Renate Solbach: Sonnenaufgang

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Werkbundmitglieder,

innerhalb des Werkbundes-NRW hatte sich im Jahre 2015 die Gruppe »Künstlerische Bildung und Gesellschaft« gebildet.

Die Motive für diesen Zusammenschluss liegen im derzeitig mangelhaften Zustand der Künstlerischen Bildung in unserem Land.

Aus diesem Grunde lud die Gruppe zu einem Workshop mit kompetenten Persönlichkeiten aus den Lehr- und Vermittlungsbereichen der Künstlerischen und Kulturellen Bildung ein.

Der Workshop, der am 16. und 17.12. 2016 in Aachen an der RWTH stattfand, erarbeitete die wesentlichen Eckpunkte, die in ein Kongress-Konzept münden werden. Dieser Kongress soll 2018 stattfinden, um einen nachhaltigen gesellschaftlichen kulturpolitischen Diskurs über die Künstlerische Bildung anzustoßen.

Wir mussten feststellen, dass durch vielfältige Ursachen, hauptsächlich jedoch durch neoliberale und ökonomische Interessen, eine einseitige Kompetenzausrichtung an den Schulen und damit auch in der Gesellschaft entstanden ist, die nicht nur den Zielen und Ansprüchen des Deutschen WB widerspricht. Auch der Rat für Kulturelle Bildung NRW weist seit Jahren auf diese Zustände hin.

Der Mangel an Künstlerischer Bildung stellt für uns im Kern einen gesellschaftskulturellen Verlust dar und strahlt negativ in alle Bereiche der Gesellschaft aus; er schmälert die Wertschätzung von Kreativberufen und ihrer Produkte ebenso die des Handwerks sowie die Kultur anderer Berufsfelder.

Wenn die Gründungsväter des Deutschen Werkbundes 1907 als wirtschaftskulturelle Vereinigung die berechtigte Zusammenführung von Kunst und Industrie forderten und dadurch die Gestaltung der Objekte und der Umwelt verbessern wollten (denken wir an ›die gute Form‹), so stellte man 1947 im Rheydter Manifest »Sinn und Gestalt des Daseins im heutigen Deutschland …« als betonte Zielwerte des DW in den Vordergrund der Bestrebungen.

Angesichts der derzeit prekären Situation Künstlerischer Bildung hat sich auch aus unserer Sicht offensichtlich die Notwendigkeit einer programmatischen Orientierungserweiterung des Werkbund-Anspruchs ergeben: Nämlich die Erweiterung vom Objekt zum Subjekt!

Also nicht das Designobjekt steht im Vordergrund, sondern der Mensch mit seinen Kompetenzen, die ihn in die Lage versetzen, die künstlerischen Phänomene, die ihn umgeben, einschätzen und wertschätzen zu lernen.

Daher sollte der Werkbund sich dieses komplexen Themas mit besonderem Nachdruck annehmen. Denn innerhalb einer gelungenen Künstlerischen Bildung sind all jene Ansprüche enthalten, die grundlegend für alle Ziele und Bemühungen stehen, für die sich der Deutsche Werkbund seit seiner Gründung 1907 einsetzt.

Was sind die Kernpunkte dieses Anspruchs?

Wir haben in der Gruppe zehn Leitsätze zur Künstlerischen Bildung und Gesellschaft erarbeitet, die ich im Folgenden vorstellen und kommentieren möchte.

  1. Der Begriff ›Künstlerische Bildung‹ umfasst alle künstlerischen und schöpferischen Methoden, Ziele, Ausdrucksformen und Gattungen der Bildenden Kunst, Musik, Tanz, Theater, Film, Literatur, Design und Architektur zur Weltbeschreibung und Weltsinngebung.

Er stellt in der Gesamtheit einen elementaren Beitrag zur persönlichen Entwicklung des Einzelnen und zur Produktivität, Identität und Dynamik der Gesellschaft dar.

Warum Künstlerische Bildung und nicht Kulturelle Bildung? Eine Frage, die immer wieder gestellt wird.

Im konventionellen Sinne schließt die Kulturelle Bildung die oben genannten Gegenstände und Ziele in sich ein. Allerdings werden unter dem Begriff ›Kultur‹ alle menschlichen Kulturdisziplinen verhandelt, wie Sprache, Moral, Recht, Wissenschaft, Religion oder Ökonomie etc. Daher erschien uns der der Begriff ›Künstlerische Bildung‹ besser geeignet, da er all jene Kompetenzen charakterisiert, die sich signifikant im kreativen Prozess von ästhetischem Erleben und Entscheiden durch subjektive oder kollektive Fähigkeiten und Fertigkeiten auszeichnet.

  1. Jeder Mensch hat das Recht auf ›Künstlerische Bildung‹, welche die kulturelle Partizipation fördert und Distinktion sowie Diskriminierung vermeidet.

Wir sind heute in einer Situation, in der Kunst und Kultur zu einer Form von Distinktion geworden ist, als soziales Zeichen der Abgrenzung. Geschmack ist zu einer scheinbar identitätspolitischen Notwendigkeit geworden, mit dem massiven Interesse an Status.

Die Teilhabe am einerseits ökonomischen und andererseits kulturellen Kapital hat das Potential zu einem spaltenden Kulturkampf zwischen Oberschicht, Kleinbürgertum und Proleten. Eine Geschmacks-Hierarchie, die einerseits von oben herab durch Herablassung, und andererseits von unten nach oben durch Emporschauen und durch peinliche Imitationen sozial gekennzeichnet ist.

Daher liegt die große und notwendige Herausforderung in der Förderung und Unterstützung Künstlerischer Bildung, um ein ästhetisches Verhalten und die ästhetische Teilhabe sowie Partizipationskompetenzen möglichst aller Menschen zu fördern; auch als elementare Grundlage einer kreativen Haltung, die letztlich als ästhetischer Fortschritt in alle Berufsbereiche strahlen könnte. Denn wie kommt das Neue auf die Welt, wenn nicht durch Kreativität?

Es stellt sich eine weitere Frage: Werden der Einzelne und die Gesellschaft überhaupt darauf vorbereitet, ihre Kultur, ihre Künstler und deren Produkte zu verstehen?

Wir kennen alle die Antwort.

Die Gesellschaft braucht mündige Bürger mit kreativen Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit eigenen Kriterien sowie einer befähigten Urteilskraft, um die vielfältigen Phänomene und Kulturprodukte zu partizipieren und rezeptiv einer Bewertung sowie Einordnung unterziehen zu können.

Wie wir wissen, gibt es kein allgemeines oder objektives Bewertungs- oder Geschmacksurteil. Aber der Einzelne kann gebildet werden, sein eigenes zu entwickeln.

Oder wie Johann Joachim Winckelmann sagte: »Mit Geschmack die Werke der Kunst ansehen oder mit Verständnis, das sind zwei verschiedene Dinge«.

  1. In der Bewertung gesellschaftlicher und persönlicher Bildungsziele muss die ›Künstlerische Bildung‹ gleichberechtigt behandelt werden. Darauf muss die Ausbildung der Lehrenden ausgerichtet sein.

Wir müssen leider feststellen:

Vielen musisch- oder künstlerisch begabten jungen Menschen wird bei der Berufswahl meist geraten, doch besser einen sogenannten »ordentlichen Beruf« zu ergreifen. Das mag aus den real existierenden Bedingungen der Verhältnisse heraus durchaus verständlich sein. Aber ich frage: Entsteht dadurch nicht ein Vakuum, ein gesellschaftlich kultureller Verlust?

Wir erkennen heute im Zuge der neoliberalen Anforderungen im gesellschaftlichen und institutionell praktizierten Kulturverhalten einen schleichenden Zerfall.

Die Wertschätzung und Teilhabe an künstlerischer Praxis sowie kultureller Bildung sind einem ständigen Druck von Rechtfertigung und Sanktionierung ausgesetzt. Philosophische und künstlerische Weltsinngebung gerät immer mehr in die Peripherie.

Der Wissens- und Erfahrungsmehrwert durch die Teilnahme an künstlerischen Fächern gegenüber den sogenannten MINT-Fächern, ist wissenschaftlich schwer nachzuweisen. Dennoch erkennen wir in der Tendenz von Messbarkeit und Evaluierung (z.B. durch PISA) die gesellschaftliche Brisanz dieser Situation. Sinn und Zweck dieser Maßnahmen folgen dem Ziel einer ökonomischen Verwertung: Das Streben nach einem Zweck, nicht aber das nach einem Sinn wird favorisiert.

Ein neues Handlungskonzept an den Schulen wird dringend benötigt, denn selbst die Grundversorgung in der Künstlerischen Bildung findet nicht mehr statt.

Die reale Situation an den Schulen macht dies deutlich: Der Kulturrat NRW berichtet, das von 100% zu leistendem Kunst- und Musikunterricht jährlich 85% ausfallen, die verbleibenden 15% werden häufig durch fachfremde Lehrer unterrichtet. (siehe ZUR SACHE: http://www.rat-kulturelle-bildung.de/fileadmin/user_upload/pdf/RFKB_ZurSache_DS_final.pdf).

Eine Veränderung der Situation wird nur von der Bedeutung, Wertung, Akzeptanz und Anerkennung der Künstlerischen Bildung abhängig sein, die ihr gesellschaftlich zukünftig beigemessen wird und in diesem Prozess spielt die Ausbildung der Kunsterzieher eine nicht unbedeutende Rolle. Daher sollte diese Berufsgruppe unbedingt in den Diskurs einbezogen werden.

  1. Der Werkbund wendet sich gegen die derzeit zu einseitig ökonomische Ausrichtung und Verwertbarkeit der Bildungsziele.

Die heutige Kunst in der Öffentlichkeit spricht fast nur noch durch die Sprache des Geldes zu uns. Während es dem Kunstmarkt so gut geht wie noch nie, geht es den Kunst- und Kulturmachern in Deutschland so schlecht wie nie zuvor. Das durchschnittliche Gehalt eines Künstlers, einer Künstlerin beträgt in unserem Land 800 € im Monat.

Es gibt Stimmen, die behaupten, dass es den Künstlern wesentlich besser ginge, wenn sie ein gesellschaftliches Publikum hätten, das sie versteht und wertschätzt.

Dies ist leider nicht der Fall und diese prekäre Situation ist nur eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass die verfassungsmäßig garantierte Freiheit der Kunst beschnitten wird. Staat und Gesellschaft fordern, dass sich Kunst ›rechnen‹ müsse. Geforderte Quote und Rentabilität verlangen aber nichts anderes, als sich dem Massengeschmack unterzuordnen. Kunst soll so sein, wie es die Leute gerne hätten: Leicht konsumierbar und vertraut.

Niemand kennt die Anforderungen der Zukunft. Wir ahnen nur, dass besondere flexible Fähigkeiten und Fertigkeiten von unseren Kindern, Schülern und Studierenden in der Zukunft erwartet werden. Jene nämlich, die neue innovative Antworten auf zentrale Fragen unserer gesellschaftlichen Entwicklung geben sollen.

Die Konflikte im Zusammenleben der Menschen häufen sich. Die Wirtschaft hat sich unter den Stichworten ›Neoliberalismus‹ und ›Globalisierung‹ scheinbar jeder Kontrolle entzogen und bietet ein Spielfeld für den Egoismus einiger brutaler Marktteilnehmer. Ein Slogan der neoliberalen Politik lautet: Der Markt regelt alles.

In NRW wird die neue Landesregierung durch den Einfluss der FDP in Zukunft das neue Schulfach Ökonomie einrichten. Woher die Zeit dafür genommen wird, kann man schon ahnen.

Auch den Universitäten in NRW werden durch die neue Regierung mehr Freiheiten versprochen, obwohl schon vor 10 Jahren durch die Einführung des sogenannten ›Hochschulfreiheitsgesetzes‹ ein Paradigmenwechsel entstand: die Umwandlung von akademischen in unternehmerische Werte.

Mein Eindruck ist, dass durch diesen unternehmerischen Wettbewerb um die beste Forschung und die meisten Drittmittel ein auffälliger Bedeutungsverlust gegenüber der Lehre entstanden ist. Für die künstlerischen Forschungsinhalte prognostiziert man in diesem Wettbewerb natürlich geringe Chancen.

Ich meine, das ist nicht verwunderlich, denn die Welt ästhetisch zu gestalten ist dem Wesen nach nicht ökonomisch, sondern idealistisch motiviert.

Wenn wir über künstlerische Lehre an den Universitäten sprechen, so hatte schon die Reform von BA und Master zu schmerzhaften Veränderungen geführt. Beispielsweise wurden an vielen Architekturfakultäten die Lehrstühle für bildnerische und plastische Gestaltung fusioniert und die Lehrinhalte von ehemals zwei Disziplinen, werden gegenwärtig nur noch durch einen Professor/in durchgeführt. Die Konsequenz ist offensichtlich: Fragmentierte Kenntnisvermittlung und eine Reduktion um die Hälfte der Lehrzeit in jedem dieser Bereiche.

Nur zur Erinnerung: Im Humboldtschen Sinne sollte Bildung keine von wirtschaftlichen Interessen geleitete, sondern eine unabhängige Ausbildung des Menschen an sich sein, mit der er die Gesellschaft als Welt- und Kulturbürger durch Lebenssinngebung und Gestaltung auszeichnet und bereichert.

  1. Innerhalb aller Bildungseinrichtungen sollte gewährleistet sein, dass die curricularen und zeitlichen Voraussetzungen sowie die logistischen, pädagogischen und fachlichen Bedingungen wie Raum, Ausstattung und künstlerisches Fachpersonal in ausreichendem Maße sichergestellt sind, so dass die Vermittlung der Grundlagen ›Künstlerischer Bildung‹ optimal gewährleistet sind. Dazu sind Kriterien zu entwickeln, die geeignet sind, regelmäßige Evaluationen zu ermöglichen.

Eine Kunsterzieherin in Hessen teilte mir mit, dass sie die einzige Kunsterzieherin an ihrer Grundschule sei und 700 Kinder zu ›versorgen‹ hätte; weiterhin, dass bei angehenden Lehrern das Fach Kunsterziehung häufig als zweites Fach favorisiert würde, weil man hier den wenigsten Aufwand einkalkuliere und demzufolge die Kunsterzieher/innen sowie Musiklehrer/innen innerhalb der schulpolitischen Hierarchie einen niederen Rang einnehmen würden.

Hinzu käme ein Vermittlungsproblem durch zu wenig ausgebildete Kunsterzieher. Viele Schulen würden Künstler einstellen, um Planstellen und Ausstattung zu sparen. Außerdem seien die spezifischen räumlichen Bedingungen nicht vorhanden, um eine seriöse Grundlagenvermittlung durchzuführen. Improvisation und Bastelei sei die Konsequenz.

Der Rahmenlehrplan der Berliner Schulen sieht in den Klassenstufen 8, 9 und 10 nur noch wöchentlich eine Unterrichtsstunde, also 45 Minuten pro Schuljahr für die Fächer Kunst und Musik vor. Dies bedeutet, dass für das erste Halbjahr Kunst 90 Minuten und im zweiten Halbjahr Musik 90 Minuten zur Verfügung stehen. Oder anders formuliert: Wer sich in der Oberstufe für Musik entscheidet, hat 2,5 Jahre vor dem Abitur seine letzte Kunststunde gehabt!

Eltern könnten eine Gewährleistung des Bildungsauftrags einfordern, um die Schulpolitik unter Druck zu setzen, aber es geschieht nichts!

Durch den PISA-Schock (OECD) ist eine Paralysierung eingetreten, die eine einseitige Förderkonzentration auf die anderen Schulfächer zur Folge hatte, da PISA an den Schulen dafür sorgte, das die künstlerisch-musischen Fächer in der Leistungsbewertung keine Beachtung fanden.

  1. Jenseits der vielen freien Spielarten, Erscheinungs- und Ausdrucksformen der unter Leitsatz 1 genannten Disziplinen präferiert der Werkbund NRW einen Begriff der künstlerischen Grundlagen, der die jeweils fachspezifischen Praktiken, Techniken und Verfahren, Methoden und Wahrnehmungs- sowie Reflexionskompetenzen als elementare Voraussetzung zur kulturellen Entwicklung des Menschen ansieht.

Als elementare Komponenten bilden die Grundlagen wie in jedem Fach die Basis für den jungen Mensch, um etwa weitere methodische und künstlerische Praktiken für das ästhetisches Erleben und Entscheiden zu unternehmen.

Dabei kommt der Sinnhaftigkeit jener Gegenstände die im Unterricht verhandelt werden, eine bedeutende Rolle zu. Gemeint sind damit die didaktischen und methodischen Formate, also z.B. Umsetzungstechniken und Materialien sowie konzeptuelle und künstlerische Ziele oder kunstgeschichtliche Reflexionen etc.

Wir stellten uns die Frage: Findet diese Grundlagenvermittlung überhaupt statt oder spiegeln die dort verhandelten Gegenstände nur die stilistische Beliebigkeit oder die Geschmacks-Sympathie eines Lehrers oder einer Lehrerin wider?

Wenn wir eben hörten, dass beispielsweise 15% des Kunstunterrichts von fachfremden Lehrern durchgeführt werden, dann ahnen wir, dass der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet werden.

Aber auch bei ausgebildeten Kunsterziehern gibt es erhebliche Mängel.

Der Kulturrat beschrieb eine Situation, bei der die Schüler Zeichnen lernen sollten. Also gegenständlich, was als akademische Disziplin ›Zeichnen nach sichtbarer Wirklichkeit‹ genannt wird.

Viele Kunsterzieher konnten dem nicht entsprechen, ganz einfach, weil sie das Zeichnen während des Studiums nicht gelernt haben.

Ursache dafür sind einerseits die Einflüsse durch das Nachäffen der Methoden und Produkte der freien Kunstpraxis und jenen, die z.B. durch den Kunstmarkt als vorbildlich hervorgehoben und mit hohem ideellem Wert betitelt werden. Andererseits kommt eine zeitgeistbedingte Voreingenommenheit dazu, die die akademischen Grundlagen als anachronistisch und obsolet bezeichnet.

Und so entsteht eine Vernebelung der Nachvollziehbarkeit und Bewertung der Methoden und Ergebnisse, ebenso eine Beliebigkeit der zu verhandelten Gegenstände in didaktischer und methodischer Hinsicht.

Die Frage nach der Qualifizierung und Bewertung von Kunst-, Tanz- und Musikunterricht steht daher auch im Raum der selbstreflektierenden Betrachtung, die natürlich von der Ausbildung des Lehrers abhängt.

Damit kein Missverständnis entsteht: Innerhalb dieser kritischen Betrachtung gehen wir grundsätzlich nicht von einer ästhetischen oder methodischen Kanonisierung der Lernziele aus; vielmehr geht es uns im Kern um eine grundlagenorientierte Vermittlung, die garantiert sein sollte und auf der alle weiteren freien subjektiven Ausdruckmöglichkeiten basieren können.

  1. Eine Studie der OECD hat ergeben, dass die ›Künstlerische Bildung‹ prozentual zum Gesamtunterricht bei Schülern und Schülerinnen im Alter von 9 bis 11 Jahren nur ca. 10 Prozent und im Alter von 12 bis 14 Jahren nur 6 Prozent beträgt. Dieses Verhältnis hält der Deutsche Werkbund für nicht ausreichend und fordert entschieden einen deutlichen Ausbau der ›Künstlerischen Bildung‹ in allen Altersklassen.

Dieser Absatz spricht für sich und muss durch die vorhergehenden Beschreibungen nicht mehr kommentiert werden.

  1. Die bundesweite Abschaffung des Faches Werken an den staatlichen Schulen muss revidiert werden, um die Entwicklungsmöglichkeiten und Kompetenzen junger Menschen zu erweitern. Davon profitieren alle Berufsbilder, und das Handwerk erfährt neue Impulse.

Wie wir wissen, ist Werken als Bildungsfach an Deutschlands Schulen schon seit längerem abgeschafft, obwohl Reformpädagogen und Alternativschulen die ganzheitliche Bedeutung dieser Tätigkeiten immer wieder hervorheben.

Ich selbst habe eine Handwerkslehre abgeschlossen und in den 80er Jahren, während meines Kunsterzieherstudiums an der HdK in Berlin, hatte ich Werken als zweites Studienfach. Schon damals machte man mir deutlich, dass dieses Fach nur noch in Bayern unterrichtet würde.

Ich vermute, dass es mittlerweile auch hier aus dem Schulplan entfernt wurde.

Ich möchte hier nicht die Voreingenommenheit weitertragen, die besagt, dass man das Handwerk offenbar nur noch den Hauptschulabgängern überlässt. Vielmehr geht es mir um das Unterrichtspotential, das in einem erworbenen Werkbegriff steckt. Also um die Fähigkeit, traditionelle Methoden zu erlernen und diese mit neuen Problemlösungsansätzen zu kombinieren.

Ich glaube, wir sind uns einig, dass Innovation und spielerischer Umgang mit disziplinären und interdisziplinären Methoden, die der Kreativität inhärent sind, dringend in allen Berufsbereichen benötigt werden.

Die an den Schulen gelehrten Fächer sind in der Regel disziplinär. Die gelebte Welt jedoch, die Anforderungen im Berufsleben sind naturgemäß interdisziplinär, so wie es auch die Problemstellungen sind, die sich aufgrund der weltweiten Herausforderungen ergeben.

Unternehmen und Universitäten stellen immer häufiger fest, dass der Wissensstand und insbesondere die Fähigkeiten und die Fertigkeiten vieler Schulabgänger sich nicht als ausreichend erweisen.

Wo sollen also die Querdenker und kreativen Köpfe herkommen, die in der Wirtschaft, in der Industrie und an den Universitäten gesucht werden?

Wenn wir den Kunst- und Werkunterricht nicht nur als Erstellen von Bildern, Skulpturen oder sonstigen ästhetischen Produkten betrachten, sondern als eine geistige und generalistische Förderung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, dann ergibt sich ein anderes Bild. Denn in vielen Handwerksberufen und Tätigkeitsprofilen der Industrie- und Unternehmen bis in die Managerebenen können diese Kompetenzen von Bedeutung sein. Als da wären: Motorisch-operative Fertigkeiten, konzeptuelles Denken, Wahrnehmung, Intuition, Abstraktion oder ganz allgemein Kreativität und Lebenssinngebung.

Wenn Industrie und Ökonomie in der Lage sind, die künstlerischen und musischen Fähigkeitsstrukturen zu abstrahieren und zu absorbieren, dann werden sie mit kreativen Mitarbeitern und innovativen Produkten belohnt werden.

Wir sollten uns immer wieder bewusst machen: Ohne Phantasie, ohne Imagination, ohne dass unser Vorstellungsvermögen gefordert würde, könnte man uns nicht als Menschen bezeichnen, denn wir würden uns nicht von anderen Lebewesen unterscheiden.

  1. Der traditionelle Werkbegriff wird längst schon durch einen virtuellen Werkbegriff erweitert. Daher kommt der ›Künstlerischen Bildung‹ eine besondere Bedeutung zu, denn die elementaren Fähigkeiten und Fertigkeiten sind überhaupt erst die Voraussetzung zur Bedienung digitaler Werkzeuge.

Durch die digitale Technologie sind tiefgreifende Veränderungen entstanden. Eine Revolution, die in alle Bereiche des Lebens Einzug hält und deren Eigendynamik unendlich zu sein scheint.

Der traditionelle Werkbegriff wird längst schon durch einen virtuellen Werkbegriff erweitert. Daher kommt der Künstlerischen Bildung eine besondere Bedeutung zu, denn die elementaren Fähigkeiten und Fertigkeiten sind überhaupt erst die Voraussetzung zur Bedienung digitaler Werkzeuge.

Die Frage entsteht: Was bedeutet der Umgang mit dieser Technologie in der ›Künstlerischen Bildung‹? Welche Chancen stecken darin bzw. welche Nachteile entstehen durch diese neuen Medien?

Der Glaube an den Fortschritt kann manchmal erschreckend sein: In einem Vortrag an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel erlebte ich Pius Knüsel, einen Mitautor des Buches Der Kulturinfarkt und ehemals Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.

Herr Knüsel versuchte ernsthaft dem Auditorium zu erklären, dass der Musik- und Kunstunterricht künftig keine teuren konventionellen Instrumente oder lästiges Malmaterial mehr brauche. Der Laptop oder das iPad ließen unbegrenzte Möglichkeiten der Kreativität zu: Man könne damit malen, zeichnen und ausgiebig musizieren.

Was bedeutet eine künstlerische und soziale Wahrnehmung, die sich, hypothetisch gesprochen, nur noch an der virtuellen Realität des Computers orientiert? Welche Konsequenzen entstehen aus einer einseitigen virtuellen Sicht auf die Mattscheibe und dadurch auf die realen Dinge und die reale Welt? Werden die Dinge auf dem Display, ähnlich wie die Schatten im Höhlengleichnis von Platon, irgendwann das Modell der Wirklichkeit übernehmen und könnte daraus ein Wirklichkeitsverlust entstehen?

  1. Die Bereiche von Wissenschaft und Kunst sind beide dem Fortschritt verpflichtet. Der Werkbund NRW setzt sich nachdrücklich für die Annäherung und Kooperation dieser Bereiche ein. Er erkennt in dieser Zusammenführung eine potenzielle Erweiterung und einen Mehrwert für die menschliche Kultur.

Wenn sich Kunst und Wissenschaft über Jahrhunderte in enger Kooperation entwickelten, was ist der Grund, weshalb man diese Disziplinen heute so getrennt voneinander betrachtet?

In dieser Frage offenbart sich ein Grundproblem im Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Denn die gesellschaftliche Wertegemeinschaft schenkt dem Bereich der Wissenschaft eindeutig und überwiegend mehr Bedeutung und Wertschätzung als dem Bereich der Kunst und Kultur.

Die Lösung der Herausforderungen für die Zukunft erwartet man nicht von den Künsten, sondern von den Wissenschaften.

Welche Erwartungen hat die Gesellschaft eigentlich an die Künste?

Mit der Dominanz der Wissenschaft wächst auch das Regime des Messbaren … und das Unmessbare, also die philosophische und künstlerische Weltsinngebung, gerät dadurch immer mehr an die Peripherie.

Dieser Zustand entspringt einer technokratischen Weltsicht, deren Einseitigkeit ein fatales Menschenbild zeichnet. Die Zukunft sollte aus unserer Sicht durch die Kollaboration von Kunst und Wissenschaft gestaltet werden.

Unser Interesse gilt daher einem Fortschritt, der von der Annäherung und Kooperation beider Bereiche ausgeht, denn beide Bereiche könnten von der Annäherung nur profitieren.

Bei den Wissenschaften beispielsweise durch die Übernahme künstlerischer Methoden und bei den Künsten durch verantwortungsvolle Annäherung an das Leben und, damit verbunden, den Abbruch permanenter Selbst-Beschäftigung und des Hangs zur Beliebigkeit.

Wir wissen, mit dem Gedanken an Fortschritt verbindet man nicht automatisch eine künstlerische oder ästhetische Leistung. Aber exakt mittels dieser Fusion könnten wir uns überhaupt einen Fortschritt vorstellen.

Daher die Frage:

Könnte es einen Fortschritt geben, der kein rein technisch-wissenschaftlicher Fortschritt wäre?

Gemeint wäre damit ein Fortschritt, der sich nicht nur als technisch-wissenschaftlicher Fortschritt definiert, sondern auch als ein ›ästhetischer Fortschritt‹, mit einer universalen Kraft, die in alle Bereiche der Gesellschaft strahlen würde. Oder wie Friedrich Schiller sagen würde: In die Lebenskunst!

Die daraus entstehende Lebensqualität würde auf einer gesteigerten Wertschätzung und Teilhabe basieren, deren Ausrichtung nicht spalten, sondern zusammenführen würde.

Der DW ist kein berufsständischer oder berufsspezifischer Interessenverband und vertritt in seinem Bestreben alle Disziplinen, die sich für eine kulturelle Verbesserung des menschlichen Daseins einsetzen; des Einzelnen und der Gesellschaft. Durch sein historisches Erbe ist der DW geradezu prädestiniert, im Kontext der Künstlerischen Bildung eine Förder- und Vermittlerrolle zu übernehmen.

Dass es diesbezüglich keine schnelle Veränderung geben kann, darüber sind wir uns einig. Aber es könnte ein schleichender Prozess im Gang gesetzt werden, der ähnlich der ökologischen Wende der letzten Jahrzehnte, bei der sich Menschen plötzlich ihrer Umwelt, ihrer Verpflegung oder ihrer lebensumgebenden Materialien bewusst wurden, eine Veränderung bewirkt.

Ähnlich dieser Entwicklung können wir uns in kultureller Hinsicht ein Umdenken vorstellen, das Kultur und Kunst als Lebenssinngebung zu neuer Wertschätzung verhilft und im künftigen gesellschaftlichen Leben Wurzeln schlagen lässt.

Aus diesem Grund drängen wir auf die thematische Zusammenarbeit aller bundesdeutschen Werkbundvereine, damit die Künstlerische Bildung den dringend benötigten gesellschaftlichen Diskurs erfährt, der ihr zusteht, und weiterhin, dass die hehren Ziele des Deutschen Werkbundes nicht im Sumpf der Realität versinken.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Vortrag, gehalten auf dem Deutschen Werkbundtag im Juli 2017 in Nürnberg

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