Lautréamonts ebenso berühmte wie dunkle Metapher »rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine á coudre et d'un parapluie« (zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch – Lautréamont: Les Chants de Maldoror. Œuvres complètes, éd. Guy Lévis Mano, 1938, Chant VI) wurde sehr schnell zum Modell surrealistischer Produktionsweise. Claude Lévi-Strauss nimmt eine diesbezügliche Bemerkung Max Ernsts (Max Ernst: Was ist Surrealismus? Ausstellungskatalog Zürich 1934) zum Anlass für eine kurze Demonstration der strukturalen Analyse, die wiederum dazu herausfordert, den Faden aufzunehmen und ein Stück weiterzuspinnen.
Lautréamonts Bild von der zufälligen Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch verkörpert nicht nur das surrealistische Schönheitsideal, sondern ist auch ein Modell des Wilden Denkens und verweist als Variation des Bastlermotivs auf eine tiefe Seelenverwandtschaft. Was dem common sense an der Metapher wie der reine Unsinn erscheinen mag, als Ergebnis vermeintlich dichterischer Freiheit, die man nicht allzu ernstnehmen sollte, dient der strukturalen Analyse als Objekt, die Entstehung von Sinn und seine unbewusste Motiviertheit zu demonstrieren. Die Metapher erscheint wie das Sinnbild der strukturalen Analyse und diese wiederum als Selbstauslegung des Textes. Das Ganze ist dann auch ein Traktat über die Subjektivität.
»Am Schluß eines neuen Buches [es handelt sich um Claude Lévi-Strauss: Mythologiques IV. L’homme nu. Paris: Plon 1971, S. 559-563, Deutsch: Mythologica IV. Der Nackte Mensch. Frankfurt/M. 1975, S. 732-738] beharrte ich auf der Passivität und Rezeptivität des Autors: sein tätiger Geist fungiere als anonymer Schauplatz, auf dem sich Dinge, die von außen an ihn herangetragen werden (man kann es kaum anders bezeichnen), organisieren. Ohne mir übrigens dessen bewußt zu sein, griff ich dabei eine mit allem Nachdruck von Max Ernst formulierte Idee auf. Denn seit 1934 prangerte er das Schöpfertum des Künstlers (le pouvoir créateur de l’artiste) an, wie er es nannte. Der Autor, fuhr er fort, spiele nur eine passive Rolle im Mechanismus des dichterischen Schaffensprozesses und könne der Geburt seines sogenannten Werkes als Zuschauer beiwohnen: in Wahrheit aber sei es nichts anderes als eine Freilegung unverfälschter Funde (trouvailles non falsifiées), die aus einem unerschöpflichen, im Unterbewußten verborgenen Bildervorrat hervorgegangen seien.« (Claude Lévi-Strauss: Une Peinture méditative. In: Le Regard éloigné. Paris: Plon 1983, S. 327, deutsch: Der Blick aus der Ferne. München: Fink 1985, S. 355. Der Verweis auf die deutsche Ausgabe wird im Folgenden in Klammern nachgestellt. Die deutsche Übersetzung von Hans-Heinz Henschen und Joseph Vogl ist nicht immer treffend und daher vom Autor stillschweigend korrigiert worden.)
Mythologe und Maler arrangieren scheinbar willkürlich die verschiedensten Dinge. Der Strukturalist vergleicht Mythen aus einander fremden Kulturen miteinander und bringt sie mit Riten, Bräuchen, Sprichwörtern, Werkzeugen und was nicht alles in Verbindung, lässt sich von naturwissenschaftlichen Resultaten inspirieren und scheut nicht davor zurück, seine Ordnungsprinzipien der Musik oder Mathematik zu entlehnen. Der Surrealist entreißt die unterschiedlichsten Materialien ihren Kontexten und vereint sie in seinen Collagen.
Wo der common sense unterscheidet und strikt trennt, stiften der Surrealist und Strukturalist Beziehungen, Übergänge, Übereinstimmungen und Einheiten. Man kann auch den Psychoanalytiker anführen, der den ›Abhub der Erscheinungswelt‹ und die freie Assoziation zum Fundament seiner Deutungen macht. Sie alle verhalten sich wie der Bastler, der alles gebrauchen kann, was sich so ansammelt, um daraus etwas Neues zu machen. Die Bastelei – etwa die strukturale Analyse der Mythen – kann nur gelingen, weil die scheinbar rein zufällig im Raum verstreuten Dinge auf geheimnisvolle Weise korrelieren, deren Gesetzmäßigkeit der die Einheit der Welt stiftende Geist aufdeckt.
Die Begegnung zwischen Surrealismus und Strukturalismus, den der Meister einen Superrealismus zu nennen pflegte, ist alles andere als zufällig, gibt es doch eine tiefe Seelengemeinschaft zu erkennen, die in dem von Freud begründeten Paradigma der unbewußten Tätigkeit des Geistes wurzelt. Sinnfällig wird das in der Lautréamontschen Metapher, deren Analyse sich als mehr oder weniger verschlüsselte Hommage des Mythologen an den verehrten Maler erweist.
Die Metapher erscheint absurd. Die genannten Objekte lassen sich nicht sinnvoll in Beziehung setzen. Es lässt sich keine reale Situation vorstellen, wie sie der Werkzeugcharakter der Objekte suggeriert. Dieser steht allerdings im Einklang mit der völligen Künstlichkeit ihres Arrangements und ihrer Umgebung. Das Technisch-Instrumentelle und Gefühllose dominiert und steht damit in äußerstem Gegensatz zum Schönen, das der Dichter eigentlich evozieren will. Die Spannung, die zwischen Begriff und Bild besteht, tendiert eher zur Nichtauflösung und Frustration als zur lustvollen Abfuhr.
Alle Intuition geht erst einmal in die Irre. »Die Assoziation der beiden Apparate legt zunächst nahe, daß sie gleichermaßen nach ihrer Zweckmäßigkeit benannt werden, á coudre die eine, á pluie die andere. Ohne Zweifel ein falscher Parallelismus, da das zweite a von parapluie keine Präposition ist, sondern integraler Bestandteil eines Morphems ...«. (Claude Lévi-Strauss: Une Peinture méditative, a.a.O. S. 328 (356))
Die spontanen Einfälle, die sich an die wahrgenommenen Merkmale heften, erscheinen zufällig. Das, was wir an vermeintlicher Strukturiertheit erkennen, bleibt formalistisch, denn der morphologischen Ähnlichkeit entspricht in Wahrheit ein funktionaler Unterschied auf grammatischer Ebene. Sinn macht das noch nicht. Aber Lèvi-Strauss fährt fort, dass es sich um einen Parallelismus handelt, »der auf die Spur eines ganzen Systems von Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten führt, die untereinander in signifikanten Wechselbeziehungen stehen.« (a.a.O.)
Da gibt es auf der Ebene der Signifikanten im Französischen eine Entsprechung, die in der deutschen Übersetzung verloren geht, die aber ein erster Ansatzpunkt für die Entschlüsselung des Sinnes sein kann – das gemeinsame a. Der grammatischen Funktion des a entspricht die technische Funktion der präponierten Nadel der Nähmaschine auf der Ebene des Signifikats. Ähnliches gilt zwischen dem a als integralem Bestandteil des Morphems und der aus der Mitte aufsteigenden Spitze des Regenschirms, die eher typisches Merkmal der äußeren Erscheinung ist als dass ihr eine technische Funktion zukäme.
»Die Maschine ist zum (pour) Nähen gemacht, die andere Vorrichtung schützt gegen (contre) den Regen; jene wirkt auf den Stoff ein und verändert ihn, diese setzt dem Regen einen passiven Widerstand entgegen.« (a.a.O.) Es zeigen sich also ein grundlegend logisch-funktionaler Gegensatz ›pro und contra‹ und eine elementare lebendige Opposition von ›aktiv-passiv‹. Weiter heißt es:
Das beiden Signifikanten gemeinsame a weist auf ein gemeinsames Merkmal der Signifikate hin, nämlich die Ausstattung mit einer Spitze, die im einen Fall instrumentelle, also konstitutive, und im anderen Fall rein ornamentale Funktion hat. Die Spitze charakterisiert durch ihre jeweilige Anordnung und Beschaffenheit das entsprechende Instrument im Ganzen: im Falle der Nähmaschine handelt es sich um ein massives und festgefügtes Gerüst, das die Materie bearbeitet und verändert. Der Regenschirm dagegen ist eine simple Apparatur zur Abwehr chaotischer Naturkräfte. Eine Beziehung zwischen beiden wird sichtbar. Das funktionale Objekt der jeweiligen Maschine in ihrem Verwendungszusammenhang fehlt, ist aber am anderen präsent. Der Stoff als zu bearbeitender Gegenstand für die Nähmaschine ist Hauptbestandteil des Schirms. Das Durchstoßende und Abzuwehrende als funktionales Objekt des Regenschirms ist präsent in der Nadel als Hauptbestandteil der Nähmaschine, was in der rein ornamentalen Spitze des Schirms wieder angedeutet zu sein scheint.
Trotzdem lässt sich ein bedeutsamer Zusammenhang noch immer nicht ausmachen. Fügen wir allerdings die Information hinzu, die uns der ›Seziertisch‹ als Kontext der Begegnung liefert, so scheint dieser in doppeltem Sinne die Grundlage zur genaueren Bestimmung abzugeben. Die Begegnung findet nicht einfach nur an diesem Ort statt, sondern das zufällige Aufeinandertreffen wird, wie durch eine fremde Macht, zu einem bedeutungsvollen und vom Schicksal vorgezeichneten Ereignis:
Die zunächst unlösbare Gleichung:
machine à coudre + parapluie
------------------------------------- = 1
table de dissection
geht dann auf, wenn man die unerwartete Annäherung (»rapprochement«) der zwei Objekte nachdrücklich motiviert sieht durch die Tatsache, dass sie selbst in Beziehung zu einem dritten Gegenstand gesetzt wurden; und dieses Dritte liefert den Schlüssel, um den ihnen gemeinsamen Begriff zu analysieren. Gänzlich verschieden verwandeln sich dann die ersten zwei Objekte in auf einander verweisende Metaphern, deren unmittelbares Erfassen, immer noch gemäß des Textes von Max Ernst, die Freude (erweckt), die man über jede gelungene Metamorphose erfährt ... (und die) einem uralten Bedürfnis des Geistes antwortet.« (Claude Lévi-Strauss: Une Peinture méditative. A.a.O., S. 329 [Übersetzung des Autors]) – Das Französische ›rapprocher‹ läßt sich auch mit ›gegenüberstellen‹ oder ›vergleichen‹ übersetzen, was alles mitgemeint zu sein scheint. Auffällig ist, dass Lévi-Strauss nicht mehr von ›recontre‹ (›Begegnung‹) spricht, wie im Lautréamontschen Original, sondern von ›rapprochement‹ (›Annäherung‹). Damit wandelt sich das subjektiv-kontingente Zusammentreffen in ein durch eine höhere Instanz geplantes, objektiv-notwendiges Arrangement. Die allzu wörtliche Übersetzung von frz. ›métaphores inversées l’un de l’autre‹ durch Henschen und Vogl als ›einander entgegengesetzte Metaphern‹ verdunkelt den gemeinten Zusammenhang. Als Inversion bezeichnet man in der Grammatik Konstruktionen, in denen die Normalabfolge in einem Satz umgestellt wurde, häufig bei Vergleichen. In der Mathematik bezeichnet Inversion das Verhalten eines Elementes gegenüber einem anderen bezüglich einer gegebenen Verknüpfung. Das dürfte dem hier Gemeinten entsprechen. Ein paar Zeilen weiter oben wird das künstlerische Schaffen nach der Formel Max Ernsts, der zufolge »die Annäherung (›rapprochement‹) zweier (oder mehrerer) scheinbar wesensfremder Elemente auf einer dazu ungeeigneten Ebene« der strukturalen Analyse angenähert, die darin »ein doppeltes Spiel von Opposition und Korrelation (offenlegt) und zwar sowohl zwischen einer komplexe Figur und dem Hintergrund, auf dem sie sich abzeichnet, als auch zwischen den konstitutiven Elementen der Figur selbst«. Inversion bedeutet hier sowohl ›Entgegensetzung‹ als auch ›Vergleich‹ also ›In-Beziehung-Setzen‹ zu einem tertium comparationis. Freud verwendet den Begriff der Inversion übrigens synonym für Homosexualität, worauf noch zurückzukommen sein wird.
Nun sieht man zum ersten Mal die Idee der Schönheit aufscheinen, die ja durch das Beispiel ›illustriert‹ werden sollte. Sie ist das Ergebnis einer Operation, die verschiedene Dinge nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit in Beziehung setzt. Da die logischen Strukturen aber eingebunden sind in die materielle Struktur und der Geist sie intuitiv erfasst, bewirkt das die Übereinstimmung oder Harmonie zwischen Sinnlichkeit und Geist oder Natur und Kultur, einen Effekt, den wir als schön bezeichnen. (Claude Lévi-Strauss: Ouverture. In: Mythologiques I. Le cru et le cuit. Paris: Plon 1964, S. 39-40, Deutsch: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt/M. 1971, S. 732-73)
Worin besteht nun aber die Gesetzlichkeit, die euphorische Befriedigung verschaffende geistige Notwendigkeit, von der hier als Grund des Schönen die Rede ist?
Der ›Seziertisch‹, so Lévi-Strauss in mathematischer Ausdrucksweise, ist der gemeinsame Nenner der zusammengefügten Elemente, der Interpretationsschlüssel für die unverständliche Kombination. Die Apparatur ›Seziertisch‹ liefert die Arbeitsanweisung, die Dinge nicht nur einfach zu zerlegen, sondern nach einem bestimmten Plan auch wieder zusammenzufügen, wie das ja die Kunst des Chirurgen oder Ingenieurs ausmacht:
Auffällig war ja die Substitution von Naturwesen, wie man sie normalerweise auf einem Seziertisch erwartet, durch Maschinen, Kulturprodukte. Damit wird aber die Funktion des Seziertisches in gewisser Weise selbst umgekehrt. Anstatt (noch oder ehemals) Lebendiges als Totes, Menschliches (Kultur) nur noch als Natur(-Material) zu behandeln, soll, so sieht es aus, die Zerlegung der Elemente in einer Synthese enden, die die Kulturgegenstände in den natürlichen Kosmos (re-)integriert. Diese in ihrem ganzen Wesen künstliche Operation gibt in einer für Lautréamont typischen Verkehrung die Transformation von Natur in Kultur wieder, nämlich so, daß die für Sozialität konstitutive Gegensätzlichkeit (Selbst-Anderer) rückgängig gemacht wird in einer alles ergreifenden kosmischen Auflösung.
Die Analyse hat bisher gezeigt, dass die Wörter nicht einfach nur willkürlich zusammengeworfen, sondern wirklich Zeichen sind, die auf Grund einer merkwürdigen Dialektik Bedeutung tragen. Wörtlich genommen besagen die Wörter nichts. Betrachtet man sie allerdings wie selbstgenügsame Dinge anstatt als Stellvertreter für etwas in der natürlichen Welt oder als Mittel der Kommunikation, offenbart sich eine geheime Korrespondenz zwischen den Wörtern und den Dingen. Wörter werden dem Dichter zu Dingen.
Lèvi-Strauss zeigt, wie mit Hilfe ordinärer Dinge, die man so zur Hand hat, »Übergangsobjekte« geschaffen werden, die auf eine rein imaginäre Welt verweisen in der sich nach Max Ernst »der Künstler frei, kühn, mit seiner ganzen Spontaneität entfaltet«. Hier ist der Geist ungebunden und benutzt die Welt dazu, seinem »uralten Bedürfnis« nachzukommen, »gelungene Metamorphosen« entstehen zu lassen. (André Green: Der Mythos. Ein kollektives Übergangsobjekt. In: Claude Lévi-Strauss, Jean-Pierre Vernant u.a. (Hg.): Mythos ohne Illusion. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 84-116. Der Begriff ›Übergangsobjekt‹ stammt von dem Psychoanalytiker Donald W. Winnicott und bezeichnete Objekte, die zwischen der Phase des Daumenlutschens und der Liebe zum Teddybären vom Kind als Ersatz geschaffen werden und an denen es sich wie etwa am Zipfel, an dem es mit Wonne saugt, befriedigt. Übergangsobjekte konstituieren einen neuen Erfahrungsbereich: die Illusion (vgl. Donald W. Winnicott: Transitional Objects and Transitional Phenomena. A Study of the first Not-Me Possession. International Journal of Psychoanalysis, 34: 89-97; deutsch: Psyche 23 (9), 1969: 666-682) – Claude Lévi-Strauss: Le Regrad éloigné, a.a.O. S. 328 (357)).
Die Frage nach der Botschaft der Metaphern stellen heißt dann zu fragen, wodurch die Auswahl ihrer Elemente subjektiv motiviert ist, warum der Dichter sie zum Vergleich heranzog und was darin ausgedrückt ist.
Um hier zu einer Antwort zu gelangen, setzen wir den Vers wieder in seinen ursprünglichen Kontext zurück und analysieren seine spezifische Bedeutung. Damit wird eine weitere Interpretationsebene beschritten. Die strukturale Analyse geht dazu über, den Vers als Ausdruck der psychischen Struktur des Dichters zu nehmen.
Die Metapher findet sich im 1. Vers des 6. Gesanges, welcher von der ersten Begegnung zwischen Maldoror und seinem Opfer Mervyn in der nächtlichen Rue Vivienne berichtet. Die Metapher fasst das ganze Ereignis bündig zusammen, die Situation wie auch den Plan, der sich Maldoror im Augenblick des unerwarteten Zusammentreffens mit dem Jüngling aufdrängt. Es wird sich zeigen, dass darin Lautréamonts sexuelle Phantasie ihren adäquaten künstlerischen Ausdruck findet, so schon Breton:
So einfach ist die Deutung, wie sich noch zeigen wird, dann doch nicht. Völlig ausgeblendet scheint zu sein, dass zwei Jünglinge aufeinandertreffen. Außerdem entgeht dem Surrealisten, schwer verständlich, das Wesentliche, das ihm als Dichter, so glaubt man zumindest, vertraut sein müsste, nämlich das Unvertraute, die Verstörung.
Die Verstörung, die das Bild spontan im Leser hervorruft, ist so schön wie die ambivalenten Gefühle Maldorors dem Jüngling gegenüber, die für ihn so manifest wie unbegreiflich sind. Seine Liebe oder sein Bedürfnis nach Nähe kann sich nur sadistisch, nicht ohne Beimengung von Hass oder einem Drang nach Ferne und Distanz äußern. Verführung wird zum Mord am Liebesobjekt. Das französische ›fortuite‹ bringt deutlicher als das deutsche ›zufällig‹ das Schockierende und Brutale zum Ausdruck. ›Fort(-uite)‹ weckt die Assoziation an ›force‹ nackte Gewalt.
Wir erinnern uns der Doppeldeutigkeit des ›Seziertisches‹: Die Apparatur zum Zerstückeln ist zugleich Ort einer merkwürdigen Synthese. Unschwer lässt sich darin über die Gleichung (Sezier-)Tisch = Bett eine Metapher für die Liebe erkennen, wobei noch die besondere Art des Tisches erklärungsbedürftig bleibt. Die Verkehrung oder besser das Umschlagen von Liebe in Gewalt und umgekehrt deutet auf den homosexuellen und sadistischen Charakter der Beziehung, ebenso die Ähnlichkeit der Namen: Maldoror und Mervyn.
Diese, die homosexuellen Wünsche Lautréamonts darlegende Deutung, gibt uns die vollständige Auflösung des rätselhaften Bildes. Widersprüchlich ist ja die Bedeutung des Regenschirms, den man orthodox als Phallussymbol zu interpretieren hat, zu unserer Deutung des vorliegendes Falles, die am Schirm eher weibliche Konnotationen entdeckte: rund, passiv. Einzig die auch bei der Nähmaschine existente Spitze ließ sich als Phallussymbol nehmen (»La défense (...) est ronde, l´attaque – virtuelle ou sexuelle – est pointure.« Gaston Bachelard: Lautréamont. Paris: José Corti [1939], S. 42), so dass man bei der femininen Bedeutung des Schirms in der funktionslosen, rein ornamentalen Spitze eine Anspielung auf die Klitoris als rudimentärem Penis der Frau (Mutter) sehen kann, unterstellt, die Nähmaschine mit der aktiven aggressiven Spitze sei eindeutig ein Männlichkeitssymbol und die ganze Szene ein imaginierter Beischlaf (Seziertisch = Bett).
Aber das widerspricht nicht nur der Intuition, die hier irgendetwas Anormales wahrnimmt, sondern auch dem Umstand, dass objektiv auf dem Seziertisch eine Verkehrung stattfindet. Es liegt da nahe, die Nähmaschine als Symbol für die phallische und verführende Mutter und den Regenschirm als Symbol des in passive Stellung gedrängten Sohnes aufzufassen; eine Deutung, die auch einzig in den Kontext einer homosexuellen Beziehung passt.
Die widersprüchlichen Merkmale des Regenschirms, der hier sowohl männliche wie weibliche Eigenschaften hat, lassen sich dann zu einer sinnvollen Gestalt zusammenfügen. Zunächst drückt der Schirm die Männlichkeit des Sohnes (Erektion) aus. Dann aber auch deren Bedrohung und schließlich die Abwehr derselben. Beides verweist aber auf weibliche Züge. Sowohl die Kastrationsangst infolge der (realen oder phantasierten) Verführung durch die Mutter, die das Glied des Sohnes verkümmern lässt, so dass es nur noch ornamentalen Charakter besitzt wie die Schirmspitze, als auch die Abwehr dieser Drohung schreiben ihm den weiblichen Part zu. Ja, die Abwehr besiegelt geradezu diese Inversion: Das den Regen Abwehrende, der runde Stoff, wird zum Empfangenden.
Das Ein- und Ausfahren der Nadel der Nähmaschine ist analog dem verborgenen, aber bedrohlichen Phallus der Mutter. Auf dem Boden der ödipalen Problematik wird diese Szene in ein homosexuelles Verlangen transformiert. Die vormals auf das Subjekt bezogene Kastrationsdrohung wird im Zuge der Identifikation mit der Mutter auf das Objekt verschoben und die Angst in Aggressivität und den Tötungswunsch umgewandelt. In Gestalt Maldorors identifiziert sich Lautréamont mit der phallischen Mutter, die ihn in Gestalt Mervyns verführt.(Schon Julia Kristeva wies auf die Problematik der phallischen Mutter bei Lautréamont hin und bemerkte, dass bei ihm »le sadisme remplace l´amour« [Julia Kristeva: La Révolution Du Langage Poétique. L’avant-garde à fin du XIXe siècle: Lautréamont et Mallarmé. Paris: Seuil 1974, S. 493]. Die Sphinx ist die klassische Gestalt der phallischen Mutter [vgl. Claude Lévi-Strauss: La Structure des Mythes. Anthropologie structurale. Paris: Plon S. 237f; deutsche Ausgabe Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 236].) Die homosexuelle ›Perversion‹ reproduziert in verkappter und abgeschwächter Form den weitaus verwerflicheren Mutter-Sohn-Inzest. Die Aufhebung der sozialen Ordnung, die mit dem Inzest einhergehen würde, bleibt imaginär und verdrängt, nicht ohne sich in einer individuellen Abweichung in Form psychosexueller Pathologie und dem umstürzlerischen Habitus Maldorors Ausdruck zu verschaffen. (Das Anarchische und Pubertäre ist ein allgemeines Merkmal surrealistischer Ästhetik, besonders ausgeprägt bei Salvatore Dali. Ich danke Matthias Kettner für diesen Hinweis. Zum pubertär-adoleszenten Gestus der Rebellion bei Lautréamont vgl. Bachelard a.a.O. S. 60ff.)
Die Deutung des sich jedem Verstehen zunächst sperrenden Textes gelang, nachdem wir als erstes die Signifikanten, also die sinnlich wahrnehmbare Seite der Zeichen untersuchten. Rein lautliche Ähnlichkeiten, die an sich noch keine Bedeutung haben, stellen einen Verweisungszusammenhang her, der dann im Laufe der Analyse mit Sinn und Bedeutung gefüllt werden kann. Gerade in der Dichtung wird diese Seite der Zeichen besonders deutlich. Die Zeichen erscheinen wie Dinge anstatt sie zu repräsentieren. Dieses Streben der Dichtung zur Autonomie des Ausdrucks hat Roman Jakobson mit Hilfe von linguistischen Kategorien strukturell zu bestimmen versucht. Die ›Einstellung auf die Botschaft‹ unter Abstraktion von den kommunikativen und referentiellen Bezügen als das Ziel jeder Dichtung, erfolgt durch die Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. (Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1964). In: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 94) Die lineare und nicht umkehrbare sequenzielle Struktur sprachlicher Ausdrücke wird überdeterminiert durch ein System von Äquivalenten und Analogien. Die Ähnlichkeit wird zum Konstruktionsprinzip der Sequenz und nicht mehr nur grammatische Regeln. (A.a.O., S. 95)
Die phonologische Betrachtung brachte uns auf die Spur, die das System der latenten Bedeutungen in des Dichters Sprache hinterlassen hat. Die manifeste Ähnlichkeit des Ausdrucksmaterials markiert einen grammatischen Unterschied, der dadurch erst hervortritt. Die Analyse zeigt dann auch auf der Ebene der Signifikate diese Opposition von äußerlicher Ähnlichkeit und funktionalem Gegensatz:
machine coudre | aldoror | |
à | M | |
par pluie | ervyn | |
(Homomorphie) | (Homosexualität) | |
--------------------- | = | ----------------------- |
(Substitution) | (Inzest) | |
Natur durch Kultur | Vater durch Sohn |
»die lautliche Äquivalenz, die als konstitutives Prinzip auf die Sequenz projiziert wird, zieht unweigerlich semantische Äquivalenz nach sich.« (a.a.O., S. 108)
Dem wiederkehrenden a-Laut entspricht die phallische Bedeutung von Nadel und Schirmspitze. Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Die Identifikation mit dem Vater, der Wunsch nach Aneignung seines Phallus und nach Einnahme seiner Gattenrolle in Bezug zur Mutter, wie sie in der homosexuellen Objektwahl symbolisch endlos reproduziert wird, ist durch die Substitution des Vaters durch den Sohn natürlich dessen Selbstzeugung. Die Operation auf dem Seziertisch wiederholt als wissenschaftliches Experiment die von Lévi-Strauss als Thema des Ödipusmythos’ aufgezeigte autochthone Geburt des Helden. Modell des nicht-menschlichen Ursprungs des Menschen ist im Zeitalter der Technik nicht mehr die wachsende Pflanze, sondern die Maschine. Mit Hilfe von Wissenschaft und Technik ersetzt der Mensch die Natur und schließlich den Schöpfer. Der Mensch zeugt sich selbst. In diesem Sinne bemerkt Nesselroth: »Die Metaphern in den Gesängen betreiben nicht die Zerstörung des Ichs, sondern sind Schritte hin zur Schaffung der Person. Lautréamont wird der Schöpfer von Isidore Ducasse, d.h. sein eigener Vater.« (Peter W. Nesselroth: Lautréamont’s Imagery. A stylistic approach. Geneve: Droz. 1969, S. 120f. – Übersetzung des Autors)
Nesselroth sieht auch einen Zusammenhang zwischen der oft wissenschaftlichen Ausdrucksweise und der dazu in Kontrast stehenden Unverständlichkeit des Lautréamontschen Stils. Die Konstruktion der Metaphern hat mit den tabuierten und ins Unbewusste verdrängten Thematiken zu tun, die Lautréamont durch seine Poesie bannen will.
»Die Gewalt des Tabu-Themas wird gebrochen durch die wissenschaftliche Begrifflichkeit, deren komische Obertöne den Eindruck schwarzen Humors erwecken mögen. (...) Weil der wissenschaftliche Ausdruck vor dem Inhalt rangiert, hat das einen mystifizierenden Effekt, der augenblicklich durch den Inhalt aufgeklärt wird. Der Leser merkt dann, daß das, was er als Unsinn abwies (weil der Genauigkeit der Bezeichnung nichts Seiendes entspricht), im Grunde eine angemessene Analogie ist.« (a.a.O., S. 65f.)
Das Bild von der zufälligen Begegnung auf dem Seziertisch spielt ironisch darauf an, dass jedem wissenschaftlichen Experiment auch etwas von amateurhafter Bastelei anhaftet; dass die Wissenschaft dem wilden Denken des Mythos, dem sie entstammt, nicht zu entrinnen vermag. In der Metapher gelangt Verdrängtes zum Ausdruck. Daher das Spiel zwischen Begriff und Bild des Schönen, Diskurs und Mimesis. Die Strophe ist einerseits grammatisch völlig korrekt und die Signifikanten suggerieren eine exakte und kalte wissenschaftliche Rationalität; andererseits scheint die Verknüpfung selbst unlogisch und irrational und einen die Normalität schlagartig transzendierenden, poetischen Effekt hervorzurufen. Was sich da, wie in jeder Dichtung, zuträgt, ist die sich am Individuum wiederholende Genese der Sprache.
Über den Ursprung der Sprache sagte schon Rousseau: »Da die ersten Motive, die den Menschen zum Sprechen veranlaßten, Leidenschaften waren, wurden seine ersten Äußerungen Tropen. Die figurative Sprache entstand als erste, der eigentliche Sinn wurde zuletzt gefunden. Man nannte die Dinge erst bei ihrem wahren Namen, wenn man sie in ihrer wirklichen Gestalt sah. Zuerst sprach man nur dichterisch; und erst lange danach verfiel man darauf, nachzudenken. – Umfassende Begriffe, welche die Wahrnehmungsgegenstände und die Emotionen, die sie wachrufen, in einer Art Überwirklichkeit verschmelzen, sind also der analytischen Reduktion im eigentlichen Verstande vorausgegangen. Die Metapher (...) ist keine nachträgliche Verschönerung der Sprache, sondern eine ihrer grundlegenden Ausdrucksweisen.« (Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus. Frankfurt /M. 1965, S. 132. Dort findet sich auch das Rousseau-Zitat)
Die Zeichen sind Folge der Leidenschaften, Ausdruck der Kultivierung der menschlichen Natur, von Triebschicksalen, wie es Freud nannte. Das Unternehmen der Kultur wäre aber ohne das Inzestverbot undenkbar, das Lèvi-Strauss die Kultur selbst nennt. Der Ödipuskomplex als die Kehrseite des Inzestverbots ist nun aber nichts anderes als das Gesetz der Subjektwerdung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir in der Analyse auf die ödipale Problematik als eine Motivierung des sprachlichen Bildes gestoßen sind: Der Seziertisch symbolisiert den Vater und dieser das Gesetz, die symbolische Ordnung. Im Waschzettel der deutschen Ausgabe von Le Regard éloigné heißt es dunkel, in der »sphinxhaften ästhetischen Tausch-Formel der Moderne, der ›Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch‹ (...) (findet) der eingeschränkte Tausch zwischen Frauengebern und – nehmern, das große Thema von Lévi-Strauss’ epochemachendem Frühwerk Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (1949), ... hier zu seinem Begriff und zu seiner augenfälligsten und souveränsten Analogie.« Ich habe versucht, dieser rätselhaften Bemerkung etwas Sinn abzugewinnen.
(Der Text entstand als Selbstverständigung über die strukturale Analyse irgendwann Mitte der 1980er Jahre und diente als Grundlage für eine Sitzung im Rahmen des legendären Forschungspraktikums, das Ulrich Oevermann donnerstags im Kreise seiner Eleven abzuhalten pflegte und an dem ich die Ehre und Freude hatte teilnehmen zu dürfen.)