Acht Thesen und eine Diskussion
Peter Brandt: 8 Thesen
These 1
Das Aufkommen von starken rechtspopulistischen Parteien fast überall in Europa ist zunächst als Symptom ernst zu nehmen, dass ein breites Segment der Bevölkerung von den Parteien der Mitte, der gemäßigten und vielfach auch der entschiedenen Linken nicht mehr erreicht wird und sich von diesen nicht mehr vertreten fühlt. Der soziale Protest, der als solcher nicht diffamiert werden sollte, wird heute in Europa eher rechts und rechtsaußen als links artikuliert (Ausnahmen hauptsächlich Griechenland und die Iberische Halbinsel). Ein beträchtlicher Teil des rechten Populismus entspringt dem durchaus berechtigten Unmut über die Folgen der seit Jahrzehnten als »alternativlos«, auch von Mitte-links-Regierungen, forcierten neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik (mit den Heilsrezepten Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkung), Folgeerscheinung und zugleich Verstärkung der vom Finanzkapital getriebenen Globalisierung.
These 2
Die EU wird als Transmissionsriemen dieses Prozesses wahrgenommen, als eine nicht beeinflussbare, völlig abgehobene Struktur. Diese Wahrnehmung wird durch die führenden Politiker namentlich Deutschlands unterstützt, die weniger Populäres gern auf Brüssel abschieben, selbst wenn sie die betreffenden Entscheidungen im Ministerrat mit getragen oder gar mit durchgesetzt haben. Die EU könnte auch eine andere Rolle spielen: die eines Schutz- und Gestaltungsraums für das europäische Zivilisations- und Demokratiemodell (durch ein spezifisches Grundrechtsverständnis und den Sozialstaat von dem der USA unterschieden). Dazu bedürfte es eines Abbaus des immer noch vorhandenen Demokratiedefizits der Union, einer besseren und funktionaleren Abgrenzung der europäischen und der nationalstaatlichen Entscheidungsebenen und vor allem eines Politikwechsels. Die Vorstellung, alle Staaten Europas müssten so »wettbewerbsfähig« werden wie die exportorientierte Bundesrepublik, ist offenkundig abwegig, wenn neun Zehntel des Austauschs von Waren und Dienstleistungen innerhalb der EU stattfinden. Während die Zeit der uneingeschränkt souveränen Nationalstaaten vorbei ist, werden diese noch lange Zeit als Bausteine des europäischen Verbundes weiterexistieren, die Nationen als Kommunikations-, Bewusstseins- und Gefühlsgemeinschaften ohnehin.
These 3
Von der Durchführbarkeit abgesehen, wäre es mit unserer säkularen und freiheitlichen Lebensordnung nicht vereinbar, Zuwanderung aus anderen Weltregionen und Kulturkreisen völlig zu unterbinden oder gar die hier lebenden Fremdstämmigen wieder auszusiedeln. Allerdings kann weder Deutschland noch Europa die Probleme der Welt auf seinem relativ dicht besiedelten Territorium lösen.
These 4
Jedes Gemeinwesen, wenn es auf Inklusion, Zusammenhalt und Solidarität angelegt ist, braucht ein Minimum an sozialer und kultureller Homogenität. Das beinhaltet die Akzeptanz des »Geistes« der Verfassung, aber auch die Annahme der kulturellen Überlieferung (wozu das Christentum auch für Andersgläubige und Atheisten gehört), ungeachtet dessen, dass eine lebendige Nationalkultur stets neue Impulse von außen in sich aufnimmt und »das Volk« keine unveränderbare Größe jenseits des historischen Prozesses ist.
These 5
Es liegt auf der Hand, dass die Aufnahme der ostdeutschen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 1945, die schwierig genug war, leichter zu bewerkstelligen war als die der heutigen Migranten und Flüchtlinge aus dem globalen Süden. (Zwischen Migration und Flucht ist zu unterschieden, auch wenn die Grenzen fließend sind; im Übrigen kommen in der Regel nicht die Elendsten und Schwächsten zu uns, eher im Gegenteil.) Um die Diskussion zu versachlichen, ist zwischen der Ablehnung von Flüchtlingen bzw. Einwanderern als Menschen, gar körperlichen oder verbalen Angriffen auf sie, denen kompromisslos begegnet werden muss, und der Kritik an einer bestimmten Asylpolitik, z.B. an der mit den EU-Partnern nicht abgesprochenen Öffnung der deutschen Grenzen im Sommer 2015, zu unterscheiden.
These 6
Während eine kosmopolitisch-urbane, gebildete Schicht meist wenig Probleme mit der Massenzuwanderung hat, in der Regel auch weniger direkt davon betroffen ist, erleben breite Volksschichten, vor allem in der unteren Hälfte der sozialen Pyramide, die Migration als Bedrohung ihres ohnehin nicht luxuriösen Daseins und ihrer gewohnten Lebensformen. Zudem besteht dort der nicht ganz unberechtigte Eindruck, problematische Begleiterscheinungen und Folgeprobleme würden heruntergespielt und beschönigt.
These 7
Der Nord-Süd-Gegensatz, das größte politische und soziale Problem unserer Epoche, bis heute maßgeblich mitverursacht durch die Metropolen der nördlichen Halbkugel, insbesondere die USA, kann durch Bevölkerungstransfer nicht aufgelöst werden. Die Alternative zu den aktuellen Massenwanderungen wären eine internationale Friedens- und Entspannungspolitik, eine grundlegende Veränderung der Weltwirtschaftsordnung einschließlich globaler Umverteilung, aber auch die Überwindung politischer Führungseliten, die, nicht allein in Afrika, vielfach zutiefst korrupt und nach wie vor von tribalistischem oder klientelistischem Denken geprägt sind. Letzteres kann aber nur an Ort und Stelle geschehen.
These 8
Auch wenn keine »böse Macht« es darauf angelegt hat, könnte sich die alleinige oder vorrangige Konzentration auf die Schaffung einer »Willkommenskultur« für die deutsche bzw. europäische Gesamtlinke als Falle erweisen, weil sie u.U. dazu führen würde, Energien zu absorbieren, die benötigt werden, hierzulande und auf diesem Kontinent die Verhältnisse zu ändern – im Interesse auch der Nichteuropäer.