Renate Solbach: Sarkophag

Heinz Theisen: Der Westen und die neue Weltordnung, Stuttgart (Kohlhammer) 2017

Der Autor legt mit seinem neuesten Werk eine brillante Analyse der sich abzeichnenden Veränderungen der Weltordnung vor und zeigt Ansätze auf, die aus der daraus resultierenden, teilweise selbstverschuldeten, Krise des Westens führen könnten. Nach dem Ende des Kalten Krieges erschienen die westlichen Demokratien als Sieger eines Wettbewerbs der Systeme. Der »Westen« ist mittlerweile nur noch – wie wir wissen – ein wichtiger politischer Player neben vielen anderen Akteuren, die auch noch in Ihrer Interessenlage recht unterschiedlich aufgestellt sind und eine unübersichtliche Lage erzeugen. Hier setzt der Autor an: Während der Westen zunehmend durch politische »Überdehnungen« an Einfluss verliere, so der Politikwissenschaftler, die USA und Europa sich verstärkt nach innen orientierten, seien China und Russland dabei ihre eigene Machtsphäre auszumachen, in diesem Prozess stellten sie die liberalen Werte immer mehr infrage. Den ökonomischen Potentialen der Schwellenländer hingegen stünde im inneren System noch keine entsprechende politische Macht gegenüber. Brasilien sei an Außenpolitik nicht richtig interessiert, Indien hingegen habe derzeit mit innenpolitischen Problemen so zu kämpfen, dass hier mit Beiträgen für eine neue Weltordnung nicht zu rechnen sei. Der Glaube an Global Governance weiche weltweit immer mehr dem Relativismus und Realismus. Man müsse auch feststellen, dass jede Nation nur noch an sich denke und der Traum von einer multilateral organisierten Welt, in Konferenzen und Verhandlungsrunden globale Probleme wie etwa den Klimawandel nachhaltig lösen, der breiten Skepsis gewichen sei. Den westlichen Demokratien fehle es an einer Strategie gegenüber diesen Entwicklungen.

Der Autor zeigt als Ausweg aus diesem Dilemma sehr überzeugend auf, wie der »Westen« mit seinen Werten und seinem liberalen Selbstverständnis trotzdem über genügend Potentiale verfügt, um sich in der neuen Weltordnung zu orientieren. Er macht uns Hoffnung und betätigt sich nicht als Untergangsprophet. Theisen schlägt dem »Westen« eine Doppelstrategie vor: »Mit Selbstbegrenzung nach außen und Selbstbehauptung nach innen« könnten die westlichen Demokratien auch außenpolitische Stabilität gewinnen. Die Begrenzung müsse unterschiedliche Werteordnungen und kulturelle Eigenarten akzeptieren, die globale Entgrenzung müsse hingegen vor allem für Wissenschaft, Wirtschaft und Technik gelten. Eine Folge wäre eine Politik der Nichteinmischung in andere Kulturen. Nur so entstünde für Alle ein politischer und ökonomischer Mehrwert. Diese These bedeute aber den endgültigen Abschied vom westlichen Universalismus und dem Anspruch, damit »die Weltgemeinschaft besserwisserisch zu dominieren«. Der Wissenschaftler plädiert für die Anerkennung der sich ausprägenden multipolaren Weltordnung durch den Westen, in der u.a. die USA, China, Russland und Europa eine Rolle spielen sollten. Praktisch bedeute diese Strategie, dass die USA und Europa die entstandene Multipolarität mit den teilweise neuen Machtzentren (Nationen, aber auch globale Unternehmen und religiöse Bewegungen) akzeptieren müssten und eine Zusammenarbeit mit aus ihrer Sicht ideologiefernen Staaten – wie etwa China und Russland – nicht ausschließen dürften. Das führe natürlich zugleich auch zu der Anerkenntnis, dass es nicht mehr um die einfache Auseinandersetzung von linken und rechten Ideologien geht, sondern um den »immer noch unverstandenen, wichtigen Gegensatz zwischen Entgrenzung und Begrenzung«, ein Gegensatz, der in dem Buch an vielen Beispielen ausführlich und schlüssig dargelegt wird.

Nach Theisen dürfe sich die USA nicht aus der Weltpolitik zurückziehen, sondern müsse die Verantwortung mit anderen Mächten sinnvoll teilen. Eine Chance für eine Zusammenarbeit sieht der Politikwissenschaftler u.a. in den wachsenden Gefahren aus dem global agierenden Kapital, aus der unkontrollierten Einwanderung, dem Terrorismus und der internationalen, globalen Kriminalität.

Ausgehend von diesen Prämissen ist sein Blick auf Europa eindeutig: Die Europäische Union bräuchte dringend Mitglieder, die auch zu Problemlösungen beitragen wollen, »die für eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Grenzpolitik stehen und den Grundsatz »Einheit und Stärke nach außen, subsidiäre Vielfalt nach innen«, teilen würden.

Der Autor beweist in seinem komplexen Buch hohe politikwissenschaftliche Analysefähigkeit und stellt seine internationalen Kenntnisse unter Beweis. Er wagt neues Denken und überschreitet Denkblockaden, er fordert den uneingeschränkten Diskurs. Theisen verfügt über die ungewöhnliche Gabe abstrakte Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. Ein sehr empfehlenswertes Buch.

(Eine gekürzte Fassung dieser Besprechung erschien am 14.2.2019 in der Neuen Zürcher Zeitung)