Renate Solbach: Sarkophag

GERD SPITTLER: Anthropologie der Arbeit. Ein ethnographischer Vergleich, Wiesbaden (Springer VS) 2016, 301 Seiten

In einer Rezension der Festschrift zum 65. Geburtstag von Heinrich Popitz (Hans Oswald, Hg.: Macht und Recht. Opladen 1990), die ich Anfang der Neunziger für die Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie verfasst habe, schrieb ich über die Beiträger: »Die Autoren gruppieren sich nicht zu einer abgrenzbaren soziologischen ›Schule‹, es sind einfach gute Soziologen. Sie führen vor, was der Jubilar vorgeführt hat, was Soziologen können können. Eigenständigkeit provoziert Eigenständigkeit.«

Gerd Spittler war in der Festschrift mit einem Kabinettstück über »Führer und Karawane in der Wüste« vertreten. Er hatte bei Popitz mit einer Arbeit über den Sanktionsmechanismus unter anderem anhand von Konflikten zwischen Köchen und Spülern in einer Restaurantküche (Norm und Sanktion, Olten 1967) promoviert, lehrte dann einige Jahre in Heidelberg und Freiburg und erhielt 1988 einen Lehrstuhl für Ethnologie an der Universität Bayreuth. Schon seit den späten siebziger Jahren betrieb er jahrelange ethnologische Feldforschungen in verschiedenen Regionen Afrikas, vorzugsweise bei den Kel Ewey in Niger, einem Stamm der Tuareg.

Die hier zu besprechende Anthropologie der Arbeit kann mit Fug und Recht als Hauptwerk, als eine theoretische und empirisch-materiale Bilanz dieses langen Forscherlebens angesehen werden. Und es ist gerade die Verbindung von analytisch anspruchsvoller, aber ohne jeden Einschüchterungsgestus auskommender origineller Theoriebildung und empirischer ›Sättigung‹ durch eine Vielzahl von Fallstudien, die die Außergewöhnlichkeit und den Reiz dieses Buches ausmacht.

Der Band gliedert sich in zwei große Abschnitte. Der erste Teil entwickelt in sechs Kapiteln eine eigenständige anthropologische Theorie der Arbeit (genauer: des Arbeitens); der zweite Teil (»Ethnographische Fallstudien«) stellt in sieben weiteren Kapiteln eine Vielzahl ethnologischer, volkskundlich-historischer und soziologischer Einzeluntersuchungen aus unterschiedlichsten Regionen und Zeiträumen vor, die im Rahmen des zuvor ausgearbeiteten Grundgerüsts interpretiert und verglichen werden.

Eine Grundidee des Theorieteils ist der Übergang vom Substantiv zum Verb. Nicht die gesellschaftstheoretische Verortung von ›Arbeit‹, sondern die objektiv-gegenständliche Beschaffenheit und die subjektive Bedeutung, ja die Bedeutungen des Arbeitens  stehen im Zentrum der Untersuchung. Nicht was Arbeit ›ist‹, sondern was es – unter unterschiedlichsten Umständen – heißt, zu arbeiten, ist das durchgängige Erkenntnisinteresse.

Worin bestehen nun diese Kennzeichen? Da ist als Erstes die schlichte Notwendigkeit der Arbeit. Wenn Menschen arbeiten, so tun sie dies, um damit ihren Lebensunterhalt zu gewährleisten und zu sichern. Arbeiten ist ein Grundelement des Lebens, ohne Arbeit (mitunter: die Arbeit anderer) gibt es kein Überleben des Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt. Arbeiten-Müssen ist für die allermeisten Menschen eine Notwendigkeit, der sie sich nicht entziehen können; es ist etwas, das ihnen auferlegt ist.

Das zweite Merkmal sind Konzentration und Anstrengung. Arbeitend müssen wir ›bei der Sache‹ sein; die Präsenz anderer Orientierungen ist dabei zwar keineswegs ausgeschlossen, muss aber nachrangig sein. Weil sie den Lebensunterhalt sichert, darf die Arbeit nicht ins Belieben alltäglicher Stimmungen gestellt werden. Arbeit ist anstrengend, belastend und ermüdend. Sie hat stets auch eine quantitative Dimension: »Arbeit ist immer auch ein Wegschaffen von Arbeit«, hat Hans Paul Barhdt einmal formuliert. Sie ist etwas, das ›erledigt‹ werden muss.

Arbeit verschleißt und kostet viel Lebenskraft, man kann sich mit ihrem Inhalt aber auch stark identifizieren und sie kann darüber hinaus sehr stolz machen. Der bulgarisch-französische Philosoph Tzvetan Todorov nennt das Gefühl ›gut getaner Arbeit‹ als Beispiel dafür, dass es einen Typus von Erfülltheit und Selbstanerkennung gäbe, der gerade nicht über die wertschätzende Anerkennung Dritter vermittelt sei: Es stellt sich letztlich im einsamen Verhältnis zwischen dem Arbeiter und dem Resultat seiner Arbeit ein, wobei über die internalisierten Kriterien von Qualität und ›Gelingen‹ auch hier die Relevanzen der Gruppe und der Gesellschaft freilich eine gewisse Rolle spielen.

Mithin steht dem Arbeitsleid nicht selten die Arbeitsfreude gegenüber, die einem rein instrumentellen Verständnis des Arbeitens entgegensteht: »Menschliche Arbeit ist zwar ein Mittel, um einen Zweck zu erreichen, aber sie ist nie nur ein Mittel. Als lebendige Arbeit ist sie Teil des menschlichen Körpers. Arbeit lässt sich zwar instrumentalisieren, aber nicht vollständig. Es bleiben Neugierde, Schönheitsempfinden und ein spielerischer Umgang.« (S. 22)

Drittens: die hochvariable Bedeutung von Raum und Zeit. Arbeiten erfordert ein zumindest rudimentär abgegrenztes Territorium: einen ›Arbeitsplatz‹, und es unterliegt in allen Gesellschaften und Kulturen einer mehr oder minder festgelegten zeitlichen Struktur. Die Arbeit hat einen Anfang und ein Ende, und irgendwann ist sie ›getan‹. Auch hier gibt es freilich eine große Bandbreite und Variabilität im Sachtypus der verschiedenen Arbeiten: Es gibt feste Arbeitsplätze in Innenräumen (Haushalt oder Fabrik), Feldarbeit im Freien in vordefinierten Sektoren (Gärten), aber auch offene Arbeitsräume in freier Wildnis wie beim Einfangen entlaufener Kamele oder der Jagd. Und ebenso sind die Zeitstruktur, der Beginn und das Ende der Arbeit und der Pausenrhythmus, je nach den besonderen Anforderungen mehr oder minder offen oder festgelegt, freilich mit großen Differenzen der Organisation und der sozialen Kontrolle.

Zeitliche Merkmale der Arbeit sind ferner ihre Konstanz und Dauerhaftigkeit. Arbeiten kann man nicht ›nebenbei‹, auch wenn Ablenkungen dabei keine Seltenheit und oftmals sogar erwünscht sind. Dies zeigt sich beispielsweise bei der schrittweisen Einbeziehung der Kinder in den allgemeinen Arbeitsprozess bei den Kel Ewey: Weil sie im Spiel noch keine andauernde Sachkonzentration aufbringen, werden sie anfangs nur für kürzere Zeiten und bei einfachen Anforderungen zur Mitarbeit herangezogen, während ihnen später nach langjährigen Lern-Beteiligungen als Jugendliche und junge Erwachsene die ganze Härte und das Stehvermögen eines Kamelhirten oder Karawaniers abverlangt werden.

Und schließlich viertens, als Kernstück der Analyse: »Arbeit als Interaktion«. Arbeit hat stets einen Gegenstand, ein Objekt, das bearbeitet wird. Dieses Objekt ist jedoch nicht einfach ein totes Ding, sondern ein Gegenüber, mit dem der Arbeitende in Austausch und Interaktion tritt. Dies gelte, so Spittler, nicht nur für die Arbeit mit Tieren, etwa das Melken von Ziegen oder Kamelen; auch rein materielle Arbeiten im Handwerk bis hin zu modernen technischen Berufen hätten diesen Charakter. Ebenso wie der Tischler dem Holz eine ›Seele‹ zuspricht, sehen auch Wartungstechniker von Kopiergeräten bei den von ihnen betreuten Geräten höchst individuelle Eigenheiten und ›Macken‹, selbst wenn sie der gleichen Baureihe angehören. Gewiss ist dabei zwischen der je besonderen Eigenart und Beschaffenheit von Dingen (»Eigenständigkeit«), dem »Eigenwillen« von Tieren und dem »Eigensinn« von Menschen (S. 48ff.) als möglichen Gegenständen menschlicher Arbeit zu unterscheiden, doch jenseits dieser Differenzen haben sie alle einen widerständigen Eigencharakter, der sich nur in empathischer Interaktion mit ihnen ›einvernehmlich‹ überwinden lässt.

Entgegen der Habermasschen Unterscheidung von instrumentellem und kommunikativem Handeln postuliert Spittler einen kommunikativen Charakter auch rein technischer Arbeiten. Oder besser: Er versucht, diese begriffliche Dichotomie in empirischer Absicht zu überwinden und vor allem fließende Übergänge, subtile Mischungen oder Zwischenstufen zu erkunden und auszuloten. In dieser Perspektive behandelt er auch die anderen sozialwissenschaftlichen ›Klassiker‹ der Arbeitsanalyse und der gesellschaftlichen Produktion: Marx, Weber, Taylor. Er schließt durchaus daran an, wechselt aber die analytische und empirische Blickrichtung. Nicht die gesellschaftliche Organisation der Arbeit, die Verteilung des Reichtums oder die Genese der mentalen Voraussetzungen moderner Arbeitsvollzüge stehen für ihn im Mittelpunkt, sondern die Frage der Gemeinsamkeit und Vielfalt des konkreten Arbeitshandelns in unterschiedlichsten Kulturen und Zusammenhängen.

Trotzdem werden die ›traditionellen‹ Fragestellungen der Arbeitssoziologie, etwa das Ineinandergreifen von Arbeitsorganisation und Herrschaft, keineswegs ausgeklammert. Dies allerdings in wiederum unorthodoxer Weise. Ein Glanzstück des Buches, gleichzeitig ein Beispiel des bei aller Anschaulichkeit und Materialität begrifflich-typologischen Vorgehens, ist das Kapitel »Herren, Meister, Manager« (S. 127ff.).

Der Prototyp des Nicht-Arbeiters ist der Herr. Er genießt – Spittler bezieht sich hier auf Hegel – die Früchte der Arbeit anderer, dies freilich um den Preis, von der Welterfahrung der Arbeit abgeschnitten zu sein. Der Meister hingegen ist vor Ort, arbeitet auch selbst und ist nicht nur als Vorgesetzter, sondern als Sachautorität geachtet und anerkannt. Er wird bei Problemen konsultiert und leitet andere durch Vormachen an. Der Manager schließlich arbeitet zwar auch und trifft Entscheidungen, die für die Organisation und das Arbeiten vor Ort weitreichende Konsequenzen haben; er tut dies aber in einer Sphäre jenseits der Produktion. Er steht somit zwischen dem Herrn und dem Meister: »Ein Manager arbeitet in einer Manege. Er ist derjenige, der mit den Pferden umgeht, der diese zu besonderen Leistungen, zu einer Performanz bringt. Ohne Zweifel besitzt er große Kompetenzen, die ihn dazu befähigen. Aber er ist kein Meister in dem Sinne, dass er die Dinge besser weiß und kann als die Pferde und ihnen deshalb etwas vormacht. Im Gegenteil, er kann überhaupt nichts, was die Pferde können oder lernen sollen.« (S. 141)

Gewiss hat es der moderne kapitalistische Manager nicht mit Pferden, sondern mit Menschen zu tun. Und doch kann die Metapher eine typologische Differenz mitunter besser darstellen jede theoretisch versierte Argumentation.

Der zweite Teil nun versammelt eine lange Reihe hochselektiver empirischer Fallstudien aus unterschiedlichsten Zeiten und Regionen. Spittler stellt hier neben den von ihm selbst durchgeführten Feldforschungen bei Bauern in Gobir und den Kel Ewey Tuareg eine größere Anzahl ausgewählter kulturanthropologischer, ethnologischer und volkskundlicher Studien zu Arbeitsverhältnissen aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert vor, greift aber auch auf neuere industriesoziologische und arbeitswissenschaftliche Forschungen zurück. Dabei reicht das Spektrum der behandelten Wirtschaftsformen und Ethnien von Jägern und Sammlerinnen in Botswana und Namibia, Gärtnerinnen der Achuar im amazonischen Regenwald, das hochgefährliche Roden von Bäumen bei den kriegerischen Bemba in Nordrhodesien über Bauernfamilien im ungarischen Átány bis zu frühkapitalistischer Heimarbeit (Verlagswesen) im Zürcher Oberland Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Aber auch die industriegesellschaftliche Moderne der jüngeren Vergangenheit bis hin zu neuesten – hochtechnisierten oder prekären – Arbeitsformen und -verhältnissen sind vertreten: Neben den ›klassischen‹ Untersuchungen in der Hüttenindustrie der fünfziger Jahre (Heinrich Popitz u.a.: Technik und Industriearbeit / Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Tübingen 1957), eine amerikanische Arbeiterstudie aus den Siebzigern (Michael Burawoy) und die industriesoziologische Debatte um Entfremdung und Arbeiterbewusstsein geht es um ausgewählte, oftmals weit abgelegene Einzelstudien zu sehr verschiedenen Varianten der Dienstleistungsarbeit: Verkäuferinnen bei McDonald’s, Kassiererinnen (und Kundinnen) in einem Supermarkt, Versicherungsvertreter, die von Haus zu Haus gehen, kopierende Angestellte und Wartungstechniker von Kopiergeräten, und nicht zuletzt um die mannigfaltigen Tätigkeiten bezahlter und/oder unbezahlter Hausarbeit in früheren und heutigen Familienhaushalten. Wahrlich: ein bunter Strauß, aber was für Blumen!

Das Prinzip der Darstellung ist neben der detaillierten Beschreibung der – wenn man so will ›unkonventionelle‹ – Vergleich: »Es soll gerade das angeblich nicht Vergleichbare verglichen werden.« (S. 40) (Schon Lichtenberg hatte in den Sudelbüchern Ähnliches empfohlen: Gemeinsamkeiten zwischen Dingen aufzuspüren, die sonst niemand sieht!) Dabei ergeben sich überraschende und erstaunliche Einsichten, etwa wenn Spittler das profane Einsammeln der benötigten Waren in den Einkaufswagen im Supermarkt als unbezahlte »Kundenarbeit« interpretiert, bei der für die Frauen, die hier einkaufen, nicht nur die Kriterien von Qualität und Sparsamkeit, sondern auch die interpersonellen Relevanzen der Familie (»Was würde ihnen schmecken und worüber würden sie sich freuen?«) eine gewichtige Rolle spielen. Die Kundenarbeit des Einkaufens, die rationelle Versorgung des Haushalts und die mögliche Vorfreude auf eine entspannte Geselligkeit existieren also gerade nicht als getrennte Gegebenheiten; sie sind im aktuellen Tun und Erleben stets miteinander vermischt, überlagern sich mal mehr und mal weniger, treten wieder auseinander usw. (Die theoretischen Anschlussmöglichkeiten zur Schützschen Phänomenologie und das Konzept der Relevanzstaffelung liegen auf der Hand.)

Und auch das In-Beziehung-Setzen von offenbar weit Entferntem liefert hier sehr profunde Erkenntnisse: Etwa, wenn sich die Arbeit eines afrikanischen Jägers von der eines modernen Versicherungsvertreters gar nicht so sehr unterscheidet (S. 269ff.).

Hier liegt zudem die weitreichende methodologische Bedeutung des Buches. Theoretisch geht es Spittler vor allem darum, überkommene, in langer Tradition eingeübte Dichotomien sowohl der wissenschaftlichen Schulen und Forschung als auch des Common Sense, als da sind: Arbeit/Nichtarbeit, häuslich/außerhäuslich, bezahlt/unbezahlt, ›primitiv‹/modern, entfremdet/nichtentfremdet u.a.m., analytisch und empirisch zu verflüssigen und in ihrer osmotischen Durchlässigkeit vorzuführen. Er folgt damit dem Popitzschen Diktum, dass es in der Soziologie als empirischer Wirklichkeitswissenschaft ganz wesentlich darauf ankomme, theoretische Unterscheidungen (die wir als scharfe analytische Werkzeuge unbedingt brauchen) gerade nicht als empirische Trennungen aufzufassen, also bei aller Spezialisierung die unendliche Vielfalt und Verwobenheit der Verhältnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Gerd Spittler ähnelt in dieser Maxime nicht nur seinem akademischen Lehrer, sondern gleicht in gewisser Weise auch dem madugu, dem Karawanenführer bei den Tuareg, den er in der früheren Festschrift so eindringlich portraitiert hat. – Ein großartiges Buch.