Ro­bert Hertz’ Stu­di­en Bei­trag zur Un­ter­su­chung der kol­lek­ti­ven Re­prä­sen­ta­ti­on des Todes (1907) bil­den eine der Vor­aus­set­zun­gen für die Ent­ste­hung der Theo­rie der Gabe bei Mauss und der Theo­rie der Ver­aus­ga­bung bei Ba­tail­le. Die Schrift von Ro­bert Hertz strebt da­nach, auf der Basis eines um­fang­rei­chen eth­no­gra­phi­schen Ma­te­ri­als die Exis­tenz eines En­sem­bles von Vor­stel­lun­gen, Ge­füh­len und Prak­ti­ken zu un­ter­su­chen, die mit dem Phä­no­men des Todes zu­sam­men­hän­gen. Der Tod wird von Hertz als Über­gangs­pe­ri­ode auf­ge­fasst und zwar zwi­schen der kör­per­li­chen Zer­stö­rung des In­di­vi­du­ums, das die Ge­sell­schaft der Le­ben­den ver­las­sen hat, und des­sen Auf­nah­me in die my­thi­sche Ge­sell­schaft der Ahnen. Der von Hertz be­schrie­be­ne Pro­zess be­ginnt mit dem vor­über­ge­hen­den Be­gräb­nis und endet mit dem end­gül­ti­gen Be­gräb­nis. In die­ser Stu­die ist für uns eine Ethik des Ster­bens les­bar: so­lan­ge der Pro­zess des Todes nach be­stimm­ten Prin­zi­pi­en und Prak­ti­ken nicht voll­stän­dig ab­ge­schlos­sen ist, so­lan­ge wird der Tote als ein Mit­glied der Grup­pe be­han­delt. Es ist dem­nach ver­ständ­lich, dass das zwei­te und end­gül­ti­ge Be­gräb­nis von allen daran be­tei­lig­ten Per­so­nen als Nor­ma­li­sie­rung des so­zia­len Le­bens wahr­ge­nom­men wird. Das ab­schlie­ßen­de Fest wird von Hertz als be­frei­en­de Ver­schwen­dung vor­ge­stellt. Wie be­reits Mar­cel Mauss, so hatte auch Ba­tail­le die Bio­gra­phie und das Werk von Ro­bertz Hertz vor dem Ver­ges­sen ge­ret­tet. Ba­tail­le be­tont bei Hertz die Ver­schwen­dung von Res­sour­cen, die das Fest nach dem Be­gräb­nis vor­aus­setzt. Zahl­rei­che Texte von Ge­or­ges Ba­tail­le be­le­gen eine lang­jäh­ri­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit den Prin­zi­pi­en einer all­ge­mei­nen Öko­no­mie, so Der Be­griff der Ver­aus­ga­bung (1933), Die Gren­ze des Nütz­li­chen (1942) und Die Auf­he­bung der Öko­no­mie (1949). In un­se­rem Bei­trag be­wer­ten wir Mauss' Schrift Die Gabe aus­schlie­ß­lich in ihrer Re­le­vanz für Ba­tail­les Be­grün­dung sei­ner Theo­rie der Ver­aus­ga­bung. Der Pot­latch als Aus­tausch von Ge­schen­ken und Gaben ver­stan­den ist eine ob­li­ga­to­ri­sche Leis­tung, die nach Mauss mit drei mit­ein­an­der ver­bun­de­nen Hand­lun­gen zu­sam­men­hängt: die Pflicht zu geben, die Pflicht an­zu­neh­men und die Pflicht zu­rück­zu­ge­ben. Auf der Grund­la­ge der von Ro­bert Hertz ge­leis­te­ten Re­cher­chen hebt Mauss den spi­ri­tu­el­len, re­li­giö­sen Cha­rak­ter des öko­no­mi­schen Aus­tau­sches her­vor. Die Ge­schen­ke wer­den als Trä­ger re­li­giö­ser Werte an­ge­se­hen. Damit sei die Not­wen­dig­keit be­grün­det, sol­che Ge­schen­ke zir­ku­lie­ren zu las­sen, statt sie als Ei­gen­tum des Emp­fän­gers zu be­hal­ten. Im Falle der Zer­stö­rung von Res­sour­cen wer­den die wert­vol­len Ob­jek­te nicht al­lei­ne aus ago­nis­ti­schen Pres­ti­ge­grün­den zer­stört, son­dern als Gaben ge­op­fert, die den Geis­tern und Göt­tern ge­wid­met sind.

Für Ba­tail­le ist gleich­zei­tig von pri­mä­rer Be­deu­tung, dass in der in­dus­tri­el­len Ge­sell­schaft ein Teil der Pro­duk­ti­on und Kon­sump­ti­on nicht für den nütz­li­chen Ver­brauch, son­dern für die un­pro­duk­ti­ve Ver­aus­ga­bung be­stimmt wird. Es wer­den dabei Ak­ti­vi­tä­ten er­fasst (wie zum Bei­spiel das Fest, die sa­kra­le Kunst, der To­ten­kult und die Re­li­gi­on), ohne die eine Ge­sell­schaft und ihre Kul­tur­tra­di­ti­on nicht be­ste­hen kön­nen. Im ers­ten Ab­schnitt der be­rühmt ge­wor­de­nen Schrift Die Un­zu­läng­lich­keit des klas­si­schen Nütz­lich­keits­prin­zips wird von Ba­tail­le eine Kon­zep­ti­on der wirk­li­chen Be­dürf­nis­se der mo­der­nen Ge­sell­schaft ent­wor­fen. Für alle auf dem Nütz­lich­keits­prin­zip ba­sie­ren­den Kon­zep­te hat jeder Ein­satz nur einen Wert, wenn er auf die Er­for­der­nis­se von Pro­duk­ti­on zu­rück­führ­bar ist. Dem­zu­fol­ge be­fin­den sich die klas­si­schen öko­no­mi­schen Theo­ri­en nach Ba­tail­le im Wi­der­spruch zu den wirk­li­chen Be­dürf­nis­sen des so­zia­len En­sem­bles. Der pa­ra­do­xe Cha­rak­ter die­ser These be­steht in der Be­haup­tung, dass ge­ra­de die un­pro­duk­ti­ve Ver­aus­ga­bung als so­zia­les Be­dürf­nis zu den nütz­li­chen In­sti­tu­tio­nen einer Ge­sell­schaft ge­hört. Im zwei­ten Ab­schnitt »Das Prin­zip des Ver­lus­tes« wird vom Autor der Me­cha­nis­mus der all­ge­mei­nen Kon­sump­ti­on ana­ly­siert. Der erste Be­reich der Kon­sump­ti­on ent­spricht nach Ba­tail­le einem not­wen­di­gen Mi­ni­mal­ver­brauch zur Fort­set­zung der Pro­duk­ti­on. Er be­zeich­net die­sen Be­reich als das Ge­biet der pro­duk­ti­ven Ver­aus­ga­bung. Der zwei­te Be­reich um­fasst die un­pro­duk­ti­ven Aus­ga­ben. Ge­ra­de in die­ser Fra­ge­stel­lung wird der Ein­fluss von Mauss auf Ba­tail­le, be­son­ders in der An­wen­dung von For­meln deut­lich, die dazu be­stimmt sind, einen Be­griff in sei­nem Gel­tungs­be­reich zu de­fi­nie­ren. Mauss schreibt zum Bei­spiel: »Es sind vor allem Höf­lich­kei­ten, Fest­es­sen, Ri­tua­le..., bei denen der Han­del nur ein Mo­ment und der Um­lauf von Reich­tü­mern nur eine Seite des Ver­tra­ges ist. Schlie­ß­lich voll­zie­hen sich diese Leis­tun­gen und Ge­gen­leis­tun­gen in einer frei­wil­li­gen Form durch Ge­schen­ke und Gaben, ob­wohl sie im Grun­de streng ob­li­ga­to­risch sind... . Wir haben vor­ge­schla­gen, all dies das Sys­tem der to­ta­len Leis­tun­gen zu nen­nen.« (Mar­cel Mauss, Die Gabe). Die­sem Geist ent­spre­chend schreibt Ba­tail­le fol­gen­des: »... die mensch­li­che Tä­tig­keit ist nicht voll­stän­dig zu re­du­zie­ren auf Pro­zes­se der Pro­duk­ti­on und Re­pro­duk­ti­on, und die Kon­sump­ti­on muss in zwei ver­schie­de­ne Be­rei­che auf­ge­teilt wer­den. Der erste, der re­du­zier­bar ist, um­fasst den für die In­di­vi­du­en einer Ge­sell­schaft not­wen­di­gen Mi­ni­mal­ver­brauch zur Er­hal­tung des Le­bens und zur Fort­set­zung der pro­duk­ti­ven Tä­tig­keit... Der zwei­te Be­reich um­fasst die so­ge­nann­ten un­pro­duk­ti­ven Aus­ga­ben: Luxus, Trau­er­ze­re­mo­ni­en, Krie­ge, Kulte, die Er­rich­tung von Pracht­bau­ten, Spie­le, Thea­ter, Küns­te, die per­ver­se Se­xua­li­tät stel­len eben­so­vie­le Tä­tig­kei­ten dar, die zu­min­dest ur­sprüng­lich ihren Zweck in sich selbst hat­ten. Also ist es not­wen­dig, den Namen der Ver­aus­ga­bung die­sen un­pro­duk­ti­ven For­men vor­zu­be­hal­ten, unter Aus­schluss aller Arten der Kon­sump­ti­on, die der Pro­duk­ti­on als Mit­tel die­nen.« (Ge­or­ges Ba­tail­le, Die Theo­rie der Ver­aus­ga­bung).

Ba­tail­le hat ein­sei­tig aus dem Ent­wurf von Mauss, vor allem die These der Zer­stö­rung von Res­sour­cen über­nom­men, wel­che er als Ver­aus­ga­bung, ja sogar als Ver­schwen­dung für die ei­ge­ne Re­li­gi­ons­theo­rie in­ter­pre­tiert. Die Se­xua­li­tät, der Tod, der Luxus, das Fest im­pli­zie­ren in sei­nem an­thro­po­lo­gi­schen Dis­kurs die Grund­re­la­ti­on von Natur und Kul­tur. Die öko­no­mi­schen Grund­la­gen der Re­li­gi­on las­sen sich ganz all­ge­mein auf die ver­schie­de­nen For­men der Ver­aus­ga­bung re­du­zie­ren, wel­che von Ba­tail­le so­wohl als Ver­aus­ga­bung von Res­sour­cen als auch und vor allem als Ver­aus­ga­bung von En­er­gi­en ge­deu­tet wird. Ge­ra­de der Grund für den Er­folg des Chris­ten­tums als Welt­re­li­gi­on liegt für Ba­tail­le in sei­ner Natur als Opfer oder Ver­schwen­dung, das heißt in der Kreu­zi­gung des Got­tes­soh­nes. Der Tod am Kreuz wäre also nach Ba­tail­le die große Ver­schwen­dung, die die christ­li­che Tra­di­ti­on be­grün­det hat. Für Ba­tail­le ist die Re­li­gi­on iden­tisch mit dem re­li­giö­sen Fest. Es han­delt sich bei dem re­li­giö­sen Fest vor allem um eine Re­li­gi­on des Kör­pers. Von hier aus ist Ba­tail­les Kri­tik am Chris­ten­tum zu be­grei­fen: »Im Chris­ten­tum wird von der Gott­heit fern­ge­hal­ten, was die un­kla­re, ge­walt­sa­me oder ver­rück­te Seite an Gött­li­chem aus­macht: der durch al­ko­ho­li­sche oder an­de­re Gifte aus­ge­lös­te Rausch, die Woll­lust der Sinne, die kol­lek­ti­ve Er­re­gung, die krie­ge­ri­sche Ge­walt, die blu­ti­gen Opfer von Men­schen und Tie­ren.« Das re­li­giö­se Fest bleibt nach Ba­tail­les Auf­fas­sung mit Wer­ten wie Opfer, Ek­sta­se, Be­ses­sen­heit, Eros, Rausch, or­gi­as­ti­schen Ri­tua­len und Ver­schwen­dung von Res­sour­cen und En­er­gi­en ver­bun­den, die nicht nur den Geist, son­dern auch und vor allem den mensch­li­chen Kör­per be­an­spru­chen. Die Ent­fes­se­lung des Fes­tes er­gibt sich aus sei­ner un­mit­tel­ba­ren Be­zie­hung zum Opfer und an­de­ren sa­kra­len For­men der Ver­aus­ga­bung von En­er­gi­en. Fest und Krieg be­deu­ten nach Ba­tail­le eine Ver­geu­dung von Res­sour­cen, aber dabei ist ein be­acht­li­cher Un­ter­schied zwi­schen bei­den For­men der Ver­aus­ga­bung fest­zu­stel­len: das Fest för­dert die so­zia­le Ko­hä­si­on und So­li­da­ri­tät in­ner­halb der Grup­pe; der Krieg be­inhal­tet einen Bruch der so­zia­len Bin­dun­gen und Ab­ma­chun­gen; im Ge­gen­satz zum Fest ist der Krieg eine Ne­ga­ti­on der nor­ma­len Ko­hä­si­on. Dabei spie­len die Pas­sio­nen eine wich­ti­ge Rolle: der Krieg be­freit jene In­stink­te, die von der Zi­vi­li­sa­ti­on stets ver­drängt wor­den waren. Das Fest als Ver­aus­ga­bung schafft eine ei­ge­ne Zeit und einen Rhyth­mus für die Grup­pe. Das Fest bil­det in die­sem Fall die Basis der Kom­mu­ni­ka­ti­on, die die Men­schen re­gel­mä­ßig zu­sam­men­bringt.

 

13. Jahrgang 2014