis seiner aufs Ökonomisch-Materielle ausgerichteten Deutung des historischen Gründungsaktes. In alpabetischer Reihenfolge wurde jeder einer Überprüfung seiner ›personalty interests‹ sowie im Falle der südstaatlichen Plantagenbesitzer ihrer ›realty interests‹ unterzogen. In diesem Licht verloren nicht wenige der illustren Namen – die meisten waren Rechtsanwälte – an politisch uneigennützigem Glanz: Nicht nur Alexander Hamilton, Vorkämpfer einer starken Union und Befürworter einer Zentralbank, war als Bankier an der Schaffung einer stabilen Währung interessiert. Zu den großen Gläubigern zählten Benjamin Franklin und George Washington, der Gouverneur von Virginia Edmond Randolph sowie mutmaßlich William Livingston, der, als Vertreter von New Jersey, aus einer der reichsten Familien von New York stammte. William Morris aus Pennsylvania hatte es als Reeder und Großkaufmann, als Manufakturbesitzer, als Finanzier und Landspekulant zu Vermögen gebracht. Als Plantagenbesitzer und Sklavenhalter in Virginia war James Madison der Nachbar von Washington, der wiederum – nicht anders als Franklin und Hamilton – mit Land spekulierte. (Ibid. 73-151) Andererseits: »Not one member represented the small farming and mechanic classes.« (Ibid. 149).
In der Verfassung von 1787 fanden die materiellen Interessenlagen ihren juristischen Niederschlag, was wiederum aus den Federalist Papers selbst hervorgehe. Laut Beard diente die Verankerung des balance-of-power-Prinzips – gemeinhin bekannt als System der checks and balances – der Abwehr von systemgefährdenden Mehrheitsansprüchen und somit de facto der Verteidigung der erworbenen Besitzstände (»the protection of property rights«, ibid. 164). Warum sah dann die Verfassung – anders als die einzelstaatlichen Verfassungen – keine Beschränkungen des Wahlrechts vor? Geringe, an Grundbesitz gebundene Qualifikationen hätten die kleinen Farmer, die Gegner der großen ›realty interests‹, nicht ausschließen können, umgekehrt hätte eine solche Einschränkung viele Besitzer mobilen Vermögens selbst getroffen. Der Oberste Gerichtshof sowie der Senat seien als machtvolle Kontrollinstanzen der allgemeinen Wahl entzogen geblieben. Im übrigen hätte der Umstand, dass in den Einzelstaaten nach wie vor Wahlbeschränkungen bestanden, mit der Idee des unbeschränkten Wahlrechts versöhnt. Ihre Besitzinteressen sahen sie in den Formeln der Verfassung gesichert. (Ibid., 152-188)
Beard zufolge kam sodann das in Philadelphia beschlossene Ratifizierungsverfahren – es fand 1787-1789 statt – einem ›revolutionären Akt‹ gleich, indem es über die bestehenden einzelstaatlichen Parlamente (state legislatures) hinweg die Einberufung von Konventen in den Gründerstaaten vorsah. (Ibid., 217f.) Bei der Wahl zu den Einzelkonventen hätte nur ein Bruchteil der Bevölkerung, nicht mehr als ein Sechstel der männlichen Erwachsenen, annäherungsweise 160 000 Personen (Ibid., 16, 239-253, 325), teilgenommen, davon hätten nur 100 000 die neue Verfassung befürwortet – ein zutiefst undemokratisches Verfahren. In den zur Abstimmung über die Verfassung in den Einzelstaaten gewählten Delegierten erkannte Beard wiederum dieselbe Spaltung wie in Philadelphia: zu den Befürwortern gehörten die Vertreter der Vermögensinteressen, die Gegner bestanden aus kleinen Farmern und ›Schuldnern‹. (Ibid. 290f.)
Anders als in den herkömmlichen Geschichtsbüchern der USA vermittelt, ging es laut Beard beim Streit um die neue Verfassung zwischen ›Federalists‹ und ›Anti-Federalists‹, zwischen den Zentralisten um Alexander Hamilton (»the colossal genius of the new system«, ibid., 100) und den Befürwortern einer stärker demokratisch-dezentralen Ordnung – später als ›Jefferson-ians‹ bekannt – nicht um abstrakte Verfassungsprinzipien, sondern um Konflikte von materiellen Interessenträgern. Gegen die ›populare Partei‹, gegründet auf Papiergeld und agrarische Interessen, setzte sich die konservative Partei der ›personalty interests‹ und der Städte, durch. (Ibid., 291) In seinen späteren Büchern sprach Beard häufig vom grundlegenden Konflikt von Land und Stadt.
Inmitten seiner Analyse des amerikanischen Gründungsaktes, die, obgleich bewusst unausgesprochen, kaum anders denn als radikaldemokratische Kritik zu lesen ist (Hofstadter III, 247, 263), kam Beard zu einer überraschend positiven Bilanz. Anders als die »doctrinaires in the Frankfort assembly of 1848« hätten die ›Founding Fathers‹ ein dauerhaftes Werk vollbracht: [The men of 1787] were able to build the new government upon the only foundation upon which government can be stable: fundamental economic interest.« (Ibid., 151).Der Satz sollte als patriotisches Bekenntnis verstanden werden.
VII
Entgegen seinem Bekenntnis zum ›ökonomischen Determinismus‹ war Beards Methode in seinem Buch zur amerikanischen Verfassung mehr illustrativ als analytisch im Sinne einer ausgearbeiteten Theorie. Auch in dem – aus Vorlesungen am Amherst College 1916 entstandenen – schmalen Buch The Economic Basis of Politics (1922) ging es nicht um eine theoretische Grundlegung des Primats der Ökonomie gegenüber allen anderen Sphären des Politischen, sondern um eine ideengeschichtliche Einführung in die Problematik. Als ›Philosophen der Alten Welt‹, welche die politische Bedeutung von ökonomischen Klassen erkannt hatten, bezog er sich auf Aristoteles, Machiavelli und John Locke. Für die Neue Welt zitierte er erneut Madison, sodann Daniel Webster (1782-1852) und John C. Calhoun (1782-1850), bekannt als die großen Antipoden in der Vorgeschichte des amerikanischen Bürgerkriegs. Er wandte sich gegen die Vorstellung, dass in der auf allgemeinen, gleichem Wahlrecht gegründeten Demokratie das Ideal der Gleichheit bereits politisch verwirklicht sei. Stattdessen erteilte er in seinen Überlegungen zur Bedeutung der Arbeitsteilung in modernen industriellen Gesellschaften nicht nur der kommunistischen Gleichheitsidee und dem daraus resultierenden diktatorischen Zwang eine Absage, sondern kam zu einer pragmatischen Aussage bezüglich der stets fortbestehenden Klassenteilung und Klasseninteressen. »Mit anderen Worten, es gibt keine Ruhe für die Menschheit, keine endgültige Lösung der ewigen Widersprüche. Dies ist der Lauf der Welt. Mit der Erkenntnis dieser Tatsachen beginnen Weisheit und Staatskunst.« (Beard II, 59).
Ein Werk zur historischen Methodologie oder eine eigenständige Geschichtstheorie fehlen in Beards umfangreicher Produktion. Immerhin setzte er sich Anfang der 1930er Jahre mit geschichtsphilosophischen und mit methodologischen Fragen auseinander, in deren Konsequenz er seine ›ökonomische Interpretation‹ nur noch in abgeschwächter Form präsentierte. Beard hatte sich mit Werken beschäftigt, die in Europa die ›Krise des Historismus‹ verkündeten, um die von der deutschen Geschichtsschreibung im Gefolge von Ranke begründete Relativität allen historischen Geschehens und die daraus resultierende epistemologische – und philosophische – Aporie zu überwinden.
Seine Erkenntnisse trug Beard auf dem Höhepunkt seines Ruhms 1933 vor der AHA unter dem Titel Written History as an Act of Faith vor. Seine Überlegungen kreisten um die Grenzen ›objektiver‹ Geschichtsschreibung, um die unendliche Fülle der Geschichte als ›vergangene Wirklichkeit‹ (history as past actuality) und um die Relativität historischen Denkens (thought about past actuality). Unter dem Eindruck des ›most profound contemporary thought about history‹ – Beard berief sich auf Benedetto Croce, auf den (später mit ihm befreundeten) Ex-Diplomaten und Philosophen Kurt Riezler, auf den Soziologen Karl Mannheim, auf den Sozialtheoretiker Alfred Müller-Armack sowie auf den Kirchenhistoriker Karl Heussi (Die Krisis des Historismus, 1932) – verkündete er seine Absage an die Vorstellung, Aufgabe und Ziel der Geschichtsschreibung sei die Rekonstruktion der Vergangenheit, ›as it actually was‹. Als Begründer des unerreichbaren Objektivitätsbegriff nannte er – in offensichtlicher Fehldeutung des bekannten Wortes ›Wie es eigentlich gewesen‹ – Leopold Ranke: »...the Ranke formula of history has been discarded and laid away in the museum of antiquities.« (Beard III)
Angesichts der Relativität alles historischen Geschehens im Fluxus unübersehbarer Fakten einerseits, der historischen Relativität alles Denkens andererseits, sei der Historiker zu einem ›Glaubensakt‹ (act of faith), zu einer subjektiven Entscheidung hinsichtlich seines ›Bezugsrahmens‹ (frame of reference) genötigt. Beard bekannte sich – unter Ablehnung eines bloßen Chaosbegriffs sowie der Spenglerschen Zyklentheorie – zu einem Geschichtskonzept im Sinne des aufklärerischen Fortschrittsdenkens: »The third [concept] is that history as actuality is moving in some direction away from the low level of primitive beginnings on an upward gradient toward a more ideal order as imagined by Condorcet, Adam Smith, Karl Marx or Herbert Spencer.« Er verteidigte ausdrücklich die empirisch-wissenschaftliche Methode als einen hohen ›Wert an sich‹ in der Hierarchie der Werte einer Demokratie (»a value high in the hierarchy of values indispensable to the life of democracy«). Sein historiographisches Konzept, begründet »on a study of long trends and on a faith of the indomitable spirit of mankind«, verknüpfte Beard mit einer historisch-politischen Prognose: die geschichtliche Bewegung führe hin zu einer »collectivist democracy«. Hier sprach ein unerschütterlicher Progressive. (Ibid.)
In einem zwei Jahre später veröffentlichten Aufsatz setzte er sich erneut mit dem vermeintlich von Ranke herkommenden, in der amerikanischen Geschichtsschreibung vorherrschenden Objektivitätsdogma – ›that noble dream‹ – auseinander. Seine Kritik an dem – in dieser begrifflichen Rezeption missverstandenen – ›Historismus‹ – Beard plädierte seinerseits für den Begriff ›historicism‹ – begründete er unter anderem mit dem Verweis auf Rankes vagen Pantheismus (›der Finger Gottes in der Geschichte‹), der den Anspruch ›zu zeigen, wie es eigentlich gewesen‹, selbst in Frage stelle. Erneut wandte sich Beard gegen die Übertragbarkeit der naturwissenschaftlichen Methode auf historisches Denken und verwies auf die Aspekte der Subjektivität bei Auswahl und Gewichtung des historischen Materials, nicht zuletzt begründet in der Persönlichkeit des Historikers. Der Begriff ›frame of reference‹ taucht in dieser neuerlichen Zurückweisung des ›edlen Traumes‹ als Begriff nicht auf, wohl aber die Verteidigung der ›economic interpretation of history‹ als einer gültigen Antithese zu Ranke (›an antithesis of the Ranke formula‹). In diesem Kontext bekannte sich Beard erneut zur Methode seines Buches zur amerikanischen Verfassung, indem er die Unterstellung, ihr Ursprung liege in ›Marxian theories‹ zurückwies. Sein Konzept beruhe auf den Werken der großen Denker – von Aristoteles' Politik bis zu den Schriften der ›Gründerväter‹ (the writings of Fathers of the Republic“ – ›as well as [upon] the writings of Marx himself.‹ (Beard IV, 364-367, 370-374).
VIII
Seine ›ökonomischen‹ Thesen zur Genese der amerikanischen Verfassung hatte Beard um diese Zeit bereits deutlich abgeschwächt. In späteren Jahren wandelte er sie vollends ins Positive – nicht zuletzt als Waffe für seine Attacken gegen Roosevelt. (Noble, 133f. ) In der Einleitung zu einer 1935 erschienenen Auflage verteidigte er noch einmal seinen auf historische Analyse zielenden ökonomischen Ansatz. Als Autoritäten für derlei historischen und politischen Realismus dienten ihm wiederum Aristoteles, Machiavelli, Locke, Montesquieu, nicht zuletzt Karl Marx, in dessen Werken er die Ideen entdeckte, »which had been cogently expressed by outstanding thinkers and statesmen in the preceding centuries.« Sodann pries er die Weisheit der ›Gründerväter‹: »It was largely by recognizing the power of economic interests in the field of politics and making skilful use of them that the Fathers of the Constitution placed themselves among the greatest practising statesmen of alle ages and gave instructions to succeeding generations in the art of government.« (Ibid., xiii, xvii).
Die Wendungen Beards im Umgang mit seinen eigenen ›ökonomischen‹ Thesen sind nicht zu übersehen. Die späte Ablehnung Beards gründete nicht auf derlei gedanklichen Widersprüchen, sondern entzündete sich an seiner politischen Position vor und nach dem II. Weltkrieg. Seine Kritiker, obenan Samuel E. Morison und Richard Hofstadter, attackierten Beard nicht allein wegen seines Isolationismus, sondern ziehen ihn – im Hinblick auf Hitler, Japan und die Unvermeidbarkeit des amerikanischen Kriegseintritts – eines grundsätzlichen Werterelativismus. Hofstadter warf Beard mangelnde Urteilskraft hinsichtlich der weltpolitischen Alternativen Roosevelts angesichts der fortgesetzten japanischen Aggression sowie der von Hitler-Deutschland ausgehenden Gefahren vor (Hofstadter III, 333-344). Beards politische Fehlurteile, seine Feindschaft gegen Roosevelt, entsprangen, so Morison in seinem Vortrag Faith of Historian vor der AHA im Jahr 1950, seiner vermeintlich progressiv-kritischen Attitüde, die ihm einst den Beifall der Sozialisten eingebracht, zuletzt die Begeisterung der Hearst-Presse hervorgerufen habe. Ungeachtet seines Pazifismus habe Beard eine ›Entwicklung von links nach rechts‹ vollzogen. Die Wurzel dieser Entwicklung sah Morison in Beards Zweifel am historischen Wahrheitsbegriff, in dessen Betonung der Subjektivität des Historikers sowie in dem – die historische Realität willkürlich einengenden – Begriff des ›Bezugsrahmens‹. Wiederum höchst zeitgebunden, gipfelte Morisons Kritik an Beard – unter Verweis auf George Orwells Nineteen Eighty-four – in dem Satz, Geschichtsschreibung nach den Vorgaben eines ›frame of reference‹ sei die historische Methode unter einer Diktatur. (Morison, 384-8; Philbin).
»Today Beard’s reputation stands like an imposing ruin in the landscape of American historiography«, schrieb Hofstadter anno 1968. (Hofstadter III, 344). Anerkennung als nonkonformer Intellektueller und Historiker fand Beard danach nur noch bei ›Revisionisten‹ in beiden Lagern. Auf der Linken würdigte ihn William A. Williams, revisionistischer Kritiker des Kalten Krieges, als »Tory radical« (Nore, 329). In seiner Analyse der zu Imperialismus und verhängnisvollem Interventionismus tendierenden Politik der »offenen Tür« folgte Williams einem ähnlichen Ansatz wie Beard. (Williams) Von amerikanischen conservatives im Umfeld des Intercollegiate Studies Institute ISI wird Beard als ›ungewollter Konservativer‹ (inadvertent conservative) in Anspruch genommen (Stromberg). Unter den zeitgenössischen palaeocons verfocht seit den 1990er Jahren der Journalist Pat Buchanan, ehedem Redenschreiber des Präsidenten Richard Nixon, eine nichtinterventionistische Außenpolitik. (Philbin, 91, http://en.wikipedia.org/wiki/Charles_A._Beard) Die These vom keineswegs ahnungslos erfolgten japanischen Angriff auf Pearl Harbor hat – ohne Bezug auf Beard – wieder vereinzelt Verfechter gefunden (Stinett). Schließlich wird Beard auch von auf der extremen Rechten angesiedelten, selbsternannten ›Revisionisten‹ – zu deren Protagonisten gehörte der einstige Progressive und frühe Mitstreiter Beards an der New Yorker ›New School‹ Harry Elmer Barnes, – als Kronzeuge ihrer Kritik an Roosevelts Kriegsstrategien sowie an der derzeitigen von den liberals verfochtenen amerikanischen Außenpolitik vereinnahmt. (Martin)
IX
Charles Beard erscheint als Repräsentant einer abgeschlossenen Epoche der amerikanischen Geschichte, sein Werk verstaubt weithin ungelesen in den Bibliotheken. Die politischen Positionen Beards – seine Ablehnung des Internationalismus, seine Vorbehalte gegen den als unfreiheitlich empfundenen Katholizismus, nicht zuletzt seine Befürwortung der – 1965 aufgehobenen – restriktiven Einwanderungsgesetze der 1920er Jahre (Beard VI, 594-601; Noble, 137) – passen nicht im mindesten ins Bild des heutigen linksliberalen Progressismus. Immerhin ziert noch ein frühes Werk der Beards (History of the Unites States, 1921) ein marxistisches Internet-Archv (Marxists Internet Archive, https://www.marxists.org/archive/beard/history-us/index.htm).
Weder mit seiner ›economic theory‹ noch mit seiner spezifischen Rezeption der Kritik am Historismus ist Beard unter die großen Geschichtsdenker einzureihen. Erinnernswert ist er gleichwohl ob seiner Rolle als ›progressiver‹, von politischem Sendungsbewusstsein erfüllter Historiker sowie als Außenseiter unter den liberals der Ära Roosevelt. Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Rolle der USA im 20. und 21. Jahrhundert gewinnt noch ein anderer Aspekt seiner Denkbewegungen Relevanz: Trotz all seiner Betonung der ›geschichtlichen Wirklichkeit‹ (actuality in history), trotz seiner Aversion gegen den Imperialismus, sind bei Beard distanzierte Reflexionen über den Begriff ›Macht‹ – sei es als politische Triebkraft, sei es als historische Kategorie – nicht zu finden. Vielmehr legte er in dem Werk The American Spirit (1942) – ungeachtet eines pessimistisch angehauchten Schlußpassus, worin der Krieg als wiederkehrende historische Konstante benannt wird – ein Bekenntnis zur historischen Einzigartigkeit der amerikanischen Zivilisation ab: »This idea of civilization...embraces a conception of history as a struggle of human beings in the world for individual and social perfection – for the good, the true the beautiful – against ignorance, disease, the harshness of physical nature, the forces of barabarism in individuals and in society. It assigns to history in the United States, so conceived, unique features in origin, substance, and development.« (Beard VI, 674, Zitat, 672) Mit seiner Verteidigung des Pragmatismus gegen die Idee des ›Absoluten‹ stellte er sich in die Tradition von William James, John Dewey und deren ethische Vertiefung der Prinzipien der amerikanischen Demokratie (ibid., 665). Wie seine internationalistischen Kritiker, die ihn des ›Relativismus‹ bezichtigten, war Beard auf seine Weise ein von der welthistorischen Sonderrolle der USA und ihrer Demokratie überzeugter Amerikaner.
Literatur:
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