I.
»Auf dem jetzigen Grade der Kultur«, schreibt Goethe am 27.3.1830 an seinen Freund Zelter, könne Lessings Emilia Galotti »nicht mehr wirksam sein«. Vielmehr sei dem Stück »Respekt wie vor einer Mumie« zu zollen (MA, Bd. 20.2, 1338). Womöglich ging Goethe schon damals fehl, reagiert er doch auf einen Brief, in dem ihm Zelter von einer Aufführung des Stücks in Berlin berichtete. In der Perspektive gegenwärtiger Kulturgrade, zumal der hitzeträchtigeren, wird man dieses Urteil erst recht kaum teilen wollen. Die Mumie scheint recht lebendig. Das Drama wird nach wie vor aufgeführt, wie kenntlich es in der Übermalung durch die jeweilige Regie auch immer ausfallen mag. Und es erfährt eine weniger denn je abreißende literaturwissenschaftliche Rezeption, mit einem deutlichen Einschlag in Feminismus und Genderforschung. Dort gilt die Titelfigur häufig als Inbild einer Victima, die wahlweise adliger, patriarchaler oder gar der Gewalt männlicher Rede überhaupt zum Opfer fällt. Im Rahmen seiner literarischen Hof- und Adelskritik adelt Lessings Drama die Victima zum Sacrificium und begründet eine kritische Grundfigur der Moderne, die mehr denn je Wirkungen zeitigt.
Aber warum nun zeigt sich noch der alte Goethe heikel gestimmt, sobald die Rede auf Lessing kommt? Aller pflichtschuldig gezollte Respekt kann nie die Eintrübung seiner Laune verhehlen. Sie scheint sich insbesondere dann zu verfinstern, wenn es um die Emilia Galotti geht. Als sie 1772 uraufgeführt wird und auch gedruckt vorliegt, wird sie sogleich allerorten diskutiert. Allerdings nicht in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen, an denen Goethe verantwortlich mitwirkte: Das Stück wird dort keines Hinweises gewürdigt, geschweige denn rezensiert. Und dass das Buch auf Werthers Schreibtisch gelegen hatte, war kaum als Reverenz gemeint gewesen.
Das wechselseitig gestörte Verhältnis zwischen Goethe und Lessing ist eigentlich bekannt. Gleichwohl werden die zahlreichen Distanzgebärden, die Mühen des Jüngeren, den Älteren zu meiden, meist verkannt. So deutet sie das Goethe-Handbuch um zu Zeugnissen von »Respekt und einer lebenslangen Hochachtung« (655). Respekt, der liegt gewiss vor, wie widerwillig er im jeweiligen Kontext auch erwiesen wurde. Aber Hochachtung? Zumal lebenslange? Einige der zentralen Dokumente, darunter die Wahlverwandtschaften, aber auch Dichtung und Wahrheit, sprechen da eine andere Sprache. Zwar hat zuletzt Wilfried Barner die Geschichte der gegenseitigen Vorbehalte, ja der »Vergegnung« zwischen Goethe und Lessing umfänglich rekonstruiert. Aber auch er ignoriert einen – freilich gut versteckten – Kommentar: Im Folgenden möchte ich zeigen, wie sich die Wahlverwandtschaften in subtiler Weise auf Lessings bürgerliches Trauerspiel beziehen. Und zwar tun sie das vornehmlich am Charakter der Ottilie. Im Zwielicht dieser vielleicht rätselhaftesten aller Gestalten Goethes zeichnen sich die Konturen einer Kritik der literarischen Viktimologie ab, einer Kritik der literarischen Opferpolitik, wie sie Lessing mitbegründet hatte und deren Erfolge wohl nie abgerissen sind. Genauer gesprochen, wiederholt und forciert, ja karikiert Ottilie die in der Emilia inaugurierte, in Goethes Sicht zutiefst frivole Figur des angemaßten Opfers bzw. des angemaßten Martyriums.
II.
Gewiss, die Wahlverwandtschaften enden, indem sie die Figur der Ottilie als Heilige bezeichnen. Aber das geschieht in mehrfacher Brechung. Diegetisch fällt das Prädikat in einem höchst ambivalenten Kontext. Soeben ist Eduard gestorben, und weil »er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war«, meint der Erzähler, »so konnte man wohl ihn selig nennen.« (MA IX, 529) Die Erzählstimme wiederholt also die Gebärde der arbiträren Benennung, mit der sie eingangs den Namen des Protagonisten eingeführt hatte: »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron…« (MA IX, 286) Selig kann er auch jetzt allenfalls genannt werden, so wie er sich, wie wir wissen, »Eduard« ja nur selbst benannt hatte (vgl. Schlaffer, Hörisch (2)). Noch weniger, als sich selbst einen Namen geben, kann man für sich Heiligkeit oder das Martyrium wählen. Genau darin jedoch, sich selbst zu heiligen, besteht das Projekt, das Ottilie im gesamten zweiten Teil des Romans verfolgt. Wenn der siechende Eduard seinen Dilettantismus beklagt, wirft er ein bezeichnendes Licht auch auf Ottilie. Gipfelnd in der misslingenden Entsagung, der Wiederholung von Ottilies scheinbar asketischem, in Wahrheit anorektischem Hungertod (Hörisch, Wendt), sei sein »ganzes Bestreben immer nur eine Nachahmung gewesen«. »Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach«, so Eduard, »aber meine Natur hält mich zurück und mein Versprechen. […] Ich fühle wohl […], es gehört Genie zu allem, auch zum Märtyrertum.« (MA IX, 528f.)
Ein Martyrium widerfährt einem. »Genie« aber bezeichnet um 1800 die Grundfigur einer exzeptionellen Individualität, die sich selbst, und zwar ästhetisch konstituiert. Mit ihrer emphatischen Selbstbezüglichkeit, ja, mit dem Selbstgenuss, den die Prätention auf Genialität vermittelt, ist das Martyrium schwerlich vereinbar. Wie sarkastisch der Erzähler spricht, wird noch offenkundiger, wenn man sich klarmacht, wie sehr Ottiliens gelingende und Eduards misslingende ästhetische Usurpation der Märtyrerposition eine Paradoxie offenbart, die mit dem Geniebegriff seit je einherging. Die Struktur moderner Individualität als Exklusionsindividualität prägt sich bekanntlich im Konformismus der Abweichung aus, in deren Folge »der Held zum Selbstbewunderer« wird, um mit Niklas Luhmann zu sprechen (Luhmann 1983, 183). Weil Genialität mithin Originalität impliziert, fordert sie zur Nachahmung auf, indem sie Nachahmung verbietet. Wem es gelingt, diese Paradoxie erfolgreich unsichtbar zu machen, darf Genie genannt werden. Wer scheitert, heißt Dilettant. Man könnte hier durchaus René Girards These bestätigt wähnen, dass die mimetischen Rivalitäten eskalieren, seit die Moderne das ästhetische und das soziale Verdikt über die Nachahmung verhängt hatte. (Girard 2005, 216f. Entsprechend läßt sich den Wahlverwandtschaften der Einspruch gegen die Idee entnehmen, man habe sich im Zuge der Individualitätssemantik und Autonomieästhetik vom Diktat der Nachahmung emanzipiert. Das Gegenteil scheint der Fall. Die Nachahmung wird aus der Sach- in die Sozialdimension verlagert. An die Stelle gegenständlicher Mimesis, wie sie die vormodernen Künste pflegten, tritt eine entfesselte soziale Mimesis. Joseph von Eichendorff hat das bei Gelegenheit dargestellt. Vgl. Verf., Soundscapes und Spiegelfluchten. Eichendorffs Dinge und Nichtdinge, 2009, 121f.)
Im genialischen Martyrium der heiligen Ottilie handelt es sich klar um einen Akt zugleich der Selbstbezüglichkeit und schlechthin der Nachahmung. Die Idee wird spätestens geboren, als der Architekt die Kirche auf Eduards Gut im nazarenischen Geist zu restaurieren beginnt und sich im Übrigen bald in die fatale Femme fragile verliebt. Während der Architekt als Repräsentant der romantisch schwärmenden Zeitgenossen »nach einem verschwundenen goldenen Zeitalter« blickt und »das gemeinste was geschah« mit einem »Zug von himmlischem Leben« verklären will, heißt es mit nicht minder deutlicher Ironie von der späteren Prätendentin: »Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall sich unter ihres Gleichen zu fühlen«, nämlich unter den Heiligenbildern. (MA IX, 409) In ihr Tagebuch findet darum auch sofort die folgende Reflexion Eingang: »Wenn man die vielen versunkenen […] Grabsteine […] erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Überschrift eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben.« (MA IX, 411f.) Und es ist nun diese Wendung vom »zweit(en) Leben […], in das man nun im Bilde […] eintritt«, in der sich neben der nazarenischen Romantik eine weitere Zielscheibe Goethes abzeichnet.
War es doch Emilia Galotti, die ihren naturgemäß widerstrebenden Vater erst bewegen konnte, sie zu erdolchen, indem sie zwei Narrative ins Feld führte: Zuletzt die Virginia-Legende, mit der die Tochter Odoardos männlichen Stolz herausforderte: »Ehedem gab es wohl einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweiten das Leben gab.« (V/7; 203. Zitate aus Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti werden mit Akt- und Auftrittsnummer, gefolgt von der Seitenzahl, nach der Edition Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert u. a., Bd. 2, München 1970ff. zitiert. Hervorhebungen im Zitat von mir, U. St.) Unmittelbar zuvor hatte sie ihm bereits den Wink gegeben, er könne sie zur Märtyrerin und damit zur Heiligen machen. Und zwar in einer sinnverfälschenden Anlehnung an jene Stelle aus dem Gottesstaat, in der Augustinus den Selbstmord auch im Fall der Vergewaltigung ausdrücklich verbot: »Nichts Schlimmers zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten, und sind Heilige! – Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch.« (ebd.; vgl. Fick, 141f.)
Emilia Galotti erzwingt sich förmlich die Position des tragischen Opfers, indem sie sich, in einem Akt entstellender Nachahmung und Aneignung, zur Märtyrerin und zur Wiederauferstehung designiert. Genau darin hat sie als heimliches Vorbild für die Gestalt der Ottilie gewirkt.. Ein weiterer Verweis stützt diese Annahme. Auf den Fresken tragen sämtliche »Gesichter, welche dem Architekten zu malen allein überlassen war«, das Aussehen Ottiliens. »Die Nähe des schönen Kindes mußte wohl in die Seele des jungen Mannes [...] einen so lebhaften Eindruck machen, daß ihm nach und nach, auf dem Wege vom Auge zur Hand, nichts verloren ging« (413f.). Das zitiert natürlich den Maler Conti aus Lessings Drama herbei, genauer seine Worte vom »langen Wege aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren!« (I/4, 133f)
Nicht anders als Emilia Galotti, so meine These, erstreitet Ottilie sich selbst die Position des Opfers. Nur dass in ihrem Fall die Anmaßung, ja die Frivolität, aus der Position der Victima heraus den Status des Sacrificiums zu heischen, noch deutlicher als im Vorbild zutage tritt: Ja, ihre Opferprätention nimmt, wie schon die Werke des Architekten, in Goethes Darstellung entschieden »etwas Putzhaftes« an. (MA IX, 408) Die pathologisch Empfindsame ahmt also die Figur des sich selbst heiligenden Opfers nach, wie es ähnlich schon Werther in seiner imitatio christi betrieben hatte, Brot und Wein konsumierend – und Emilia Galotti lesend (MA I.2, 299; vgl. Hörisch, Brot und Wein, 146). Nirgendwo wird das deutlicher als in jener Passage, in der sich Ottilie, nachdem das Kind durch ihre Schuld ertrunken ist, in die Position einer Statue begibt: »Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch an Kälte dem Marmor gleicht.« (MA IX, 497) Jetzt hat Ottilie erreicht, was sie wollte. Sie ist ins Bild eingetreten.
Wie aber konnte aus der marmorkalten Statue eine glühend verehrte Ikone, das Bild einer Märtyrerin werden? Die Wahlverwandtschaften führen es in den semantischen Verschiebungen vor, denen sie Wort und Sache des Opfers aussetzen. Das Wort fällt zuerst im 10. Kapitel des ersten Teils, als die Baronin klagt, der Konvenienzehe müsse »das Opfer der besten Jahre gebracht werden«. (MA IX, 354) In diesem Sinne erscheint im zweiten Teil dem Major das im doppelten Ehebruch der Phantasie gezeugte, nun tote Kind als »ein solches Opfer […das] nötig zu ihrem allseitigen Glück« wäre. (MA IX, 501) Auch in dessen Augen begründet das Sacrificium einen Anspruch. Es kommt bekanntlich anders. Scheitert die in den Augen des Majors vernünftige Neukonfiguration der Paare nach Maßgabe der Liebesehe doch am Widerstand Ottilies.
Damit einher geht eine augenfällige Verschiebung des Opfer-Prädikats. Zwei Seiten nach der soeben zitierten Stelle ruht das tote Kind »als das erste Opfer eines ahndungsvollen Verhältnisses« (MA IX, 503) in der Kapelle. Auf das erste werden weitere Opfer folgen. Nur weitere zwei Seiten später nennt sich Ottilie einen »seltsam unglücklich(en) Mensch(en), und wenn er auch schuldlos wäre, ist [er] auf eine fürchterliche Weise gezeichnet«. (MA IX, 505) Die Verursacherin des Kindstods, Ottilie, bezeichnet sich selbst, und zwar bezeichnet sie sich als Homo sacer. Indem sie selbst sich markiert, ist sie es, die Ansprüche anmeldet, Ansprüche nämlich auf den Status der Victima. Dabei wird sie von ihrer Umgebung doch mit sozialtherapeutischer und also inklusionsfreundlicher Rücksicht behandelt. Sie tritt damit mitnichten in den Status der Vogelfreien oder des nackten Lebens ein, wie ihn Giorgio Agamben in der Figur des Homo sacer zu erkennen meinte. Als Gezeichnete wähnt sich Ottilie vielmehr in der Position der Genialität, von der aus sie in das zweite Leben im Bilde, in die »Wirklichkeit als Bild« (MA IX, 444) eintreten kann.
Vor allem ermöglicht ihr der selbstmarkierte Status den Selbstgenuss im Zeichen erhöhter Moralität. Es war nun kein anderer als Lessing, der Moralität zur theatralischen Kategorie erklärte, als er nämlich lehrte, der mitleidigste Mensch sei der beste Mensch. Lessings Lehre vom Mitleid mag menschenfreundlich erscheinen. Aber handelt es sich nicht um eine heikle Ästhetisierung des Moralischen? Trägt sie nicht in Wahrheit die mimetische Rivalität ins Feld der Moralität hinein?
Ottilie hat von Lessing gelernt. Sie meint, »jetzt«, also als Gezeichnete und vorgeblich Entsagende, »kann ich mein Mitleiden gegen mich selbst wenden«. Im Zuge ihres Selbstmitleids könne sie gar das im theatralischen Sinne bessere Opfer abgeben. Besitzt doch Ottilie einen eminenten Sinn für die Szene. Sie hütet sich nämlich, »zu ähnlichen Auftritten Anlaß [zu] gebe(n)« (MA IX, 441, Hv. U. St.), und zwar ähnlich denen des armen Mädchens aus dem 6. Kapitel des zweiten Teils, das den Tod eines ihrer jüngeren Geschwister verschuldet hatte und das von Luciane der »Neugierde und Apprehension der Sozietät« preisgegeben wurde. Die Sache dieser »zart Empfindende(n)« hatte auf Ottilie »einen tiefen Eindruck gemacht« (MA IX, 441) und also zusätzlich zur Nachahmung, zur überbietenden Nachahmung eingeladen.
Nur weitere zwei Seiten später stellt Ottilie in Aussicht, man möge in ihr im Wortsinn ein sacrificium sehen, das heißt eine »geweihte Person erblicken, die nur dadurch ein ungeheures Übel für sich und andere vielleicht aufzuwiegen vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das uns unsichtbar umgebend allein gegen die ungeheuren zudringenden Mächte beschirmen kann«. (MA IX, 507; Hervorhebung Uwe Steiner) So objektiv ironisch bekundet sich die angemaßte Heiligkeit Ottiliens, dass sie kein Hehl aus ihrer selbstbezüglichen Natur macht: »Für sich und andere vielleicht«. Sie widmet sich dem Heiligen vornehmlich »für sich«. »Andere« mögen »vielleicht« daraus Nutzen ziehen. In atemberaubender Dichte hat sich eine Verschiebung der Opfersemantik von der victima über die gezeichnete zur »geweih(ten) Person« vollzogen. Ottilie deutet ihr Verschulden um in ein dämonisch ihr widerfahrendes Geschick, sie deutet danach dann die Position der gezeichneten Person um in die der Heiligen. Eine Person, die, anders als Emilia, gar nicht einmal eine victima genannt werden kann, begibt sich selbst in die Opferposition. Die reale Victima, das ertrunkene Kind, bleibt außen vor. Sein Tod ermöglicht Ottilie, ihr ästhetisches Martyrium zu zelebrieren und Ansprüche auf den Status der Heiligkeit geltend zu machen. Womöglich konturiert sich hier, in Ottilie, eine Grundfigur moderner, noch gegenwärtiger Moralität, wie sie sich zumal in der Opferpolitik, in der viktimologischen Identifikation abzeichnet: Der Selbstgenuss im Bewusstsein, einer höheren Moral teilhaftig zu sein. »Für sich«, Pause, »und andre vielleicht«: der moralische Akt dient hier der Selbstpositionierung im Feld mimetischer Rivalitäten.
III.
In eben dem Jahr, in dem die Wahlverwandtschaften erscheinen, 1809, beginnt Goethe mit den Vorarbeiten zu Dichtung und Wahrheit. Und gleich am Ende des ersten Buchs knüpft die Autobiographie an den Roman an, wenn sie von einem so ominös wie tragikomisch misslingenden Opferkult erzählt. Der sechsjährige Knabe hatte seinem Gott, den er schon damals »mit der Natur in unmittelbarer Verbindung« stehend glaubte, »auf gut alttestamentliche Weise einen Altar erricht(et)«. Um Brandopfer darzubringen, entwendet er dem Vater ein hübsch verziertes Musikpult. »Naturprodukte sollten die Welt im Gleichnis vorstellen«, heißt es da, der Wahlverwandtschaften Verschränkung von Natur- und Gleichnisrede aufgreifend. In der Andacht bemerkt der Junge jedoch nicht, wie sich die Räucherkerzen in den Lack des Ziermöbels einbrennen. Der Autobiograph weiß hieraus indes eine Lehre zu ziehen, in der wiederum ein Echo des Romans mitklingt: »Hierüber kam der junge Priester in die äußerste Verlegenheit. Zwar wußte er den Schaden durch die größesten Prachtstufen zu bedecken, allein der Mut zu neuen Opfern war ihm vergangen, und fast möchte man diesen Zufall als eine Andeutung und Warnung betrachten, wie gefährlich es überhaupt sei, sich Gott auf dergleichen Wegen nähern zu wollen.« (MA XVI, 48–51)
Gleichsam eine Warnung, sich wahlweise Gott oder dem weltlichen Heil auf dem Wege des Opfers zu nähern, kann man der nun auch expliziten Lessing-Kritik entnehmen, in der sich Autobiographie und Roman untergründig verbunden wissen. Führt Dichtung und Wahrheit doch das Thema des Romans, »die dichterische Darstellung eines sittlichen Problems im Schema eines integralen Naturbegriffs« (Bolz 1997, 155), fort, um es in der Kategorie des Dämonischen kulminieren zu lassen. Das Dämonische wird zwar erst im vierten Teil beim Namen genannt. Es kündigt sich jedoch schon im dritten Teil an, den Goethe inmitten der Befreiungskriege zwischen Herbst 1812 und August 1813 diktiert. Die damals grassierende nationalmoralische Mobilisierung mag den Blick gefärbt haben, den der dem Zeitgeist abholde, gleichwohl aufgewühlte Goethe mittlerweile auf die kulturellen Bewegungen wirft, die bereits ihm als Gründungsepoche einer deutschen Nationalliteratur gelten durften, auf Geniezeit, Empfindsamkeit und Sturm und Drang. Für die patriotischen Phantasien und antinapoleonischen Wallungen von 1813 mochte nicht minder gelten, was das dreizehnte Buch in der Epidemie des Wertherismus um 1774 erkennt. Die kollektive Mode einer hypertrophierten Empfindsamkeit zeige nämlich, dass »moralische Epochen eben so gut wie die Jahreszeiten wechseln«. »Und doch«, fährt Goethe sogleich fort, »sind diese Dinge«, die mentalitätsgeschichtlichen Moden und Umbrüche, ebenso wie das Dämonische »nicht bloße Naturereignisse«. (MA XVI, 612f.) Wenn Dichtung und Wahrheit demnach die literarischen und kulturellen Bewegungen beschreibt, an denen Goethe selbst teilhatte, dann handelt es sich über weite Strecken um eine sozialpsychologische Klimageschichte. Es geht also um den wechselseitigen Einschlag von Natur in Freiheit und Freiheit in Natur, wie ihn die einleitende Notiz zu den Wahlverwandtschaften adressiert, wenn sie in der »Vernunft-Freiheit« die »Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit« erkennt. (MA IX, 285)
Nun befeuert zumal das bürgerliche Trauerspiel die moralische Klimaerwärmung. In einer, so weit ich sehe, kaum je gewürdigten, vielmehr meist konsterniert, mit exkulpatorischen Distanzierungen – vgl. den Kommentar von Peter Sprengel in der Münchner Ausgabe: Die »Herleitung der Adelskritik […] aus der ›Schadenfreude‹ des Theaterpublikums wird den historischen Voraussetzungen und der gesellschaftlichen Funktion des bürgerlichen Theaters nicht gerecht« (MA XVI, 1025), Goethes Polemik sei aus seiner Integration in den Weimarer Hof, aus seiner Ablehnung von Tendenzdichtung heraus und aus der Animosität gegenüber Kotzebue zu verstehen – oder gleich pikiert mit Schweigen übergangenen Passage bedenkt das dreizehnte Buch die Rolle des Theaters für jene »zartere Sittlichkeit« (MA XVI, 601), ja »allzu zarten Sittlichkeit« (MA XVI, 602), wie sie sich mentalitätsgeschichtlich um 1750 herausbildet. »Sittlich« dürfte das auf diesen Seiten am häufigsten fallende Wort sein: Als wollte es per Gegensinn – jedes ausgesprochene Wort errege den Gegensinn, hatte sich Ottilie in ihr Tagebuch exzerpiert (MA IX, 425) – die nicht eben sittlichen Folgen jener eskalierenden Tugendempfindsamkeit anzudeuten.
In diesem Zeitgeist hatte auch das Theater »eine Wendung nach dem Sittlichen« (MA XVI, 601) genommen, an der auch die Emilia Galotti mitwirkte. Goethes entschiedene Kritik geht jetzt weit über diejenige hinaus, die der junge Zeitgenosse am »nur gedacht(en)« Drama übte (Briefe, Bd.2, 19), an jener »dramatischen Algebra«, wie Friedrich Schlegel sie nennen sollte (Schlegel 1998, 116), die die tragische Katastrophe mit einer Folgerichtigkeit konstruiert wie sonst nur der Slapstick die komische. Jetzt, 1813, fällt sie förmlich vernichtend aus. In durchaus verletzender Absicht übergeht Goethe die Genredifferenz und erkennt in der Emilia die Repräsentantin einer Mode, die sich vor allem in Lustspielen und Satiren kundtue. In ihr gipfele die Tendenz eines politmoralischen Konformismus, der nicht etwa durch Mitleid bessere Menschen hervorbringt, sondern den Geist der Schadenfreude bedient. Die Mode, »die höheren Stände herabzusetzen und sie mehr oder weniger anzutasten«, wird von Lessing angeführt, der »den entschiedensten Schritt[…] in der Emilia Galotti [tat], wo die Leidenschaften und ränkevollen Verhältnisse der höheren Regionen schneidend und bitter geschildert sind. Alle diese Dinge sagten dem aufgeregten Zeitsinne vollkommen zu« (MA XVI, 603), und diesen in der Emilia kulminierenden Zeitgeist will Goethe zumindest in der Retrospektive um 1770 ebenso wenig geschätzt haben wie er den von 1789 oder 1813 billigen sollte.
Uns, die wir Lessing allseits als Innovator der Kritik, als kritischen Innovator schätzen, erscheint der Vorwurf, mit dem Zeitgeist konform zu gehen, freilich stark. Aber geht Goethe wirklich so fehl, wenn man an eine grob verzeichnete Figur wie Marinelli denkt, die so gar nicht der Forderung nach gemischten Charakteren genügt? Unterstreicht Lessings Verstoß gegen die eigene Poetik nicht die Diagnose Goethes, in jener »Wendung nach dem Sittlichen« bekunde sich das »zarte ja kranke Gefühl«, das »in schönen Seelen unter der Form der Gerechtigkeit« erscheine? Der Geist des Hypermoralismus begünstige daher »eine gewisse sittliche Befehdung« (MA XVI, 569). Und darin vollzieht sich naturförmig ein quasi dämonischer Vorgang, nämlich die Sündenbockmast im Zeichen einer theatralisch sich selbst genießenden Moralität. Diese wählt sich in mimetischem Furor »die theatralischen Bösewichter immer aus den höheren Ständen«. (MA XVI, 603)
IV.
Warum konnte Ottilie die Paradoxie der Genialität, die Nachahmung der Originalität und die Originalität der Nachahmung, erfolgreich ausblenden und die Position der Märtyrerin besetzen? Und warum erklärt Eduard ausdrücklich, er wäre als Dilettant gescheitert? Warum evoziert ferner der Name, den Eduard sich selbst gegeben hatte, den von Emilia Galottis Vater, Odoardo? (Jochen Hörisch hat in der Diskussion des diesem Text zugrundeliegenden Vortrags auf den Anklang des Namens Eduard an denjenigen Odoardos verwiesen.) Liegt hier etwa eine Analogie vor, nämlich zu Odoardo Galottis erklärtem Verzicht auf die Position des tragischen Opfers zugunsten seiner Tochter? »Sie erwarten vielleicht«, hält er dem Prinzen entgegen, »daß ich den Stahl wider mich selbst kehren werde, um meine Tat wie eine schale Tragödie zu beschließen?« (V/8, 204) (Seltsamerweise hat der Verzicht auf die Position des tragischen Helden Odoardo Galotti nicht davor bewahrt, zum Sündenbock einer ganzen Deutungstradition zu werden. Offenkundig spaltet die Sakrifizierung der Victima die vormalige Einheit von tragischem Helden und symbolischen Opfer bzw. Sündenbock auf. Die sakrifizierte Victima bedarf nun der Sündenböcke, gegebenenfalls auch außerhalb des Werks. Daher verzichtet die Emilia auf die poetische Gerechtigkeit: »Das Publikum bleibt aufgefordert, das Werk zu vollenden, das mit einer himmelschreienden Ungerechtigkeit schließt. Die säkulare Gestalt der Vorsehung ist das weltumspannende Wir: Wir, die Guten, müssen gegen den Missstand angehen, der uns aus diesem unbefriedigenden Schluss entgegenkommt«. So, wenn auch nicht mit Bezug auf Lessings Drama, Ulrich Schödlbauer, 2014, 67). Eine Antwort lässt sich nur auf Umwegen rekonstruieren. Sie hat mit einem Strang aus der Geschlechtersemantik der Moderne zu tun, in der sich die Wahlverwandtschaften und Emilia Galotti heimlich verbunden wissen. Ich kann ihn hier, zum Schluss kommend, freilich nur unvollkommen skizzieren.
Das bürgerliche Trauerspiel propagiert ein Ideal der Tugend, wie es sich am reinsten in der noch nicht von der äußeren Welt korrumpierten Tochter verkörpert. Sie ist es, die der höfischen Gesellschaft in Gestalt des adligen Verführers zum Opfer fällt. Darin bucht es das symbolische Kapital des Sacrificiums um auf das Konto der weiblichen Victima. Ihr Sterben verwandelt sich in einen symbolischen Sieg. Seither wird Emilia, seither wird dem weiblichen Opfer gehuldigt. Das geht aber, Goethe zufolge, zu Lasten neuer, undurchschauter Sündenböcke: Die mimetische Negativität richtet sich z.B. einmütig auf die höheren Stände. Indem nun das bürgerliche Trauerspiel die »Motive traditioneller Hofkritik« (Barner et al., 1987, 210, ausführlich Kiesel, 101ff., 220ff.) bündelt, versammelt es ein semantisches Arsenal, mit dem bald die Kritik an der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft operieren kann. Es stellt bekanntlich die »Herzensgemeinschaft der Familie«, ihren von zärtlichen Gefühlen durchwirkten Privatraum der durch Zeremonialität, Affektkontrolle, Verstellung und Intrigen gekennzeichneten höfischen Öffentlichkeit entgegen. Die Topoi der Entfremdungsdiagnose werden in der Hofkritik geprägt, um bald die schlechte Äußerlichkeit der bürgerlichen Öffentlichkeit und zumal das fragmentierende Wirken in den Funktionssystemen zu beklagen. Ganz in diesem Sinne geht z.B. Kabale und Liebe den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen voraus.
Zugleich wird der Antagonismus zwischen entfremdeter Gesellschaft und sinnerfüllter Interaktion im Privaten geschlechtersemantisch hypercodiert: Im Manne, der bekanntlich hinaus muss ins feindliche Leben, symbolisiert sich die Negativität der Moderne, indem er oft stereotyp als Wesen beschrieben wird, das von Natur aus gewalttätig, egoistisch, asozial, hypersexuell, gefühlskalt und kommunikationsunfähig sei. »Viele Thiere werden ganz aussterben«, schreibt Friedrich Schlegel, »so auch das Geschlecht der Männer«: »Nur d[er] weibliche Leib ist eigentl[ich] ein Leib zu nennen, wegen d[er] sichtbaren Andeutung d[es] Innern. Viele Thiere werden ganz aussterben; so auch das Geschlecht d[er] Männer.« (Schlegel (2) 1958ff., 188, Nr. 741; Hervorhebung im Original.)
Die durch Sittlichkeit und moralische Integrität gekennzeichnete, nicht entfremdete, sondern sinnhafte Existenz findet ihr Symbol dagegen in aller Regel in einer um 1800 neu konfigurierten Semantik der Weiblichkeit. »Das weibliche Geschlecht«, sagt der Erzähler in den Wahlverwandtschaften, übt »eigentlich das Regiment [aus], dem sich in der gesitteten Welt kein Mann zu entziehen wagt.« (MA IX, 447) Und schon im Tasso hieß es bekanntlich: »Willst du genau erfahren was sich ziemt/ So frage nur bei edlen Frauen an./ […] Das zarte leicht verletzliche Geschlecht./ Wo Sittlichkeit regiert, regieren sie.« (MA VI.1, 697)
Ich habe damit in aller Holzschnitthaftigkeit die These von Christoph Kucklicks bahnbrechender Untersuchung Das unmoralische Geschlecht. Zur negativen Andrologie der Moderne referiert. Kucklick sind freilich nicht nur die eben von mir zitierten Belege entgangen. Er übersieht auch, wie sehr Lessing an der Umwertung der geschlechtersemantischen Werte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mitgewirkt hat. In einer auffällig selten kommentierten Passage, und zwar unmittelbar bevor er dem Wunsch seiner Tochter nachgeben wird, er möge sie erdolchen, hält Odoardo Galotti die folgende Lobrede auf das weibliche Geschlecht:
Lessings Wendung vom weiblichen als dem besseren Geschlecht sollte unmittelbaren und zudem starken Widerhall finden. 1798 publiziert der preußische Kriegsrat Erhard Valentin Jakob Sprengel ein Werk mit dem Titel: Das andere Geschlecht das Bessere Geschlecht. Und der philanthropische Theologe Carl Friedrich Pockels, neben Karl Philipp Moritz Herausgeber des Magazins für Erfahrungsseelenkunde, schreibt 1805: »In diesen Rücksichten hat man es wagen können und dürfen, das weibliche Geschlecht bisweilen das bessere zu nennen, weil es im Allgemeinen weniger egoistisch ist.« (119 – vgl. Kucklick, 88) Noch Eckermann überliefert, wie Goethe in einem Gespräch über Byron gesagt haben soll, »seine Frauen […] sind gut. Es ist aber auch das einzige Gefäß, was uns Neuern noch geblieben ist, um unsere Idealität hinein zu gießen. Mit den Männern ist nichts zu tun.« (MA XIX, 230f.)
Inwiefern man in den Wahlverwandtschaften auch eine Kritik geschlechtersemantischer Hypercodierungen entziffern kann, muss hier offenbleiben. Geschlechtersemantiken der Moderne schlagen sich jedoch auch in ihnen nieder. So eben in der gelingenden Selbstsakrifizierung Ottiliens. Der Roman beschreibt, sarkastisch freilich, Frauen als Subjekte der Sittlichkeit, Männer hingegen als Objekte von Modernisierung. Das erhellt aus einem Detail am Rande. In eben dem 7. Kapitel des zweiten Teils, das in Frauen die Regentinnen der sittlichen Welt erkennen wollte, tauschen sich Charlotte und Ottilie mit dem Gehülfen über die Erziehung der Geschlechter aus. Die Forderung des Gehülfen, Männer zu Dienern zu erziehen, indem man sie allesamt in Uniformen steckt, findet nicht nur den Beifall der Frauen, die ja mittlerweile das Haus führen. Sie sollte ohnehin Schule machen.
In der Vormoderne konnte aristokratische Männlichkeit als das repräsentative Geschlecht gelten. Entsprechend war es ihr vorbehalten, schreibt Barbara Vinken, den Körper und seine Reize zur Schau zu stellen. In der Moderne hingegen würden Männer zu Funktionsträgern in den Institutionen und Organisationen der Moderne, in den Betrieben, Verwaltungen, Universitäten und Armeen. Anzug und Uniform lassen ihn als Individuum hinter die Körperschaft, die er repräsentiert, zurücktreten. Oder, in den Worten des Gehülfen:
In den Wahlverwandtschaften, dieser literarischen Experimentalkonstellation schlechthin (Gamper, Hohlfeld), unternimmt Goethe also daher ein bis dato unerhörtes Experiment. Er besetzt die Position der Moralität durch eine weibliche Figur, deren Moral zumindest zweifelhaft erscheint und reagiert darin auf die mit Lessing erfolgreich einsetzende literarische Opferpolitik. Goethe konnte zwar Heinrich von Kleists 1808 entstandene, aber erst 1821 vollständig im Druck vorliegende Herrmannsschlacht nicht kennen, die den Erfolg dieser Politik so drastisch belegt. Wie sehr Kleist von Lessing gelernt hat, zeigt Susanne Lüdemann. In der berüchtigten Hally-Szene spitzt die Herrmannsschlacht die Opfer- zur Partisanenpolitik zu: Herrmann läßt die von Römern vergewaltigte, daraufhin vom Vater getötete Hally zerstückeln und mobilisiert die germanischen Stämme gegen die Usurpatoren.
Zwar setzt mit den Wahlverwandtschaften eine Tradition ästhetischer Distanzierungen von einer in aller Regel undurchschaut ästhetisch fundierten Viktimologie ein. Es gehört freilich zu den seltsamen Ironien der jüngeren Deutungsgeschichte, dass gerade diese Tradition gerne wieder viktimologisch aufgeladen wird. Nämlich von denjenigen Spielarten der Humanities, die sich mit ästhetischen Gegenständen befassen, um sie opferpolitisch zu lesen. Wie viele Deutungen wollten selbst in Emma Bovary ein Opfer sehen! Und mussten dabei überlesen, wie sehr die Titelheldin »voll Überschwang berühm(te) oder leidgeprüf(te) Frauen« verehrt; wie sie dann Ansprüche anmeldet, weil sie glaubt, »große Opfer gebracht zu haben« und schließlich »eine Heilige« werden will.
Und auch Theodor Fontane mochte seiner Effi Briest noch so viele erzählerische Distanzgebärden mitgegeben haben: Unzählige Deutungen begriffen das Schicksal der bedauernswerten Titelheldin als patriarchatskritische Steilvorlage. Fontane selbst hingegen hat mehrfach seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, in welch starkem Maße seine Leser mit der Titelfigur mitfühlen, um im Gegenzug Innstetten als »alten Ekel« zu verunglimpfen: »Ja, Effi! Alle Leute sympathisieren mit ihr« (Brief an Clara Kühnast vom 27. Oktober 1895, in: Fontane, 1982, 493f.). Leserinnen und Leser stellen, Fontane zufolge, dadurch unter Beweis, »wie wenig den Menschen an der sogenannten ›Moral‹ liegt und wie die liebenswürdigen Naturen dem Menschenherzen sympathischer sind« (an Clara Kühnast, 27. Oktober 1895).
Wohl in Anlehnung an den großen Ehebruchroman Goethes betreibt Fontane einigen Aufwand, Effi als eine Victima zu schildern, die, kaum anders als Ottilie, zuletzt aktiv ihre Verklärung in eine Heilige, ins Sacrificium betreibt. Die Titelheldin, die Tochter der Luft, stirbt nicht anders als Dumas’ Kameliendame bzw. Verdis La Traviata oder Puccinis Mimi an ihrer Lungenkrankheit, der Tuberkulose. Kurz bevor Effi stirbt, schreibt ihr der Erzähler eine »Verklärtheit« (293) zu, wie sie einschlägig Heiligen zukommt. Ob sie, der es auf ihrer Schaukel so häufig war, als flöge sie in den Himmel auf, auch tatsächlich hineinkomme, will Effi später vom Pastor Niemeyer wissen. Der bestätigt es ihr, indem er ihr gleichsam sakramental einen Kuss auf die Stirn gibt (295). Im Bewusstsein, wie attraktiv sich die Position des Opfers ausnehmen kann, wiederholt Fontane sein Erstaunen, dass wirklich alle Effi lieben und Innstetten verabscheuen. Letzterer brauche ja
Die singuläre Stellung der Wahlverwandtschaften bekundet sich also auch darin, dass sie die von Lessing mitgeprägte Festlegung von Weiblichkeit auf die Position der Sittlichkeit der Beobachtung aussetzen und relativieren. Weil diese Position so ambivalent ausfallen kann, dürfen in Goethes abweichender Sicht auch Frauen böse, bzw. dürfen Frauen auch böse sein; bzw. so zwielichtig und dämonisch erscheinen wie Ottilie. Goethe verhält sich skeptisch gegenüber geschlechtersemantischen Hypercodierungen. »Denn, geht es zu des Bösen Haus,« singen Hexenmeister und halbes Chor in der Walpurgisnacht des ersten Faust, »das Weib hat tausend Schritt voraus«. Die andere Hälfte antwortet bekanntlich: »Mit tausend Schritten macht’s die Frau;/ Doch, wie sie auch sich eilen kann,/ Mit einem Sprunge macht’s der Mann.« (MA VI.1, 653)
Es sind zumeist satanische Kontexte, scheint Goethe sagen zu wollen, in denen die Werte von Gut und Böse bündig auf die Geschlechter verteilt werden.
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