1 = 1. Das gehört zu den intuitiven Wahrheiten, die immer wieder das Staunen darüber anfachen, dass es Aussagen gibt, an denen zu rütteln hieße, eigene und anderer Leute Zeit zu verschwenden. Andererseits bedarf es keiner besonderen Anstrengung, zweimal denselben Ausdruck hinzuschreiben und ein Gleichheitszeichen dazwischen zu setzen. Spannend wird es dann, wenn links und rechts des Gleichheitszeichen ungleiche Terme auftauchen: A = B. Warum denn das? Muss das sein? Genügt es nicht, A = A sein zu lassen? Warum die Dinge komplizieren? Oder, da sie nun einmal kompliziert zu sein pflegen: Warum das Einfache dadurch komplizieren, dass man es einem anderen Einfachen gleichsetzt? Oder, wenn schon gleichgesetzt werden soll, was sich doch offenkundig unterscheidet, warum so eigenschaftslos, so lapidar?
Man kann, wie die Vordenker der Französischen Revolution, der Kommunismus oder die EU-Kommission, die Gleichheit auf seine Fahnen schreiben. Dann geht es nicht mehr ums Einmaleins, auch nicht um das Verhältnis von A und B, sondern um den Menschen und seinen Anspruch auf Gleichheit. Welche Gleichheit? Zweifellos eine, die durch Überzeugung hergestellt wird: Alle Menschen sind gleich. Sie sind Menschen, gewiss, sie gleichen sich hinsichtlich ihres Menschseins wie ein Ei dem anderen. Wenn der Mensch frei geboren ist und überall in Ketten liegt, wie Rousseau einst äußerte, dann ist die Herstellung von Gleichheit die Voraussetzung dafür, dass alle die Früchte der Freiheit genießen können.
Andererseits ist, wie Kundige seit geraumer Zeit wissen, die Herstellung von Gleichheit ein langer und mühsamer Prozess, in dessen Verlauf die Freiheit immer wieder abhanden kommt und neue Formen der Ungleichheit das Licht der Welt erblicken – eine desaströser als die andere. Die Formel Gleichheit = Ungleichheit hat nicht auf Orwell warten müssen. Sie wurde von jedem Revolutionsführer mit größter Selbstverständlichkeit exekutiert. Denn nur wer für Ungleichheit sorgt, sei es in den Kommandostrukturen, sei es bei den Aus-, sei es bei den Einkünften, kann den Prozess der Gleichmacherei effizient vorantreiben, wie die Brüsseler Behörde ad oculos demonstriert.
Auf jeder Stufe der Gesellschafts- und Rechtsgeschichte kommt es zu Friktionen des Rechtsgefühls. Die Allianz zwischen der Idee der Gerechtigkeit und dem Projekt der Gleichheit mag, menschheitsgeschichtlich gesehen, jüngeren Datums sein. Aber als ein genuines Stück Aufklärung ist sie der Ideengeschichte Europas und des Westens inhärent. Als mächtiger Motivgeber der Realgeschichte avancierte sie zu Europas Schicksalsmacht Nummer eins: Wer sich – grob gesprochen: in den letzten hundert Jahren – ihres Beistandes nicht versichern konnte, dem ließ sich mit relativ bescheidenen prophetischen Gaben der Untergang vorhersagen, auch wenn letzterer erst unter Strömen von ›Blut, Schweiß und Tränen‹ herbeigeführt werden musste.
Muss das so bleiben? Ein Blick auf den Atlas der Konflikte lehrt: Überall dort, wo die Idee der Gleichheit nicht fest in traditionellen kulturellen Mustern verankert ist, gilt sie mehr und mehr als Restposten des Kolonialismus oder wird als Mittel der Dekonstruktion und Destruktion in polemisch-propagandistischer Absicht … missbraucht, müsste man sagen, wüsste man nicht, dass auch der Missbrauchsvorwurf von Anfang an (und auf allen Stufen) in ihr residiert. Gleichheit ist ein perspektivischer Begriff – was den einen als notwendiger Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung der notorisch Ungleichgestellten erscheint, lässt die anderen als öde Gleichmacherei bis ins Mark erschauern. Spätestens dort, wo die biologische Ausstattung des Menschen unerbittlich in den Sog utopisch wirkender Gleichheitsformeln gerät, liegt die Annahme der Überideologisierung und der ›Hysterisierung‹ nahe. Und gerade da wird es spannend.
Gleichheit kommt vor dem Fall – jedenfalls dann, wenn er aktenkundig wird. Schon der Klassiker unter den Gleichheitsmaschinen, die Gleichheit vor dem Gesetz, wird durch extrem ungleiche Rollenverteilung zwischen den Prozessbeteiligten in Gang gesetzt und kontrolliert, in besonderen Fällen konterkariert und zur Farce degradiert. Könnte es sein, dass bisher kaum jemand Kafkas Parabel Vor dem Gesetz als eine ausgedehnte Paraphrase des Satzes, nach dem vor dem Gesetz alle gleich sind, wirklich durchdekliniert hat? Den Versuch wäre es wert. Manchen Prozessneuling erinnert bereits die Figur des Türhüters, der den Menschen vom Lande vom weiteren Vordringen ins Innere des Gesetzes abhält, lebhaft an seinen Anwalt: Am besten, Sie unterschreiben hier und überlassen mir den Rest.
Februar 2018
Die Herausgeber
Abb.: 2 male paradise fishes are fighting for territory by their mouth.
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