Renate Solbach: Sarkophag

Klaus Wolfram versucht sich an der Erklärung der aktuellen Unzufriedenheit zwischen vielen (ehemals) Westdeutschen und vielen (ehemals) Ostdeutschen. Er versucht es aus Sicht eines (marxistischen) Gesellschaftsarchitekten, der bereits vor dreißig Jahren am Willen der meisten seiner außerhalb Ostberlins lebenden Landsleute in der ehemaligen DDR scheiterte. Ich sage an dieser Stelle: Zum Glück!

Ich für meinen Teil wollte jedenfalls nicht länger mit den Gesellschaftsarchitekten in und außerhalb der SED in der größten DDR der Welt allein zu Hause bleiben. Und als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90 spürte ich das sogar hautnah mit vielen anderen. Millionen Ostdeutscher, die damals die Straße für sich eroberten, wollten nach Nationalsozialismus und (realem) Sozialismus definitiv kein weiteres sozialistisches Großraumexperiment. Auf etwas anderes wäre es nicht hinausgelaufen, was Klaus Wolfram in seiner Rede Was war und zu welchem Ende kam die politische Energie der Ostdeutschen? vom 8. November 2019 (Iablis 2019) skizziert.

Klaus Wolfram lobt die erzwungene Gleichmacherei/Nivellierung von Arbeitern, Meistern, Angestellten, Ingenieuren, Ärzten, Wissenschaftlern mittels der neuen Gesellschaftskategorie ›Teilarbeiter‹ in der DDR. Mao und seine Blaumänner lassen grüßen. Bei Klaus Wolfram sollen vorher Gleichgemachte gleiche Chancen erhalten? Das konnte nach 1989/90 nichts werden.

Klaus Wolframs Gesellschaftsziele wurden bis 1989 in der DDR verwirklicht. Sie benötigten zu ihrer Absicherung lediglich Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl, MfS.

Wo Klaus Wolfram seine DDR-Brötchen verdiente, das weiß ich nicht. In der DDR-Realität, in der ich lebte und arbeitete, lebten die an Leistung nicht Interessierten immer und überall auf Kosten des faktisch überall vorhandenen Drittels, welches aus unerfindlichen Gründen auch unter Bedingungen nicht möglicher leistungsgerechter Bezahlung gern Leistungen erbrachte.

Mein Vater war so einer. Das kommunistische System zutiefst verachtend, machte er seine Arbeit als Fernmeldetechniker in der Braunkohle immer gern. Er war Leistungsträger in seiner Brigade und wurde dennoch nie ausgezeichnet. Das wurden immer andere, die fauler waren, dafür die ideologischen Vorgaben über den „neuen Menschen“ im Schlaf herbeten konnten. Klaus Wolframs Vorstellungen über den »neuen Menschen«?

Weiter beklagt Klaus Wolfram die Arbeit der Treuhandanstalt, ohne Bezug zum aktuellen Forschungsstand (Norbert F. Pötzl, Der Treuhandkomplex, kursbuch edition 2019) zu nehmen. Faktisch führt er damit die diffamierende PDS-Linie der 90er Jahre fort, ohne zu wissen (?), dass die Treuhandanstalt eine Folge der systemisch falsch angelegten Wirtschaftspolitik der SED (leistungserdrosselnde Gleichmacherei) war und der tatsächliche Stillstand der DDR-Wirtschaft vor der Installierung der Treuhandanstalt lag.

Am Willen, Marxens Kapital zu drucken, lag es nicht. Die Druckmaschinen waren desolat, Ersatzteile gab es nicht. So war das in der sozialistischen Produktion. Zumindest die DDR‑Proleten wussten das 1989, was Klaus Wolfram heute noch nicht weiß.

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Der Leser wird es bemerkt haben: Ich lasse kein gutes Haar an Klaus Wolframs Thesen. Dabei liefert er tatsächlich Stichworte, über die zu diskutieren sich lohnen würde: (ehemals) ostdeutsche Unter-Repräsentanz in Medien, Vorständen usf. usf. Doch begeht er erneut einen grundlegenden Fehler. Wolfram macht der ›altbundesdeutschen‹ Hand den Hauptvorwurf. Die hätte den Zugang Ostdeutscher verhindert.

Genau das hat sie aber nicht. Wer das Lied der SED-Sozialisten und der West‑68er sang und singt und heute sozialistisch‑grün jubiliert, der kommt in die Medien und in die Vorstände und in die Talkshows. Wer nicht oder eklatant unterrepräsentiert da reinkommt, das sind die vielen (ehemals) Ostdeutschen, die (auch Klaus Wolframs) Gesellschaftsarchitekturideen abhold sind. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Die meisten Ostdeutschen haben mit den Liedern und Gesängen der SED-Reformer und ihrer westdeutschen Freunde nichts am Hut und fühlen sich zunehmend betreut belehrt.

Klaus Wolfram beschwert sich über den Begriff ›totalitär‹ in Bezug auf die Diskussion über die DDR. Das verstehe, wer will! Die DDR bezeichnete sich selbst als Diktatur, schuf sich sämtliche Insignien einer Diktatur und darf nicht totalitär genannt werden?

Weiter spricht er von einem Missbrauch des Themas ›Stasi‹ seitens einer »westdeutschen Vorstellungswelt«. Es waren doch Millionen Ostdeutscher, die 1989 die Offenlegung der Stasiakten forderten, die einen Elitenaustaustausch wollten, und es waren ostdeutsche Bundestagsabgeordnete, die ihren Herbst‑89‑Auftrag im gesamtdeutschen Parlament ab 3.Oktober 1990 nicht vergaßen und ihre westdeutschen Kollegen von der Notwendigkeit einer Stasiunterlagenbehörde überzeugten. Was sich der Laie bitte als nicht sehr einfach vorstellen sollte. Es war ein sehr schwer errungener Erfolg Ostdeutscher, im Bundestag diese Behörde mehrheitlich ins Bundesgesetzblatt zu bringen.

Mein Hauptvorwurf jedoch geht an Klaus Wolfram für seine Geschichtsverdrehung, was das Volkskammerwahlergebnis 1990 und die aktuellen geschichtsvergessenen Bemühungen um RRG‑Koalitionen in Bund und Ländern angeht. Klaus Wolfram besitzt die Chuzpe und rechnet die 16 Prozent PDS und die 22 Prozent SPD am 18. März 1990 zu einer damals wie heute unbekömmlichen Reformperspektive zusammen. Das ist mehr als irritierend.

Die SPD-DDR 1990 stand auf einem strikten antitotalitären Konsens und taugte gewiss nicht zu einem Bestandteil einer auch nur irgendwie sozialistisch gearteten ›Reformperspektive‹! Die PDS war die SED im neuen Gewand, die SPD der freiheitliche Gegenentwurf zur PDS. Was sich genauso auf die Wähler beider Parteien aufschlüsselte. Auch da passte damals nichts und selbst heute noch nicht viel, wie an den Ergebnissen von RRG landauf landab abzulesen ist.

Deutlicher gesagt, die SPD-DDR hätte die 0,9 Prozent des ›Demokratischen Aufbruchs‹ am 18.3.1990 sicher nicht getoppt, wäre sie vom Wahlvolk in einer ›Reformperspektive‹ mit der PDS verortet worden. Das wären dann 16 PDS plus 0,9 Prozent SPD plus »5 Prozent Bürgerbewegungslisten« (Wolfram) gleich 21,9 Prozent wolframsche ›Reformperspektive‹ geworden. Wahrscheinlich nicht einmal das. Denn wären auch die ›Bürgerlisten‹ im PDS-Lager verortet worden, wären es wohl nicht einmal 5 Prozent geworden.

Ein letzter Hinweis an Klaus Wolfram. Die Volkskammerwahl 1990 gewannen die Parteien, die für die Deutsche Einheit eintraten. Dazu gehörte ausdrücklich die SPD. Nur im angestrebten Tempo auf diesem Weg unterschieden sich die ›Allianz für Deutschland‹ und die Sozialdemokraten in der DDR.

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Die Mehrheit der Ostdeutschen war 1990 klug genug, die Idee eines sogenannten Dritten Weges zwischen ›Sozialer Marktwirtschaft‹ (irreführenderweise wird an dieser Stelle von Sozialisten der Begriff ›Kapitalismus‹ verwandt) und ›Sozialismus‹ in die Schranken zu weisen. Heute bleibt zu konstatieren, mit der sogenannten Energiewende und dem planmäßigen Abbau des Wirtschafts‑, Automobil- und Energiestandorts Deutschland begibt sich die Bundesrepublik derzeit auf diesen ›Dritten Weg‹. Noch nie wurde Wirtschaftspolitik unter den Bedingungen von Freiheit und Demokratie dermaßen gelenkt und verrenkt.

Klaus Wolfram sollte sich umsehen, sich an den Verhältnissen erfreuen und nicht klagen. Die Bundesrepublik 2019 folgt ihm mehr, als er sich 1990 vorstellen konnte. Und weil sie ihm folgt, geht das Volk erneut von der Stange. Wie schon 1989/90.

 

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