Karl Heinrich Pohl, Gustav Stresemann. Biografie eines Grenzgängers. Göttingen: Vandenhoeck &. Ruprecht 2015, 351 Seiten
In der vorliegenden, neuesten Stresemann-Biografie zieht Karl Heinrich Pohl auf breiter Quellen- und Literaturbasis die Summe seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dieser Zentralfigur der deutschen Wirtschaft und Politik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Damit ist implizit schon gesagt, dass die Monate als Reichskanzler und die Jahre als Außenminister, die Periode der relativen Stabilisierung der Weimarer Republik, für den Autor nicht allein oder vorrangig bestimmend sind. Die zunächst überraschende Formulierung ›Grenzgänger‹ im Untertitel fasst die Persönlichkeit und ihr öffentliches Wirken dabei, wie die Lektüre zeigt, besser als deren gelegentlich anzutreffende Bezeichnung mit dem Terminismus der ›Widersprüche‹.
Im Sinne neuerer Theorien zur Biografik setzt der Verfasser bei dem Bedürfnis namentlich des bürgerlichen Menschen an, einen geschlossenen, zielgerichteten und möglichst vielseitigen Lebenslauf vorweisen zu können. Stresemann hat, so eine plausible Annahme, dieses Bedürfnis – nicht zuletzt wegen seiner kleinbürgerlichen Herkunft, die er unbedingt hinter sich lassen und gern verschleiern wollte, stark empfunden und bis zu seinem Tod viel Mühe auf die Pflege seines Nachlasses – bis zur ›Reinigung‹ und ›Ergänzung‹ – und die direkte Beeinflussung seines öffentlichen Bildes verwandt. Die vom früheren Biografen in Teilaspekten übernommene Selbststilisierung, die (nicht stresemannspezifische) Konstruktion einer linearen Biografie überhaupt, will der Verfasser ›dekonstruieren‹. Auch bei der ausführlichen Erläuterung seiner Intentionen und seines Vorgehens bleibt das Buch stets gut leserlich, nicht nur für Experten. Der Zugang ist durchweg kritisch, aber niemals denunziatorisch, verstehend deutend, aber nicht affirmativ.
Nachdem die Bewertung des Staatsmanns Stresemann in der Geschichtswissenschaft lange umstritten gewesen war, konnte sich in letzter Zeit die Meinung weitgehend durchsetzen, dass sein Engagement für die parlamentarisch-demokratische Republik und für die internationale Verständigung ehrlich war. Pohl behauptet nicht das Gegenteil, arbeitet im Hinblick auf das Denken und Handeln des Ministers aber eine Reihe Anhaltspunkte heraus, die der Eindeutigkeit dieser Aussage widersprechen und die Kernthese des Buches von der ›Ambivalenz‹ und ›Hybridität‹ des Charakters wie der Politik Stresemanns plausibel machen. Der Verfasser beansprucht nicht, in erheblichem Umfang neue Quellen erschlossen zu haben. Er kennt die Quellen indessen bestens und kann zudem auf einen guten Forschungsstand aufbauen. Unbefangen bedient er sich nicht nur sozial- und kulturwissenschaftlicher Ansätze außerhalb der Geschichtswissenschaft, so von Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann, Henning Luther und Clifford Geertz, sondern greift auch auf Erkenntnisse der Physiognomie-Forschung zurück und analysiert die Sprechweise Stresemanns nach Tonbandaufnahmen. Die langjährige Krankheit des Protagonisten kommt ebenfalls nicht zu kurz.
Originell und unter biografischen Aspekten einleuchtend ist die Gewichtung der verschiedenen Lebens- und Schaffensphasen. Die nicht einfache Kindheit und Jugend und die erste Karriere als junger Syndikus des dem Bund der Industriellen angeschlossenen Verbandes Sächsischer Industrieller, der im Unterschied zum schwerindustriell dominierten Zentralverband Deutscher Industrieller hauptsächlich die Interessen des exportorientierten und verarbeitenden Gewerbes vertrat, als Politiker der Nationalliberalen Partei und ›Multifunktionär‹ im Königreich Sachsen, erscheinen in einem teilweise neuen, jedenfalls klareren Licht: Die Dresdener Zeit ist – objektiv wie subjektiv – nicht einfach als Vorgeschichte des späteren Wirkens in der Weimarer Republik zu sehen. Deshalb behandelt der Verfasser diese Lebens- und Schaffensperiode Stresemanns eingehender als das in der Regel geschieht. Die Tätigkeit in Sachsen, wo dieser den Industriellen-Verband »fast im Alleingang zum mächtigsten regionalen Wirtschaftsverband aufbaute« (313), verdient in der Tat eine angemessene Würdigung, zumal er sich währenddessen ein beachtliches Vermögen erarbeitete und im gesellschaftlich-kulturellen Bereich »ein kleiner König« (318) war. Die diesbezüglichen Kapitel drei und vier (mit detaillierter Netzwerkanalyse über Stresemanns vieldimensionale Verbindungen und Mitgliedschaften) enthalten Passagen, die zu den interessantesten des Buches gehören.
Die sächsische Erfahrung machte Stresemann nicht zu einem Sozialliberalen, aber er entwickelte ein realistisches, pragmatisches Verhältnis zur Sozialdemokratie (mit bei Reichstagswahlen bis zu 60 Prozent Stimmenanteil im Königreich) und zu den Gewerkschaften, deren ›natürlicher‹ Gegner er blieb, und erkannte die Notwendigkeit einer konstruktiven Sozialpolitik wie einer Liberalisierung der staatlichen Verfassungsordnung auf den verschiedenen Ebenen. Dass er im Ersten Weltkrieg zu den entschiedenen Annexionisten gehörte, im Reichstag wie Ludendorffs junger Mann agierte, unterschied ihn inhaltlich nicht von seinen Parteikollegen und wurde von ihm selbst keineswegs im Widerspruch zu den eigenen innen- und gesellschaftspolitischen Positionen aufgefasst. Allerdings erschwerte ihm sein Auftreten in der Kriegszeit nach der Niederlage und dem revolutionären Staatsumsturz vom November 1918 den Neustart. Er fand sich an der Spitze der Deutschen Volkspartei wieder, der Fortsetzung der (Teile ihrer linken und rechten Flügelleute verlustig gegangenen) Nationalliberalen, wo man der neuen parlamentarisch-demokratischen Ordnung und dem Versuch ihrer Repräsentanten, durch Erfüllung und Verständigung die drückende Last des Versailler Friedens erst zu erleichtern und diesen dann schrittweise zu revidieren, viel skeptischer gegenüberstand als der ›Vernunftrepublikaner‹ Stresemann.
Dabei war und blieb dieser – ungeachtet seiner Außenseiterposition bezüglich der sozialen Herkunft, die durch ein reges kulturelles Engagement und schriftstellerische Bemühungen, u.a. eine intensive Beschäftigung mit Goethe, kompensiert werden sollte – ein beinahe idealtypischer ›Bürger‹ der wilhelminischen Epoche. Anders als von ihm behauptet, machte ihn die Inflation keineswegs ›arm‹; dafür sorgten weiterhin, neben den Dienstbezügen, Aufsichtsratstantiemen und Wertpapiere (bei deren Kauf er selbst vor Insider-Geschäften nicht zurückschreckte).
Wenngleich der Verfasser betont, dass Stresemann keinem »stabilen sozialmoralischen Milieu« (16) angehörte, darf man wohl doch konstatieren, dass er zumindest objektiv Teil der großkapitalistischen Oberschicht des Bürgertums war, vor wie nach 1918. Die Distanz zur Schwerindustrie und den politischen Positionen ihrer in der DVP beheimateten Vertreter hinderte ihn und seine Behörde, das Auswärtige Amt, im Übrigen, wie der Verfasser deutlich macht, nicht daran, bei den Verhandlungen um die Internationale Rohstahlgemeinschaft (IRG), den im engeren Sinn interessengeleiteten (laut Pohl ›nationalistischen« statt ›europäischen‹) Kurs der deutschen Montanwirtschaft zu unterstützen. Ein noch größeres Fragezeichen hinter die europäische Dimension der Stresemannschen Außenpolitik (einschließlich der Locarno-Verträge) setzt der Verfasser, wenn er dessen Umgang mit Polen in den Blick nimmt, namentlich bezüglich der Abhängigkeit dieses Landes von deutschem Eisen, relativiert die Politik des äußeren Drucks aber zugleich mit dem Hinweis auf den weit nach links reichenden innerdeutschen Konsens, die ›blutende Grenze‹ und den ›Korridor‹ im Osten keinesfalls zu akzeptieren.
Nicht einfach zu deuten sind Stresemanns stets gepflegte Kontakte zu antirepublikanischen Gruppen und einschlägigen Protagonisten auf der Rechten, die er finanziell unterstützen ließ. Beim Kapp-Putsch spielte er eine dubiose, auf Kompromiss zielende Rolle. Daraus ergaben sich offenbar Abhängigkeiten, die in dem Betreiben einer Amnestie Ausdruck fanden. Kronprinz Wilhelm, schon vor 1914 ein imperialistischer Scharfmacher ersten Ranges, verdankte Stresemann die Rückkehr nach Deutschland. Der bekannte Kronprinzenbrief war wohl hauptsächlich der Versuch, eine Symbolfigur des alten Regimes und des rechtsnationalistischen Lagers politisch zu neutralisieren, und zumindest für einen Teil der Verbindungen nach rechts außen wird man Entsprechendes unterstellen dürfen. Doch ebenso war es dem Außenminister wichtig, von der kaiserlichen Familie und seinen rechten Bekannten als ›nationaler Mann‹ anerkannt zu sein.
Nahezu alle Deutschen und ihre parteipolitischen Vertretungen lehnten ›Versailles‹ inhaltlich ab. Das galt auch für diejenigen, die mangels Alternative die Unterzeichnung befürwortet hatten. Die methodische Übereinstimmung zwischen Stresemann mit seinen engeren Anhängern einerseits und der seine Außenpolitik aus der Opposition parlamentarisch stützenden SPD andererseits bestand in dem unzweideutig friedlichen, vertragstreuen und auf Integration des Deutschen Reiches in den Weltmarkt sowie auf internationale Kooperation und Verflechtung der Staaten gerichteten Agieren. Ebenso wenig unterschied sie die offen bekundete Revisionsabsicht, wenngleich die territorialen Revisionsziele seitens der Sozialdemokraten bald an Dringlichkeit verloren. Doch dachte Stresemann viel stärker als seine Unterstützer aus der Arbeiterbewegung in den traditionellen Kategorien des als nationalstaatlichen Wettbewerb organisierten internationalen Systems und der ›nationalen Ehre‹ einschließlich ihrer militärischen Komponente. Wie öfters in der Geschichte hatte die Methode, hier der Verständigungspolitik, jedoch die Tendenz, im Lauf der Zeit auch die politischen Inhalte und Ziele zu beeinflussen und zu verändern. In diesem Licht ließe sich die Frage entschärfen, was Stresemann ›eigentlich‹ und ›letztlich‹ anstrebte, mochte es sich, wie Pohl betont, bei seiner Haltung zur parlamentarisch-demokratischen Republik von Weimar auch Zeit seines Lebens um nichts anderes als ein ›Arrangement‹ gehandelt haben.
(Eine Kurzversion erschien in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2/2016)