Renate Solbach: Brechung

I.

Zweideutig die Zahl,
weiß www. enzyklopädisch
die Quelle allen Wissens, total.
Weiß der user consumer follower
ganz beglückt noch vom Glanz
der bunt beschäumten Kiesel am Strand
von Patmos. Nun aber längst über Grönland.
Und planetarisch besorgt beim Blick aus der Boeing
auf milchgrüne Seen, schwärzliche Schneisen im Eis.
Und bewusst der Gefahr ohne Grenzen for humankind

auf dem Campus geschlechtslos verlinktvereint
von Berkeley und Brisbane, Bologna und Potsdam.
Die Welt gezeichnet von Kriegen, Phobien, Asymmetrien.
Die Zeit gefangen womöglich im Unheil der Ziffern.
Apocalypse now come sooner or later
maybe in global village be happy
kündet und lächelt His Holiness youtube der Lama.
Nur der vergibt noch unsre Schuld.
Mit Zimbeln und Glöckchen, Gesang
und Spiel voller Zeichen und Zahlen.

II.

Eindeutig die Zahl
zu Zeiten der Unschuld.
Da erzählten Gebrüder von sieben
Teufeln, Zwergen und Geißlein, von Kuchen und Wein.
Die Plätzle mit Wein bei uns gibt’s zu Weihnacht.

Vom Pfarrer hör ich noch andre Geschichten.
Im Anfang, am siebten Tag. Vergeben sieben mal siebzig Mal.
Sieben gute, sieben schlechte Jahre, dieselbe Zahl.
Gewitter und Hagel gehören zum Wingert; vernichten
am End noch den ganzen Jahrgang.

Des Abends hör ich die Turmuhr, da kommen
vom Wingert zurück die Männer, oft später, im Sommer.
Im Frühjahr um sechs schon, bei Regen.
Und im Herbst, bei frühem Frost. Im Feber,
noch Schnee, geht’s hinauf zum Rückschnitt der Reben.

III.

70 nach Christus zerstörte Titus
triumphreich den Tempel der Juden.
Weiß, hört der Junge, der sieht schlecht,
in seiner Schule. Das Siebengestirn,
des nachts so hoch und schwach überm Wingert,
heißt Septentriones. Kannt’ er aus dem Kalender.

Dass er heimkam, davonkam, die andern
geblieben. Das war so. –– Es war,
es war zu erklären der Wahn des Narziss,
des Jahrhunderts. Material en masse,
prefab Konzepte, zuweilen tauglich.
Abträglich aller Routine die Materie.

IV.

Septuaginta. History’s all hermeneutics you know.
Siebzig Gelehrte gingen ans Werk,
übertrugen das ältre Buch,
all die Geschichten, Sprüche und Lieder des Volkes
in die Sprache der hellenischen Weisheit –
with a shot of metaphysics maybe –
in siebzig Jahren.

Septuaginta. Wann erstmals vernahm ich
den Wohllaut des Zahlworts, den Klang der Kadenz?
Aus den Versen des Beters? Definitely not.
Im Lande Luthers spricht Deutsch der Dichter.
Unendlich fern klangen die Worte vom Leben
das da währet siebzig Jahr. Was war
köstlich an der Mühsal der Alten im Weinberg?

Septuagenarian. Von Weisheit, vom Wissen der Alten,
wollen nichts wissen, sie, die nachkommen. Die Jungen
sans merci. Die Klage des ältren Cato, war’s der Jüngre?
Wir sind für Sie da. Der Frohsinn im Flyer. Die Alten,
sie notieren die Sprüche, Gebrechen, die Klagen
der andern, vergleichen, eh sie verstummen. Sie stehen,
siebzig Jahre verlebt, vor den alten lästigen Fragen.

V.

Sie vernehmen statt Antwort das Klappern
der neuen Gebetsmühlen. Global commitment.
Deep dive. There is no alternative.

Perfekte Performance im Präsens.
Wo das Rettende nachwächst, das weiß www.
allein der Gott. Maybe.

 

Für den Freund Eugen zum siebzigsten Geburtstag

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