Sinn und theoretischer Status der Sozialontologie
Gegenwärtig wird fast jeder theoretische Erkenntnisgewinn in der jeweils gewünschten Richtung als methodisches Gebot und als Resultat der Logik des Verfahrens ausgegeben. Dabei dient die Berufung auf die Methode dazu, inhaltlich bereits getroffene Vorentscheidungen im Hinblick auf die Interpretation etwa eines historischen und soziologischen Stoffes zu stützen. Doch aus der bloßen Anhäufung von einzelnen empirischen Daten, die dann auf der Grundlage eines methodischen Verfahrens zu einem einigermaßen kohärenten Begriffssystem mit Anspruch auf Allgemeingeltung gebündelt werden, kann keine Wissenschaft entstehen. Denn der Einsatz einer bestimmten Erkenntnisweise und die Anwendung einer bestimmten Methode setzen bereits inhaltliche Überzeugungen über die Beschaffenheit der (physikalischen oder geschichtlich-sozialen) Welt voraus.
Dies gilt auch für die innere Logik und Gesetzmäßigkeit der Natur innerhalb der neuzeitlichen Naturwissenschaft. (Übrigens bildete sich diese Überzeugung in der Polemik gegen die antik-christliche Überzeugung von der ontologischen Minderwertigkeit der sinnlichen Welt heraus.) Also werden durch den Rückgriff auf erkenntnistheoretische und methodologische Einsichten theoretische Entscheidungen objektiviert, so dass noch vor Anwendung der Methode die angenommenen inhaltlichen Überzeugungen als notwendiges Ergebnis der richtigen Anwendung der methodischen Verfahrensregeln hingestellt werden. Auf diese Weise werde Methode, wie Kondylis anmerkt, zur prospektiven und faktisch retrospektiven Rationalisierung der eigenen Forschungspraxis.
Tatsächlich müssen Ergiebigkeit und Richtigkeit des Verfahrens stets nach der Stichhaltigkeit der Resultate beurteilt werden. Die Notwendigkeit der Bestätigung des Erkenntnisverfahrens durch dessen inhaltliche Ergebnisse deutet an sich schon darauf hin, dass jede Erkenntnis- und Methodenlehre ihre inhaltlichen Pendants und Voraussetzungen hat. Deshalb führt die Bindung der Methode an inhaltliche Positionen oder Vorentscheidungen ihrerseits dazu, dass die Methode jene Inhalte bestätigen muss, mit denen sie sich ursprünglich verbunden hat.
Welches Weltbild konstituiert nun bei Kondylis den Rahmen, innerhalb dessen die methodischen Regeln zur Anwendung kommen? Welche weltanschaulichen Elemente bilden das Fundament, genauer gesagt: die axiomatischen bzw. ontologischen Grundlagen seiner Theorie?
Seine Grundhaltung lässt sich als historischer Relativismus kennzeichnen. Diese historisch relativistische Grundeinstellung bedeutet die Anerkennung der praktisch-normativen und theoretisch-funktionellen Gleichberechtigung aller geschichtlichen Formen menschlichen Zusammenlebens und aller Menschenbilder, die sich sozial lebende Menschen über ihre Mitmenschen, über den Charakter, die Möglichkeiten und die Grenzen des menschlichen Wesens und Handelns machen. Diese relativistische Grundhaltung erklärt auch Kondylis‹ Stellung innerhalb der wissenschaftlichen Tätigkeit im Allgemeinen. Er will Beobachter der menschlichen Dinge sein, ein Analytiker menschlichen Verhaltens in konkreten Lagen. Der wissenschaftliche Beobachter der situation humaine bedarf eines Außenpostens, der ihm die Betrachtung seines Gegenstandes aus dem gewünschten relativistischen Blickwinkel erlaubt.
Diese besondere Perspektive ist bei Kondylis der Einheitsgedanke. Dessen theoretische Umsetzung bildet die Fachdisziplin »Sozialontologie«. Doch das bedeutet gerade nicht, dass menschliches Verhalten aus der Sicht der Philosophie, der Politik, der Soziologie etc. erfasst werde. Vielmehr gilt umgekehrt: Es soll die Einheitlichkeit der Grundstrukturen des menschlichen Verhaltens und die innere Logik seiner Entfaltung in allen Bereichen sozialen Handelns, des philosophischen, religiösen, geschichtlichen, sozialen oder politischen erkennbar gemacht werden. Denn der Mensch verhält sich in der Perspektive von Kondylis‹ Sozialontologie grundsätzlich stets gleich, egal wo auch immer er aktiv ist.
Jede sozial-geschichtliche Situation hat zwei Aspekte, und in jeder vollzieht sich das Menschliche in seiner strukturellen Totalität. Dies geschieht aber im Zeichen normativer Überzeugungen, die relativ und vergänglich sind. Dieser Doppelaspekt der Situation ist freilich keine heuristische Annahme, die noch der empirischen Bestätigung harrt. Vielmehr stellt er eine uralte Erkenntnis dar, über die alle Kulturen verfügen und die durch das Studium auch ältester Texte rekonstruiert werden kann. Das Wissen um die Doppelseitigkeit der Handlungssituation kann »das elementare Gefühl erklären, wie es denn damit sei, dass ständig Neues in einer Welt geschehe, die doch so alt und irgendwie vertraut anmutet.« (P.K., Sozialontologie, SO 194)
Bestimmte Muster menschlichen Verhaltens sind in der Geschichte weitgehend stabil geblieben, während sich die jeweils herrschenden Ideologien und Ethiken inhaltlich immer wieder verändert haben. Die Stabilität der Verhaltensmuster verweist auf eine Tiefenschicht von universellen menschlichen Anlagen, während die inhaltliche Veränderbarkeit sozialer Werte, Normen, Ideen und Ideologien auf der Ebene der sich unausgesetzt vollziehenden gesellschaftlichen Tätigkeit auf die Bedeutung der sozialen Interaktion für den inhaltlichen Reichtum der menschlichen Denkprodukte hinweist. Es ist die Ebene der Sitten und Institutionen, der Rituale und Weltanschauungen. Der Gesichtspunkt der Einheitlichkeit meint hier, die anthropologisch gegebenen formalen Variablen seien offenbar so beschaffen, dass bei gleichbleibender Form und Funktion die Besetzung durch Inhalte offen bleibe. (SO 618ff.) Aus diesen Überlegungen wird ersichtlich, dass die Sozialontologie vom langsamsten Zeitfluss handelt, den die menschlichen Dinge kennen, während die Ebene der sich rasch ändernden Inhalte Sache der Geschichtswissenschaft und der Soziologie ist. »Auf der Ebene der Darstellung und der begrifflichen Erfassung [..] steht gleichsam die Zeit still.« (vgl. SO 194)
Geht man von einer in diesem Sinne verstandenen Einheitlichkeit des menschlichen Verhaltens aus, so könnte man sich einer einheitlichen Begrifflichkeit bedienen und die Grenzen der verschiedenen theoretischen Disziplinen sprengen, indem man sie gleichsam von außen betrachtet. Es ist nun die Frage, welche Begriffe auf dieser theoretischen Metaebene verwendet werden sollen: Woher soll eine Ontologie des Sozialen ihre Begriffe nehmen? Die zentralen Begriffe der Sozialontologie sind in der Regel solche, die mehr oder weniger in allen Wissenschaften vom Menschen geläufig sind.
Das ›soziale Sein‹ als Gegenstand der Sozialontologie
Die Sozialontologie befasst sich mit dem Sein der Gesellschaft unter dem spezifischen Gesichtspunkt des Sozialen. Wie das Sein der Welt den absoluten Anfang der philosophischen Ontologie bildet, so ist das Sein der Gesellschaft der absolute Ausgangspunkt (das ›Urfaktum‹) der Wissenschaft Sozialontologie. Das Sein der Gesellschaft ist begrifflich umfangreicher als das soziale Sein. Denn dieses enthält nicht alles, was zum Sein der Gesellschaft gehört, vor allem nicht das, was die materiellen Voraussetzungen des Seins des Sozialen ausmacht. Sozialontologie stellt die begriffliche Rekonstruktion des sozialen Seins dar. Dieses lässt sich in seiner Totalität durch drei analytische Kategorien erfassen, (sozialontisch: Kräfte oder Faktoren.) Es sind dies die soziale Beziehung, die Anthropologie und das Politische. Dies erklärt sich dadurch, dass alles Geschehen in einer Gesellschaft, also das soziale Geschehen, über sichtbare und unsichtbare zwischenmenschliche Beziehungen abläuft und durch die Dynamik dieser Beziehungen entsteht. Also lässt sich Gesellschaft sozialontologisch als ein Geflecht von sozialen Interaktionen begreifen. An der sozialen Beziehung nehmen Menschen teil, und somit stellt sich die Frage für die Anthropologie nach deren »Wesen«. Das Politische bildet jene soziale Beziehung, die die Frage nach dem Zusammenhalt und der Ordnung der Gesellschaft stellt. Die Konkretisierung bzw. inhaltliche Bestimmung der formalen Begriffe »Zusammenhalt« und »Ordnung«, ist eine sozialgeschichtliche Frage – Politik im Gegensatz zum Politischen.
Eine Disziplin befasst sich nicht mit allen Erscheinungen eines ontischen Gebietes, sondern muss sich innerhalb davon einen engeren Bereich suchen, der dann als ihr eigentlicher gelten soll. Der Stoff der Sozialontologie unterscheidet sich ontisch kaum vom Stoff anderer Humanwissenschaften. Die Grenzen sind hier nicht ontischer, sondern kognitiv-epistemologischer Art. (vgl. SO 184ff, 196ff.)
Die Wahl eines jeden spezifischen Gebietes ist unumgänglich mit inhaltlichen Aspekten und Implikationen verbunden – was ja für alle methodologischen Überlegungen gilt. (s.o.)
Die inhaltliche Grundvoraussetzung oder -hypothese der Sozialontologie ist die absolute Offenheit und Plastizität des sozialen Seins. Die Annahme eines so oder so beschaffenen sozialen Seins hat übrigens sein Common Sense Äquivalent: Jeder Mensch lebt in Gesellschaft und handelt aufgrund einer mehr oder weniger bewussten, mehr oder weniger ausgearbeiteten allgemeinen Theorie von der Beschaffenheit der sozialen Realität: Sie ist ein offenes Feld von Handlungsmöglichkeiten, dessen beide Pole (sinnhaftes Selbstopfer und sinnhafte Fremdtötung) beispielhaft die Unberechenbarkeit oder absolute Wandelbarkeit der Subjektivität des Anderen in Reinform zeigen. Kein Mensch muss müssen; es gibt keine Lage, der sich der Mensch beugen muss, wenn er den Tod in Kauf zu nehmen bereit ist. »Das Subjekt kann [..] sogar zwischen Sein und Nichtsein wählen.« (SO 311) Diese grundsätzliche Unberechenbarkeit und Undurchdringlichkeit des Anderen durch Ego ist der tiefere Grund für das Misstrauen des Subjekts in die großen Systeme der Kultur und die Alltags- oder Kulturnormen, so dass es, um der Unberechenbarkeit der Subjektivität und der Unwägbarkeit der sozialen Umwelt einigermaßen Herr zu werden, ein eigenes Beobachtungssystem entwickelt.
In der engeren Perspektive des »wissenschaftlichen Interesses« könnte die Annahme von der Offenheit und Unberechenbarkeit des sozialen Geschehens durch noch ungelöste oder unbefriedigend gelöste theoretische Probleme nahegelegt werden. Dem Forscher können sich bei seiner intensiven Beschäftigung mit historischen und soziologischen Problemen Fragen aufdrängen: Weshalb können Geschichtswissenschaft und Soziologie keine Gesetze als feste und überall gleich wirkende Rangordnung kausaler Faktoren aufstellen? Warum sind historische oder soziologische Regelmäßigkeiten nicht für den Einzelfall verbindlich und daher praktisch nutzlos? Warum greift die Praxis dieser Disziplinen aus Erklärungsnot zu Aussagen, zu denen sie durch ihre eigenen Begriffe oder ihre Grundlegungslogik keineswegs berechtigt ist, indem sie z.B. diesen oder jenen Krieg auf die »menschliche Natur« zurückführt? (SO 185f.)
Man könnte die Lösung dieser und ähnlicher Probleme in der Aufstellung einer allgemeinen Theorie des Sozialen sehen, die dadurch entstünde, dass man alle Begriffe, die den gemeinsamen Nenner aller Sozialwissenschaften (z.B. »menschliche Natur«, Handeln, Sinn, Verstehen, Rationalität etc.) abgeben, der Zuständigkeit der Sozialwissenschaften entzöge und ihre Behandlung der Theorie des Sozialen übergäbe. Nach ihrer Bestimmung als sozialontologisch universelle Formalien könnten die einzelnen Disziplinen dann auf jenen Teil dieser Formalien zurückgreifen, auf den sie durch die Logik ihrer Grundlegung legitimen Anspruch hätten. Der neue theoretische allgemeine Rahmen wäre nach dem Gesagten nicht die Umschreibung einer allumfassenden Gesetzmäßigkeit, sondern die ideelle formalisierte Summe der Schilderungen aller sozialen Handlungen, also der Rahmen, innerhalb dessen sich kollektives und individuelles, jedenfalls soziales Handeln bewegt. »Das soziale Sein als Gegenstand der Sozialontologie besteht aus jenen Faktoren oder Kräften, die keine Verfestigung des sozialen Seins und somit keine kausal oder emanatistisch hierarchisierte Fassung von ihm gestatten.« »Sozialontologie bietet kein oberstes oder ausschließliches inhaltliches oder normatives Kriterium zur Betrachtung menschlicher Gesellschaft und Geschichte, sie liefert nur jene Grundlagenanalyse, aus der hervorgeht, warum die Aufstellung eines solchen Kriteriums unmöglich ist.« (SO 186)
Dieser Rahmen bzw. das Gebiet der Sozialontologie enthält also alles, was sich als Aspekt oder Bestandteil des Faktums der Gesellschaft denken lässt. Somit gehören Individuum, individuelles sowie kollektives Handeln zu ihrem theoretischen Kern. Die Sozialontologie geht vom Faktum des gesellschaftlichen Seins aus, sie arbeitet ihre begrifflichen Festlegungen vor dem Hintergrund einer bereits existierenden Gesellschaft heraus. Die Verwechselung von »sozial« und »sozialisiert« und das Zusammendenken von »sozial« und »kollektiv« ergeben für sie keinen Sinn. »Das Individuum existiert nicht mit der Gesellschaft zusammen, sondern in Gesellschaft« (SO 200) Soziales und Individuelles sind keine Gegenbegriffe, das Soziale erschöpft sich nicht im Kollektiven, sondern Individuelles und Kollektives sind Erscheinungsformen des Sozialen. Das Handeln eines Individuums kann nicht kollektiv, doch es muss ebenso wie Kollektives sozial sein. (vgl. SO 200)
Die Aufgabe der Sozialontologie
Zur Aufgabe der Sozialontologie gehören 1. Biologie, Cognitive-Emotional Neuroscience, Verhaltensforschung, Psychologie, 2. sozialontologische Anthropologie, 3. Sozialwissenschaften (Geschichte, Soziologie). Die Sozialontologie vermittelt zwischen den Ebenen 1 und 3; sie stellt das Bindeglied von 1 und 3 in der Überzeugung her, der Sprung von Ebene 1 auf Ebene 3 stelle keine theoretische Schlussfolgerung dar, obwohl die erste Ebene die dritte gattungsspezifisch determiniert. Denn es ist die besondere biophysische Konstitution, welche die Grundlage für die Entstehung des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens liefert: Eine ganz bestimmte und besondere biologische Struktur ermöglicht die Mannigfaltigkeit der Verhaltensarten, die eine Gesellschaft von Menschen charakterisieren. Die Vielfalt von Interaktionsformen des Menschen ist in diesem Sinne eine Funktion seiner Biostruktur, insofern diese der Gattung ausschließlich erlaubt, sich innerhalb der gegebenen (biologischen) Grenzen zu bewegen. Die biologischen Grundfunktionen (Selbsterhaltung) mussten bei der Bildung des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens durch spezifische Lösungen (Symbol, Sprache, Kultur allgemein) ergänzt werden. Dabei tritt die soziokulturelle Selektion an die Stelle der natürlichen, doch beide bedingen einander; Kultur (z.B. Herstellung von Werkzeugen, Bildung von sozialen Organisationsformen) läuft parallel zur biologischen Vervollkommnung wie der Gehirnentwicklung. Kultur ist mit Natur und Natur mit Kultur durchtränkt. (s.u.) Das soziale Sein bzw. die Gesellschaft überhaupt bildet, wie gesagt, den spezifischen Untersuchungsgegenstand der Sozialontologie. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die inhaltliche Erscheinung und Wandlung aller menschlichen Denkprodukte auf eine Ebene zurückzuführen, die allen Menschen aller Kulturen und Zeiten gemeinsam ist. Es ist die erste Ebene, die der (formalen) sozialontologisch-anthropologischen Konstanten.
Der Gedanke dahinter ist folgender: Es besteht kein Zweifel an der ubiquitären Geltung menschlicher Verhaltensschemata, die die Fachdisziplinen der ersten Ebene aufstellen. So bezieht sich z.B. das Grundschema Stimulus – Reaktion der behavioristischen Psychologie auf eine überall anzutreffende anthropologische Tiefenschicht. (SO 72f.) Doch von dieser Tiefenschicht aus ist der Sprung auf die inhaltlich veränderliche Ebene der geschichtlichen und soziologischen Begrifflichkeit nicht möglich – trotz Anerkennung ihrer Selbständigkeit und Unentbehrlichkeit seitens der (behavioristischen) Psychologie. Denn der Behaviorismus postuliert eine eindeutige und permanente Beziehung zwischen Stimulus und Reaktion, und deshalb ist er nicht imstande, »die Faktoren namhaft [zu] machen, die, über die Gleichförmigkeit der verhaltensmäßigen Wirkung von Werten hinaus, den Wandel des Inhalts von Werten als solchen bedingen.« (SO 73) Die Sozialontologie erarbeitet die Mechanismen der sozialen Interaktion, indem sie die Koeffizienten des inhaltlichen Wandels zunächst unabhängig vom historisch erfassbaren Inhalt der jeweiligen Werte, aber vor dem anthropologischen bzw. sozialontologischen Hintergrund ausreichend beschreibt und formalisiert. Das behavioristische Schema dagegen kann trotz universeller Geltung nicht als Erklärungsschema spezifisch gesellschaftlicher Phänomene dienen, weil es methodisch einen individualistischen Ausgangspunkt hat. »Je mehr der Mensch als isoliertes Individuum betrachtet wird, desto tiefer können jene Faktoren in seine Beschaffenheit gesetzt werden, die zur Erklärung seines Verhaltens angeführt werden, desto höher wird m. a. W. die biologische Dimension veranschlagt.« (SO 73)
Verhalten und Handeln
Die begriffliche Trennung von Verhalten und Handeln setzt an der Dichotomie Tier – Mensch an, was direkt auf den anthropologischen Charakter des Handelns hinweist. Das Diktum von Aristoteles »Tiere handeln nicht« gehört zum kulturellen Bestand aller Kulturen und Zeiten, denn darin drückt sich das Selbstverständnis der Gattung als animal rationale aus. Zum Verhalten gehören äußere Akte, die man nicht dem Handeln gleichsetzt, weil man mit ihnen keinen inneren reflexiv-sinnhaften Akt, also keine Absicht verbindet. Handeln ist immer auch Verhalten, aber Verhalten nicht immer notwendige Begleiterscheinung eines Handelns. Menschliches Handeln ist danach ein Verhalten aufgrund von Absichten, zu deren Realisierung zweckmäßige Entwürfe dienen. (SO 444f.)
Man kann das Verhältnis von Verhalten und Handeln schematisch durch zwei konzentrische Kreise wiedergeben; der große Kreis symbolisiert dabei die Summe der Verhaltens- und Handelnsschichten (also den Menschen als handelndes Wesen bzw. seine Gesamtintentionalität), der innere symbolisiert die Verhaltensschichten bzw. das Triebhafte und Affektmäßige. Der daran sich nach außen anschließende Flächenring zeigt das Gebiet reflektierter Handlungsmotive und höherer rationaler Leistungen, also das Gebiet des eigentlichen Handelns oder sinnhaften Verhaltens. Die Kreislinie des inneren Kreises ist als Reflexivitätsfilter vorzustellen, der, einer biologischen Zellmembran vergleichbar, in beiden Richtungen und in verschiedenen Graden durchlässig ist (Osmose). Extreme Durchlässigkeit nach außen würde absolute Herrschaft von Trieben und Affekten als Bestimmungsfaktoren des Handelns bedeuten, extreme Undurchdringlichkeit dagegen die Alleinherrschaft der rationalen Bestimmungsfaktoren des Handelns. Im sozialen Leben ausschlaggebend sind Misch- und Koexistenzformen des Handelns. Folglich wird sowohl jedem Idealismus einer dualistischen Anthropologie (der rationale Akteur ist als Herr seiner Triebe und Affekte zu denken) als auch einseitigen triebpsychologischen Anthropologien (der Mensch als Spielball von Trieben und Affekten) ein Riegel vorgeschoben. (SO 577)
Die Sozialontologie setzt bei einer bereits vorhandenen Gesellschaft an. Als deren Mitglied steht der Mensch gleichsam unter dem Gebot, für all sein Tun sinnhaft-rationale Gründe anzugeben, zu finden oder zu erfinden. (SO 561f.) Die Sinndimension des Sozialen verlagert den Bezugsrahmen des Menschlichen vom Biologischen aufs Ideelle, es kommt also durch die Vermittlung des sozialen Lebens zu einer neuen Bestimmung von Begriffen wie dem der Selbsterhaltung. So kann an die Stelle der biologischen Selbsterhaltung die idealisierte treten, die das physische Selbstopfer der ideellen Selbsterhaltung zuliebe verlangen kann. Der Sinn- und der Rationalitätsbegriff sind im Rahmen des Sozialen gleichwertig: Nach der erfolgten Erweiterung des Selbsterhaltungsbegriffs innerhalb der Kultur übernimmt die Rationalität die Aufgabe, Sinn konsistent und wirksam zu artikulieren. An dieser ubiquitären Funktion der Rationalität wird offenbar, dass sie anthropologisch so weit zurückreicht wie der Sinn selbst. (SO 561) Die so definierte Rationalität bedeutet ihre Erweiterung über das Zweck-Mittel Schema hinaus und ermöglicht eine Aufnahme des »Irrationalen« (aufgrund triebhafter Impulse) in die Sozialontologie, ohne ihre epistemologische Geschlossenheit zu verletzen. Der sozial lebende Mensch steht nämlich unter dem Druck, seinem Verhalten nach innen und nach außen einen Sinn zu geben, wenn er ernst genommen werden will. Der Zwang zur Sinnhaftigkeit des Handelns lässt sich auch als Rationalitätszwang verstehen, wie es im Selbstverständnis der Gattung Mensch als animal rationale zum Ausdruck kommt. Innerhalb des sozialen Lebens nimmt die Rationalitätsannahme die Gestalt des Rationalisierungsdruckes oder Objektivierungszwanges an. (SO 569ff.)
Rationalisierung ist die Legitimierung durch Rationalität (oder durch Sinn). Es wird also ein psychischer oder theoretischer Stoff in der Weise gedanklich bearbeitet, dass die jeweiligen Einstellungen und Handlungen als Ergebnis der Rationalität erklärt werden können und der Eindruck vermieden werden kann, es handele sich um das Ergebnis von instinktivem Eigennutz. (vgl. SO 563)
Die Funktion der Rationalisierung
Sie dient also zur Grenzverwischung zwischen rationalen bzw. logischen und irrationalen bzw. unlogischen Handlungen und dazu, die unlogischen wie logische erscheinen zu lassen. So wird der »irrationale Trieb« durch Rationalisierung in einen vernünftigen Handlungsgrund umgedeutet. (vgl. SO 563) Der Prozess der Rationalisierung bzw. Objektivierung weist einen Doppelaspekt auf. Er transformiert Wünsche und Neigungen bzw. Affekte in handlungsrelevante Absichten, indem er zugleich die Wirkungen der »irrationalen« Verhaltensschichten aufnimmt bzw. seine »Materie« (auch) aus existentiellen Tiefenschichten bezieht. Zusammenfassend gilt also: Verhalten muss in der Gesellschaft wegen des Rationalitätsdrucks zum Teil durch Handeln verdrängt oder überdeckt werden. Der Rationalitätsdruck in Gestalt des Rationalisierungszwanges bewirkt die Transformation von Wünschen und Präferenzen in Absichten, die durch zweckmäßige Wahl der Mittel auf Basis der Einschätzung der Motive des Anderen durch Ego (also durch Perspektivenübernahme) und der Situation gebildet, den Handlungsentwurf in die Praxis umsetzen. Dieser Vorgang der Rationalisierung beschränkt sich nicht auf das Zweck-Mittel Verhältnis, er erfasst vielmehr Schichten des Bewusstseins, die man in der engeren Rationalitätsauffassung als irrational oder als das Gebiet unkontrollierten Verhaltens bezeichnet. (vgl. SO 577)
Einige begriffliche Festlegungen: Mentale Handlung und Handlung in mente
Sozialontologisch wichtig sind, wie gesagt, diejenigen mentalen Akte, die die Reflektivitäts- oder Handlungsschwelle überschreiten, die also durch reflexive Arbeit als Motiv, Absicht oder Perspektivenübernahme handlungsrelevant werden. Die mehr oder weniger reflexiv gefilterten mentalen Akte können in zwei große Kategorien zusammengefasst werden, nämlich in mentale Handlungen und Handlungen in mente; das sind die mentalen Akte, die mit einem Handlungsentwurf zum äußeren Handeln verbundenen sind. Umfangreicher als diese sind mentale Handlungen, denn sie schließen nicht nur jene ein, sondern auch die reflexiv ungenügend verarbeiteten mentalen Akte, bei denen sich die damit verbundene Intentionalität höchstens als »blinder Wunsch« oder »blinde Aneignung« betätigt, ohne in einen einigermaßen konkreten Handlungsentwurf einzumünden. (vgl. SO 438) Die mentale Handlung bzw. der entsprechende mentale Akt muss keine Handlungen in mente hervorrufen, also ein planendes äußeres Handeln; sie kann folglich an vageren oder konkreteren Handlungsentwürfen vorbeigehen – aber doch nicht gänzlich an der Reflexion. Ähnlich müssen Handlungen in mente bzw. Handlungsentwürfe nicht zum äußeren Handeln führen. Das Ausbleiben der praktischen Umsetzung kann entweder auf reale Hindernisse oder auch auf den anthropologisch spezifischen Überschuss der Entwürfe in mente gegenüber ihren praktischen Umsetzungen zurückgeführt werden. »Dieser beliebig große Überschuss des vorgestellten Handelns gegenüber dem real stattfindenden äußeren bildet eine höchst wichtige Erscheinung, die manchen Zug menschlichen Handelns überhaupt verständlich macht.« (SO 439)
Inneres Handeln und die Aufwertung ihres handlungstheoretischen Stellenwertes durch das Kriterium des sozialen Bezugs
Es stellt sich die Frage, ob es für den Begriff des sozialen Handelns entscheidend ist, dass Handlungsentwürfe andere Subjekte betreffen. Sind reflektierte mentale Akte, die sich zwar auf andere Subjekte beziehen, auch dann als »soziales Handeln« zu bezeichnen, wenn mit diesem Bezug keine Handlungsentwürfe ihres Trägers verbunden sind? (vgl. SO 439) Nach M. Weber gehört die Orientierung an fremdem Verhalten zum Begriff des sozialen Handelns. Das innere Sichverhalten ist soziales Handeln nur dann, wenn es sich am Verhalten anderer orientiert. (M.Weber, Wissenschaftslehre 429f.) Demzufolge sieht es so aus, als werde der sinnhafte Bezug als Merkmal sozialen Handelns nur so weit zur Kenntnis genommen, wie er den äußeren Verlauf des Handelns durch seine Orientierung am fremden Handeln beeinflusst. (SO 439f.) Wenn ein Produzent von Waren sich an den Bedürfnissen Dritter orientiert, die von ihm nichts wissen und von denen er wenig weiß, dann reicht hier der einseitige Sinnbezug zweifellos aus, um den Fall als »soziales Handeln« einzustufen.
Ist aber »soziales Handeln« im Allgemeinen notwendig mit Handlungsentwürfen und äußerem Handeln verbunden? Wenn M. Weber diese Frage bejaht, dann deshalb, weil er die Überlegenheit des zweckrationalen Handelns für eine methodische Notwendigkeit hält. (vgl. SO 490) – Im Rahmen der »Sozialontologie« dagegen muss »soziales Handeln« weder mit Handlungsentwürfen noch mit äußerem Handeln verbunden sein. Denn wenn Gebete in der Einsamkeit an Gott gerichtet werden, dann gehören sie – anders als für Weber – für die »Sozialontologie« sozialontologisch zum sozialen Handeln dazu, da der Betende Mitglied einer religiösen Gemeinschaft ist. Durch seine Anteilnahme gewinnt er seiner sozialen Welt einen Sinn ab, der seine Identität stärkt und sein Handeln sicherer macht. Er grenzt sich durch sein Bekenntnis zu dieser Gemeinschaft vom Nichtfrommen ab, den er nicht für fähig hält, die tiefsten Bedürfnisse seiner Identität zu befriedigen. (SO 440) Der Eremit, der in der Wüste Erlösung sucht und dessen Handeln rein kontemplativ ist, handelt trotzdem sozial, denn Erlösung ist ein Konzept oder Bedürfnis, das nur in menschlichen Gesellschaften entstehen kann. (SO 201) Das Gleiche lässt sich von der Beziehung des Menschen zum Tod sagen; sie hängt wesentlich von seinen Beziehungen zu den Mitmenschen ab, es bestimmt also nicht umgekehrt die Beziehung zum Tod die Beziehung zu den Mitmenschen. (SO 440)
»Soziales« Handeln liegt bereits dann vor, wenn der soziale Bezug gegeben ist – und sei es nur in Gedanken. Handlungsentwürfe und äußeres Handeln sind also keine notwendigen Bedingungen für soziales Handeln. Durch die Berücksichtigung des sozialen Bezugs erweitert sich der Begriff des sozialen Handelns um seinen inneren Aspekt (inneres Handeln). Nachahmung auf breiter Basis, gemeinsames, »reaktiv verursachtes« subjektives Handeln in einer örtlich zusammengedrängten Masse (emotionale Ansteckung) oder allgemein massenpsychologische Erscheinungen sind allesamt Phänomene, die Weber der Zuständigkeit der Soziologie als der Wissenschaft vom sozialen Handeln entziehen wollte. Drei mögliche Typen inneren sozialen Handelns sind:
- Das Phänomen des Unterlassens oder Duldens, das Bewirken also eines Ereignisses durch Unterlassung seiner Verhinderung. Hier liegt ein Fall vor, den Weber zum sozialen Handeln rechnet, wobei die Trennung zwischen Handlungsentwurf und äußerer Handlung als zwei Phasen desselben Vorganges auf die Spitze getrieben wird; die Unterscheidung als Gegensatz-Relation.
- Ein komplementäres Verhältnis, bei dem Handlungsentwürfe, die Enthaltung von äußerem Handeln verlangen, Entwurf und Handeln als Vermeiden der vorgestellten Handlung fallen bereits im Geist des Subjekts zusammen.
- Handlungsentwurf und Handlung verschmelzen deshalb miteinander, weil der mentale Akt selbst bei allem Bezug auf das Verhalten Dritter als Selbstzweck gilt. Zu dieser gehören wiederum a) und b).
- a) Mentale Akte, die bewusst als Ersatzhandlungen dienen und dadurch einen psychologischen Ausgleich für äußere Handlungen anbieten, die das Ich angesichts realer Hindernisse oder innerer Hemmungen nicht ausführen kann oder will, wenn es z.B. in der Phantasie am Feind Rache nimmt. Das Ich lässt seinen Emotionen und Wünschen ungestraft freien Lauf, ohne dass sein Verhalten davon direkt beeinflusst wäre. »Diese normale Schizophrenie bildet übrigens ein wichtiges Stabilisierungsmittel im sozialen Leben. Denn soziales Leben wäre nicht nur ohne äußeres Handeln unmöglich; es wäre gleichfalls praktisch unerträglichen Spannungen ausgesetzt, würde jeder einzelne seine mentale Tätigkeit unmittelbar und voll zum Ausdruck bringen und entsprechend handeln.« (SO 441)
- b) Theoretische Tätigkeit als Form menschlichen Handelns zeichnet sich in formaler Hinsicht wie jedes andere Handeln durch Motive (theoretische Fragen), Ziele (Beantwortung dieser Fragen) und Mittel (Methoden, Experimente) zur Erreichung des gesteckten Zieles aus. Der soziale Bezug dieses inneren Handelns macht aus solchem Handeln soziales Handeln. Solche mentalen Akte heben sich grundsätzlich gegenüber jenen ab, die auf das Entwerfen praktischen Handelns abzielen, nämlich durch die Fähigkeit ihrer Vollendung vor dem inneren Forum, auch wenn sie durch äußere Zeichen mitteilbar sind.
Soziales Handeln und soziale Beziehung
Soziales Handeln unterscheidet sich begrifflich vom Handeln im Allgemeinen durch den (einseitigen) Sinnbezug des Handelnden auf andere Subjekte, während sich soziale Beziehung vom sozialen Handeln (nach Weber) durch den wechselseitigen Sinnbezug unterscheidet.
Beide also, soziales Handeln und soziale Beziehung, bedeuten gleichermaßen Orientierung des Verhaltens am Verhalten anderer, nur im Fall der sozialen Beziehung ist diese Orientierung beiderseitig. Nach Weber ist daher der Übergang vom inneren zum äußeren Handeln bereits durch den Begriff des sozialen Handelns vollzogen. Gewiss, inneres Handeln bzw. jene mentalen Akte, die es zusammensetzen, sind soziale Akte: Zum einen die Wahrnehmung des Anderen, die einen spezifischen Erwartungshorizont festlegt, und zum anderen, die sich daran anschließende Perspektivenübernahme, die in ihrer formalen und inhaltlichen Dimension den Charakter und die Absichten des Anderen näher erfasst. Es sind soziale Akte, weil sie sich auf andere soziale Wesen beziehen. Doch sie können einseitig ohne Kenntnis des Anderen stattfinden. Aber selbst ihr beiderseitiger Vollzug mündet in keine Interaktion ein, solange das Ich nicht durch irgendwelche äußeren (verbalen oder motorischen) Zeichen erkennt, dass es die Aufmerksamkeit des Anderen auf sich gezogen hat. Wenn also ego und alter von dieser Beiderseitigkeit nichts wissen, müssen sie es erst durch Zeichen, also durch äußere Handlungen erfahren. Das bedeutet den Übergang vom inneren sozialen Akt zur interaktiven sozialen Beziehung. Soziale Handlungen haben also einen inneren und gegebenenfalls einen äußeren Aspekt, aber nur im Zusammenwirken beider Aspekte kommt eine soziale Beziehung zustande. Die soziale Beziehung braucht ein Zeichengeben durch äußeres Handeln, folglich ist die Perspektivenübernahme als innerer sozialer Akt die notwendige, aber nicht die hinreichende Voraussetzung. »Die soziale Beziehung bedarf als einzige Form des Handelns definitionsgemäß des inneren und äußeren Aspekts, und eben deshalb ist sie sozialontologisch entscheidend.« (SO 443) »Die begrifflich spezifische Differenz zwischen sozialem Handeln und sozialer Beziehung erschöpft sich nicht im Kontrast von Ein- und Beidseitigkeit. Hinzu muss die Klarstellung kommen, dass erst mit dem Auftreten der sozialen Beziehung der Übergang vom inneren zum äußeren Handeln obligatorisch wird, obligatorisch im begrifflichen Sinn, versteht sich, denn genetisch und real haben sich solche Übergänge, wenn überhaupt, angesichts des ontischen Primats des äußeren Handelns eher in umgekehrter Richtung vollzogen.« (SO 442f, m. Herv.)
Die soziale Beziehung bietet begrifflich (sozialontologisch) Vorteile gegenüber dem sozialen Handeln im allgemeinen oder dem äußeren Handeln im besonderen. Im »realen« Leben aber hat äußeres Handeln einen größeren Stellenwert (sozialontischer Primat). Eine Beziehung zweier Menschen ohne Motorik oder Sprache hätte langfristig keine Aussicht auf Bestand, also ist eine solche soziale Beziehung bloß ein Denkkonstrukt bzw. Grenzfall. Erst eine bestehende soziale Welt macht soziale Interaktion möglich. Die Vorstellung vom Anderen als Subjekt geht immer mit bestimmten Objekten einher, seien es materielle Dinge oder Präferenzen, Interessen oder Werte und Ideen oder dritte Personen und bestimmte objektive Lagen. Es ist der gemeinsame Bezug auf ein bestimmtes Objekt, das früher oder später äußeres Handeln unumgänglich macht. Dieses Objekt »verweist letzten Endes auf die Anwesenheit einer handfesten sozialen Welt, innerhalb deren handfeste soziale Wesen früher oder später, frei- oder widerwillig, mehr oder weniger überlegt zum handfesten Handeln kommen müssen.« (SO 444)
Die Beziehung von Handlungstheorie und Sozialontologie
Bereits die Verwendung des handlungstheoretischen Begriffs »Absicht« als spezifische Differenz zur Unterscheidung des Handelns vom Verhalten weist direkt auf den gemeinsamen Nenner von Handlungstheorie und Sozialontologie. Das Heranziehen der Absicht, zu deren Realisierung zweckmäßige Entwürfe dienen sollen, bedeutet, dass die Rede vom Handeln eine ontologische und zugleich epistemologische Grenze kennzeichnet. Und weil der Mensch ein zoon politikon ist, »bedeutet Handeln soziales Handeln und soziale Beziehung par excellence, zumal gegenständliches Handeln sozialer Wesen in seiner Entfaltung nicht zuletzt durch den jeweiligen Charakter der sozialen Beziehung bedingt wird. In dieser breiten Perspektive gesehen führt uns die Handlungstheorie direkt in das Kerngebiet der Sozialontologie.« (SO 445f.)
Handeln ist der umfangreichere Begriff und umfasst als Gattungsbegriff die Begriffe soziales Handeln und soziale Beziehung. Diese begriffliche Hierarchie belegt allerdings keinen sozialontologischen Primat des Handelns gegenüber einem Handeln, das mit dem Rahmen bzw. Spektrum und Mechanismus der sozialen Beziehung verbunden ist. Dem engeren kommt eher der genetische und funktional-strukturelle Vorrang zu – immer in sozialontologischer Perspektive. Denn der engere Begriff bedarf zu seiner logischen Abgrenzung über die Merkmale hinaus, die Handeln im allgemeinen kennzeichnen (Absicht, Zweck-Mittel-Relation), zusätzlicher Differenzierungen (z.B. Perspektivenübernahme), er weist dementsprechend einen größeren Intentionsreichtum auf. (SO 452) Real beruht diese sozialontologische Priorität der sozialen Beziehung auf zwei Tatsachen; zum einen darauf, dass Menschen durch ihre sozialen Kontakte bzw. Wechselwirkungen erst erlernen, was überhaupt Handeln heißt, und dann handeln sie immer direkt oder indirekt im Hinblick auf eine soziale Beziehung, zum anderen darauf, dass die soziale Beziehung sich unauflöslich mit äußerem Handeln verbindet. Im äußeren Handeln und durch dieses fallen eigentlich die Entscheidungen über die Gestaltung des sozialen Lebens sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich. (SO 452f.)