Renate Solbach: Sarkophag

  Ezra F. Vogel: Deng Xiaoping and the Transformation of China, Cambridge, Mass., and London, England (The Belknap Press of Harvard University Press) 2013 (erstmals 2011), xxii + 876 Seiten

Vorbemerkung: In meinem Text folge ich der im Buch verwendeten englischen Transkription der chinesischen Namen. Zum leichteren Verständnis habe ich bei einigen Namen wie Kiangsi, Sinkiang, Szechuan die herkömmliche deutsche Schreibweise in Klammern hinzugefügt. Bekannte Namen wie Peking, Schanghai, Kanton erscheinen in der gewohnten Schreibweise.

I.

Mit einer Mischung aus Bewunderung und Unsicherheit verfolgt die Welt den noch beim Tode Mao Zedongs (9.9.1976) für kaum denkbar gehaltenen Aufstieg Chinas zur Weltmacht, die im 21. Jahrhundert die USA überflügeln dürfte. Ähnlich wie Japan nach der Meiji-Restauration (1868) nur eine Generation benötigte, um zu den ökonomisch-technisch überlegenen Mächten Europas und den USA aufzuschließen, gelang hundert Jahre später dem seit dem ersten Opiumkrieg (1839-1842) gedemütigten, in Agonie liegenden alten Reich der Mitte der Wiederaufstieg zu Macht und weltweitem Einfluss.

Als Urheber und Stratege dieser welthistorischen Leistung gilt Deng Xiaoping (1904-1997). Dessen Name kam in dem – ehedem die Wahrnehmung Chinas von vielen Liberalen in den USA prägenden – Buch von Edgar Snow über die chinesischen Revolutionäre (1938/1944) überhaupt noch nicht vor. (Snow; Fairbank, 83-90). Dem Protagonisten der Modernisierung Chinas hat der bis 2000 als Asienspezialist in Harvard lehrende Ezra Vogel eine voluminöse Biographie gewidmet, akribisch recherchiert und gestützt auf eine stupende Quellenbasis, mit einer Fülle an Daten, Namen und Details zur Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Ein paar kritische Anmerkungen zu diesem Werk seien gestattet: In der Einleitung (»The Man and his Mission«) sowie im ersten Kapitel (»Deng's Background«) verwendet Vogel – von Haus aus Soziologe aus der Schule von Talcott Parsons – auf die welthistorische und kulturhistorische Einordnung des großen Geschehens im Fernen Osten nur en passent ein paar knappe Sätze. Die große Taiping-Rebellion (1850-1864) wird nicht erwähnt. Den Begriff der »ungleichen Verträge« bezieht Vogel anscheinend nur auf die nach dem chinesisch-japanischen Krieg (1894/95) mit Japan und den Westmächten vertraglich fixierten Gebietsabtretungen und Konzessionen. Im Schlusskapitel (»China Transformed«) heißt es nur lapidar: »Mao, at the time of the Korean War, ended the role of imperialism by closing the country to contact with the West.« (S.696)

Als politisches Grundmotiv erschließt sich – weniger schlüssig als etwa bei Fairbank (S. 37-46; Fairbank-Merle, 257-330) – das nationalistisch-patriotische Selbstverständnis aller chinesischen Revolutionäre im Gefolge Sun Yat-sens (inklusive des Gegenspielers der Kommunisten Chiang Kai-shek). Die Ursachen für den Bruch des Nationalisten Chiangs mit den nicht minder nationalistischen Kommunisten in den 1920er Jahren werden von Vogel nicht weiter erläutert. Immerhin ist zu erfahren, dass Mao anno 1945, ein Jahr vor Beginn des Bürgerkriegs, mit Chiang noch einmal zusammentraf. (S.72) Die Rolle der Amerikaner (General Patrick J. Hurley) als erfolglose Vermittler fehlt indes. Gerne hätte man auch gewusst, in welch spezifisch chinesisch-asiatischem Kontext die in Kampagnen und Machtkämpfen proklamierten Schlagwörter (etwa die bereits 1963 erstmals von Zhou Enlai geforderten ›Vier Modernisierungen‹, die von Mitstreitern Dengs gegen die Mao-Orthodoxie gerichtete Parole ›Praxis ist die einzige Grundlage zum Urteil über Wahrheit‹ oder die Ende März 1979 von Deng proklamierten ›Vier Grundprinzipen‹ zu lesen sind. Aus welcher Tradition stammt derlei ›Parteichinesisch‹?

Als Historiker ist Vogel der ›realistischen‹ Schule zuzuordnen, wonach Mächte und Männer, bewegt von Ideen und persönlichen Ambitionen, die Triebkräfte und Akteure der Weltgeschichte sind. Was die Verwandlung Chinas aus einer »riesigen, chaotischen Kultur in eine moderne Nation« (S.14) betrifft, so bedurfte es eines tatkräftigen Führers: »Deng was far better prepared for such a role than Yuan Shikai, Sun Yat-sen, Chiang Kai-shek, or Mao Zedong had been.« (Ibid.) Mao erscheint bei Vogel als »a charismatic visionary, brilliant strategist, and shrewd but devious political manipulator« (S.13), sodann mehrfach als »mercurial«, sprich: sprunghaft (eigentlich: quecksilbrig). An anderer Stelle schreibt er: »In megalomania and lust for power Mao ranked high among world leaders.« (S.72) Die naheliegende Hauptfrage: Was ist am chinesischen Kommunismus handlungsleitender westlicher Ideologieimport, was eigenwillige Adaption an chinesische Kulturtradition, bleibt ausgeklammert. Erwin Wickert, langjähriger deutscher Botschafter in Peking, schrieb dazu: »Die Gedanken von Marx, Engels und Lenin haben in der Tat die kommunistischen Machthaber Chinas weder entscheidend motiviert noch, als Deng Xiaoping seine Wirtschaftsreform in Gang setzte, behindert.« (Wickert; Fairbank-Merle, 316-323)

II.

Das Buch mit seinen vierundzwanzig Kapiteln ist gleichwohl über weite Strecken eine Art Enzyklopädie zur Geschichte des kommunistischen Chinas. Zweiundzwanzig Seiten mit Fotografien – darunter das Bild des 152 cm kleinen Deng mit großem Stetson-Hut bei einem Texas-Rodeo während der spektakulären USA-Reise im Februar 1979 – machen die Karriere des (öffentlich stets im strengen Mao-Anzug auftretenden) Revolutionärs und Reformers anschaulich. Angehängt ist ein 30 Seiten umfassendes Personenlexikon (»Key People in the Deng Era«) sowie eine Chronologie zur Parteigeschichte 1956-1992.

Unter den mutmaßlich nur professionellen China watchers bekannten Namen finden wir etwa den aus wohlhabendem Hause (›reicher Bauer‹) stammenden Deng Liqun (1915-2015; nicht verwandt mit dem Modernisierer Chinas). In der Endphase des Bürgerkriegs 1949 assistierte er als örtlicher Parteisekretär dem General Wang Zhen in der Unterwerfung der – derzeit erneut mit brutaler Repression überzogenen – turkislamischen Provinz Xinjiang (Sinkiang). Gegenüber einem erzürnten Mao, der in jener Zeit die ethnischen Minderheiten umwarb, bekannte sich Deng Liqun – anstelle Wangs – verantwortlich für den Tod vieler Uiguren. Danach diente er unter dem Präsidenten Liu Shaoqui (1898-1969). Während der Kulturrevolution enthielt er sich, dem ritterlichem Ehrenkodex yiqui verpflichtet, der gegen Liu als ›Verräter‹ und ›bürgerliche Wegbereiter des Kapitalismus‹ entfesselten Hasskampgane. Bei der Rückkehr Deng Xiaopings ins Zentrum der Macht (1977/88) gehörte Deng Liqun zu dessen Redenschreibern. (S.724)

Marschall Ye Jianying (1897-1986) entstammte einer christlichen Kaufmannsfamilie – dies eine bei Vogel fehlende Information aus https://en.wikipedia.org/wiki/Ye_Jianying – in Guangdong (Kanton). Neben Zhou Enlai gehörte er zum Führungsstab der 1924 von der Guomindang (Kuomintang/KMT) unter Sun Yat-sen 1924 gegründeten Militärakademie Whampoa. Während des Langen Marsches wechselte er von dem mit Mao rivalisierenden Zhang Guotao (geb. 1897, gest. 1979 in Toronto; https://en.wikipedia.org/wiki/Zhang_Guotao) zu dem erfolgreicheren Mao Zedong. Nach der – bei dem nie ganz aufgeklärten Flugzeugabsturz in der Mongolei – tödlich missglückten Flucht des Verteidigungsministers (und ›Verräters‹) Lin Biao in die Sowjetunion (1971) übernahm es Ye Jianying, Maos Autorität in der Armee zu festigen. Nach Maos Tod spielte er eine wichtige Rolle bei der Verhaftung der um die Mao-Witwe Jian Qing gruppierten ›Viererbande‹. Loyal gegenüber dem Mao-Nachfolger Hua Guofeng, förderte Ye die Rückkehr Dengs ins Machtzentrum (1977).

Auf sechs Seiten wird Chen Yun (1905-1995) porträtiert. Als eine der wenigen Führungsfiguren in Armut geboren, schloss er sich am 30. Mai 1925 in Schanghai den Kommunisten an, als britische Polizisten bei einer Demonstration mehrere Chinesen erschossen. In den 1930er Jahren war er in Schanghai unter der Führung Zhou Enlais ein enger Kampfgefährte von Deng Xiaoping. 1935 ging er als Verbindungsmann zur Komintern für zwei Jahre nach Moskau. Vor dem 1958 eröffneten – und katastrophal gescheiterten – ›Großen Sprung‹ fungierte er als Chef der nach sowjetischem Modell eingeführten Planwirtschaft. 1978 ins Politbüro berufen, erklärte er Deng für den einzig geeigneten Mann an der Spitze und unterstützte dessen Reformkurs. (S.722, 240) In den 1980er Jahren kam es zu einer Entfremdung, als Chen Yun gegenüber dem radikalen Reformkurs Dengs eine vorsichtigere, als ›Vogelkäfig-Ökonomie‹ kritisierte Strategie befürwortete. (S.451)

III.

Deng Xiaoping (Teng Hsiao-ping) entstammte einer kleinen Grundbesitzerfamilie in Sichuan (Szechuan), in der man sich eines Vorfahren erinnerte, der es im 18. Jahrhundert – vor dem Niedergang Chinas – zu einer hohen Beamtenstellung gebracht hatte. Seine ersten Schuljahre waren noch von dem alten – formal schon vor der Revolution von 1911 abgeschafften – kaiserlichen Examenssystem geprägt, ein für Dengs phänomenales Gedächtnis nützliches Training gemäß konfuzianischer Tradition. Wie bei vielen anderen chinesischen Revolutionären wurde sein politischer Sinn (»his instinctive patriotism and commitment to the Communist Party«, S.5), durch die ›Bewegung des 4. Mai‹ geweckt. In Chongqing (Tschungking), der britischen und japanischen Vertragshafenstadt am Jangtse, beteiligte sich der fünfzehnjährige Xiaoping 1919 an Demonstrationen gegen die schmähliche Behandlung Chinas auf der Versailler Friedenskonferenz.

Als der jüngste von 84 Stipendiaten aus seiner Provinz ging Deng 1920 nach Frankreich, um ein Studium als Werkstudent aufzunehmen. Statt an der Universität landete er in diversen Fabriken, wo er auf andere unter miserablen Arbeitsbedingungen und Diskriminierung leidende chinesische Studenten – insgesamt an die 1600 – traf. Die einen hielten es mit dem Anarchismus, die anderen orientierten sich an der 1921 – im Rahmen von Sun Yat-sens Kuomintang – gegründeten KPCh. Deng schloss sich einer Gruppe an, die ab 1923 als Teil der kommunistischen Jugendliga der KPCh firmierte. Die intellektuelle Führungsfigur der agitatorisch wirksamen Zelle war der sechs Jahre ältere Zhou Enlai. Als dessen rechte Hand mit dem Spitznamen ›Dr. Kopiergerät‹ (»Doctor mimeograph«) fungierte Deng.

Er verbrachte fünf Jahre im Land, ohne indes je richtig Französisch zu lernen. Als Verhaftung drohte, flüchtete Deng über Deutschland nach Moskau, wo er ein Jahr lang an der von der Komintern für Chinesen eingerichteten Sun Yat-sen-Universität die Lehren der Weltrevolution studierte. Zu seinen Kommilitonen zählten Chiang Ching-kuo, der Sohn Chiang Kai-sheks, sowie zwei Töchter und ein Sohn des Kriegsherrn Feng Yuxiang, »an unusually progressive regional leader« (S. 23). (Bei Vogel fehlt dessen seinerzeit bekanntes Etikett ›der christliche General‹.) Anfang Januar 1927 entsandte die Komintern Deng nach China, um den warlord Feng als Politkommissar zu unterstützen. In diese Phase fiel der Bruch Chiang Kai-sheks mit der KPCh. Von Deng freundlich verabschiedet, schlug sich Feng auf die damals noch weit stärkere Seite der Guomindang. (S.25)

Anders als Mao gehörte Deng zu den chinesischen Kommunisten mit Auslandserfahrung. Sein Moskau-Aufenthalt fiel in die Zeit der noch von Lenin inaugurierten NEP (›neue ökonomische Politik‹). Laut Vogel prägte diese Erfahrung Dengs Vorstellung von der Vereinbarkeit eines kapitalistischen Marktes mit staatlich-kommunistischer Führung – ein Konzept, das er 1949-1952 im Südwesten Chinas sowie sodann in den 1980er Jahren zur Geltung brachte. Für die 1978 eingeleiteten radikalen Reformen standen indes die staatsdirigistischen Erfolgsmodelle Japan, Taiwan, Südkorea, Hongkong und Singapur vor Augen.

Beim Eintritt in die Moskauer Kaderschmiede musste der ›kleinbürgerliche Intellektuelle‹ Deng eine Selbstkritik verfassen – eine auch in China bekannte Einübung in die Praxis der Unterwerfung, die ihm in seiner späteren Karriere dreimal widerfuhr. Nichtsdestoweniger blieb er laut Vogel bis an sein Lebensende »a committed Communist« (S.5). Zu dem bekanntesten Satz aus Dengs Mund: ›Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, die Hauptsache sie frisst Mäuse‹ mögen all seine Bekenntnisse zum Marxismus-Leninismus (und zu den Mao-Zedong-Ideen) nicht recht passen. Die Auflösung all dieser Widersprüche dürfte in der chinesischen Kultur zu finden sein.

Nach dem Schlag Chiang Kai-sheks gegen die Kommunisten (April 1927) operierte Deng unter Zhou Enlai im Untergrund von Schanghai. In der von Kommunisten im Süden begründeten Bauernrepublik Jiangxi (Kiangsi) erlebte er als angebliches Haupt einer sogenannten ›Mao-Fraktion‹ seinen ›ersten Fall‹ (S.29) aus einer Führungsposition. Seine zweite Frau verließ ihn zugunsten eines Anklägers. Andererseits brachte ihm dies das Vertrauen Maos ein, der, so Vogel, ihn dafür später nie ganz fallen ließ. Auf dem Langen Marsch (1934/35) bewährte sich Deng – er selbst bezeichnete sich stolz als ›Soldat‹ – als Propagandist, im Krieg gegen die Japaner (1937-1945) als Politkommissar, sodann als Frontkommandeur in einer Entscheidungsschlacht des Bürgerkriegs (1946-1949). In dessen Endphase lenkte Deng die Machtübernahme der Kommunisten in Schanghai sowie im Südwesten.

Mao pries Deng für seine Leistungen bei der – vermittels nicht weniger Hinrichtungen von großen Grundbesitzern durchgesetzten – Landreform. In den Jahren 1952 bis 1966 finden wir Deng im innersten Machtzentrum, von Mao als einer der potentiellen Nachfolger erwählt. In den 1950er Jahren war er maßgeblich beteiligt an der damaligen Modernisierung des Landes nach sowjetischem (Stalinschem) Vorbild (Kollektivierung und Industrialisierung), trat als Verfechter strenger Parteidisziplin gegen Abweichler (›Rechte‹) sowie als Maos Scharfmacher gegen Intellektuelle hervor. (S. 201) In der ›Gao Gang-Affäre‹ – eine mit Selbstmord (1954) des Politbüromitglieds Gao Gang endende Machtintrige –, betätigte sich Deng als »whistleblower« (S.39, 717). Bei Maos einziger Auslandsreise nach Moskau im November 1957 zeichnete er sich als wortstarker Widerpart des sowjetischen Chefideologen Michail Suslow aus. Zu Maos Gefallen spielte Deng diese Rolle auch nach dem offenen Bruch mit den Sowjets bei drei weiteren Besuchen sowie als Verfasser von polemischen Botschaften an die Moskauer Adresse 1960-1964. (S. 42, 67)

Als Mao 1958 den ›Großen Sprung nach vorn‹ ins Werk setzte – je nach Schätzung kostete das utopische Unternehmen bis 1961 zwischen 16 bis 45 Millionen Menschen das Leben (S.41) –, enthielt sich Deng der Kritik. Laut Biograph Vogel datiert aus dieser Zeit aber die wachsende Distanz zwischen dem ›unverbesserlichen romantischen Visionär und dem pragmatischen Macher‹ (»the gap between the romantic visionary and the pragmatic implementer«, S.42). Zusammen mit dem Staatspräsidenten Liu Shaoqui wurde Deng als ›die den kapitalistischen Weg verfolgende Führungsperson Nr. 2‹ (»number-two person in authority pursuing the capitalist road«) und als ›Chruschtschow Chinas‹ zum wichtigsten Hassobjekt während der Kulturrevolution. (S.54, 43) 1967 wurde er mit seiner Frau unter Hausarrest gestellt, zwei Jahre später zur Umerziehung samt Fabrikarbeit in die Provinz nach Jiangxi verschickt. Dorthin durften später auf Dengs Bitten hin auch seine fünf Kinder kommen, gedemütigt und misshandelt, der jüngste Sohn Pufang im Rollstuhl mit einer Querschnittslähmung. ›Rote Garden‹ hatten den Physikstudenten aus dem Fenster geworfen, eine Operation hatte man ihm verweigert. Mit einem von Pufang reparierten Radiogerät konnte sich Deng – immer noch unter Hausarrest – ein gewisses Bild über die Vorgänge im Lande machen.

Nach Lin Biaos Tod schrieb Deng im September 1971 einen ersten Bittbrief an Mao, in dem er sich erbot, für die Partei wieder ›ein bisschen Arbeit leisten‹ zu dürfen (S.60f.) Ein ähnliches Schreiben, angereichert mit Selbstkritik, sandte er ein Jahr später an den bereits kränkelnden Mao. Am 20. Februar 1973 durfte er nach Peking zurückkehren.

Mit der Annäherung zwischen den USA und China und Präsident Nixons spektakulärem Besuch in Peking im Februar 1972 hatte Deng nichts zu tun. Den ersten großen Auftritt nach seiner Rehabilitierung hatte er – nunmehr im Rang eines Vizepremiers – im April 1974 vor der UNO in New York, wo er die Mao-Doktrin von den ›Drei Welten‹ vortrug. Bei dieser Gelegenheit traf er zum erstenmal mit Kissinger zusammen, den er mit seiner direkten, fordernden Art beeindruckte.

Mao hatte Deng den Vorzug vor dem von Krankheit (Blasenkrebs) geschwächten Zhou gegeben. (S.85) Fortan führte Deng die für die geplante Öffnung wichtigen Gespräche mit Vertretern des Auslands. Zu ihnen zählte auch George H.W. Bush, seinerzeit Chef des US-Verbindungsbüros in China. Eine erste fünftägige Auslandsreise unternahm Deng, begleitet von hochrangigen Funktionären aller Sparten, im April 1975 nach Frankreich, wo er mit Präsident Valéry Giscard d´Estaing und Premier Jacques Chirac zusammentraf.

Die Rückkehr Dengs ins Machtzentrum ging einher mit dem noch von Mao selbst verfügten Kurswechsel von der ›Großen Proletarischen Kulturrevolution‹ hin zu ›Stabilität und Einheit‹. Im Politbüro riskierte Deng einen Wutausbruch über die gegen ihn intrigierende Mao-Gattin Jian Qing. (S.88-90). Im kritischen Jahr 1976 – Zhou Enlais Tod (8. Januar 1976) löste Erschütterung und Proteste im Volk aus, Mao siechte dahin – nutzte die ›Viererbande‹ im April 1976 die unsichere Lage zum Sturz Dengs.

Dass es kurz danach erneut zu einem Umschwung kam,verdankt China dem heute fast vergessenen Mao-Nachfolger Hua Guofeng. Dieser ließ am 6. Oktober 1976 mit Rückendeckung durch Marschall Ye die ›Viererbande‹ verhaften. Am 17. Juli 1977 verabschiedete das Dritte Plenum des 10. Parteikongresses ›Die Entscheidung betreffs der Rückkehr des Genossen Deng Xiaoping zu Arbeit.‹ (S. 198). Zum 1. Januar 1978 – noch während der kurzen Ära Hua Guofeng – erhob ihn das Magazin Time auf dem Titelblatt zum ›Man of the Year‹. (S. 335).

Am 11. Juli 1979 bestieg der 75jährige Deng den in in der chinesischen Literatur und Geschichte gerühmten Huang Shan (Gelber Berg) in der Provinz Anhui – ein Signal für seinen Machtanspruch an der Spitze. Zur unangefochtenen Führungsfigur – im Rang eines Stellvertretenden Parteivorsitzenden, eines Vizepremiers sowie als Chef der Zentralen Militärkommission – wurde er erst zwei Jahre später nach einer Rochade, bei der Hua in die zweite Reihe gerückt wurde. Abgestützt war Dengs Position durch Hu Yaobang als Generalsekretär der Partei und – bis zu dessen Sturz am Vorabend des Tiananmen-Massakers am 4. Juni 1989 – durch Zhao Ziyang als Premier sowie durch Gefolgsleute auf unterer Parteiebene.

IV.

Das Konzept der ›Vier Modernisierungen‹ (in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung, Wissenschaft und Technologie) setzte zuvörderst Reformen im Bildungssystem voraus. Statt Empfehlungen aufgrund revolutionären Eifers ging es jetzt wieder um Leistungen und Examina. Anno 1977 erläuterte Deng die politischen Voraussetzungen für die Herausbildung einer neuen ökonomisch-technischen und wissenschaftlichen Elite: »They should love the motherland, love socialism and accept the leadership of the party.« (Zit. S.202). Dass sich Deng immer wieder mit chinesisch-amerikanischen Nobelpreisträgern traf (S.201), erhellt den Kontext des chinesischen Wiederaufstiegs zu globaler Größe.

Voraussetzung für die Modernisierung war die Öffnung des Landes nach außen. Wie dereinst (1871-1873) die japanische Meiji-Regierung entsandte Deng Emissäre nach Europa. Anfangs suchten die Chinesen noch Rat in Staaten wie Jugoslawien und Ungarn. Bei einer vierwöchigen Besuchsreise (Mai/Juni 1978) machte eine hochrangige Wirtschaftsdelegation unter Vizepremier Gu Mu (1914-2009) Station in Trier, der Geburtsstadt Karl Marx´ (S.222) – im Blick auf die anno 2018 dortselbst unweit der Porta Nigra errichteten Riesenstatue offenbar mehr als nur eine Pflichtübung. Alsbald entschieden sich die Chinesen für ein staatlich gelenktes, aber marktbasiertes, kapitalistisches Entwicklungsmodell, gefördert durch Beitritt zur Weltbank (1980). Die Experten der Weltbank, federführend der Philippinen-Chinese Edwin Lim, hielten das von Deng angestrebte Ziel, bis 2000 die Wirtschaftsleistung zu vervierfachen, für realistisch. (S.460)

Die Staatliche Planungskommission und das Handelsministerium knüpften Kontakte zu dem benachbarten Hongkong, dem eine Sonderrolle bei der Modernisierung zugedacht war. Unter der Direktion von Gu Mu fungierten sodann in den nacheinander etablierten Sonderwirtschaftszonen in den Küstenregionen fähige Funktionäre, unter ihnen maßgeblich Xi Zhongxun, der Vater des derzeitigen Machthabers Xi Jinping, in der an Hongkong angrenzenden Provinz Guangdong. (Hornby) Als Parteisekretär von Guandong war Xi der erste, der Anfang 1979 eine Direktinvestition, den Vorschlag eines Hongkonger Schiffsbauers, in Shenzhen – heute Teil einer Megalopolis im Perlenfluss-Delta – akzeptierte. (S.396) Deng selbst traf häufiger als je ein Nicht-Chinese mit dem Hongkonger Schiffsmagnaten Y. K. Pao zusammen. (S. xxi) Nach Öffnung des ›südlichen Tores‹ nutzten viele Auslandschinesen die neuen Marktchancen im kommunistischen Land ihrer Herkunft. (S.402-406) Machtpolitisch und ideologisch abgesichert war die Öffnung nach Hongkong durch die Doktrin von ›Ein Land, zwei Systeme‹.

Deng selbst unternahm neun Auslandsreisen. Hohe Bedeutung kam dabei dem Staatsbesuch in Japan zu – der erste derartige Besuch eines chinesischen Führers in der Geschichte der beiden Reiche. Ein erster Höhepunkt dieser zehntägigen Visite (19.-29. Oktober 1978) war die Ratifizierung des zuvor im August in Peking geschlossenen Friedens- und Freundschaftsvertrages im Rahmen einer großen Zeremonie, zu der die Botschafter aus 28 Ländern, ausgenommen die Sowjetunion, geladen waren. Zu den Früchten der neuen Freundschaft gehörten über die Jahre 1979-2007 günstige Kredite eines japanischen Finanzkomplexes (Overseas Economic Cooperation Fund/OECF) in Höhe von 25 Milliarden US-Dollar, japanische Investitionen in Infrastruktur und Produktion sowie Ausbildungsprogramme in diversen Bereichen. (S.309f.)

Drei Monate später (Ende Januar-Anfang Februar 1979) absolvierte Deng den seit langem vorbereiteten, sodann maßgeblich von Präsident Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński eingefädelten Staatsbesuch in Washington. Vorausgegangen war die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zum 1. Januar 1979 (eine beunruhigende Nachricht für den Präsidenten Chiang Ching-kuo auf Taiwan). Auf Dengs Wunschzettel obenan stand ›nicht Handel, nicht Investitionen, sondern Wissenschaft.‹ (S. 321) Im Gefolge des Deng-Besuchs in den USA – mit weiteren Stationen in Atlanta, Houston und Seattle – kamen 1979 erstmals fünfzig chinesische Studenten zum Studium in die USA, 1984 waren es bereits 14 000, von denen zwei Drittel Physik studierten. (S. 346) Die Gefahr, dass die in Übersee Studierenden das Leben in den USA und anderswo vorziehen und China verloren gehen könnten, schätzte Deng gering. Das seien alles gute Patrioten, selbst wenn sie im Ausland blieben. (S. 322)

Zentral im Reformprogramm blieben die Bereiche Landwirtschaft und Industrie. Anno 1982 wurde Maos Lieblingsprojekt der Volkskommunen formal abgeschafft. Es war abgelöst durch ein auf Eigeninitiative gegründetes, abgestuftes Pachtsystem von Staatsland. In den Reisanbaugebieten des Südens sorgten jetzt eigenständige Bauernfamilien – sowohl durch Erfüllung der Quoten als auch durch die Gewinnanreize des Marktes – für die angestrebte Produktionssteigerung. In den trockenen, weitflächigen, Gebieten des Nordens, geeignet für den Einsatz von Traktoren und großen Maschinen, bestanden die Getreide produzierende Kollektive zum Teil weiter.

Die noch nach Maos Tod in großen Teilen des Landes herrschenden Hungersnöte waren in wenigen Jahren überwunden. In den Dörfern und Kleinstädten entstanden aus den Volkskommunen herausgelöste Kleinunternehmen (township and village enterprises/TVA). 1979 machte deren Anteil an der Industrieproduktion nur 9 Prozent aus. Bis 1990 steigerten sie ihren Beitrag auf 25 Prozent, bis 1994 auf 42 Prozent. (S. 447) Parallel dazu boomte die Produktion in den Sonderwirtschaftszonen. Der industrielle take-off Chinas in den 1980er Jahren ist an den Wachstumsraten abzulesen – ab 1978 im Durchschnitt 10 Prozent pro Jahr. (S.473) Allerdings kam es im Zuge der ökonomischen Expansion 1988 zu einer Inflation. Das Wachstum fiel 1989 auf 4,1 oder 3,9 Prozent (ibid.; S. 660), in den Städten machte sich Unmut breit, der im ›Pekinger Frühling‹ den Studentenprotesten Auftrieb gab.

V.

Als hartnäckig verfolgtes Ziel seiner – Vogel zufolge nicht-expansiven – Außenpolitik ging es Deng darum, noch zu Lebzeiten die Wiederherstellung der Einheit Chinas in seinen alten Grenzen zu erreichen. Im Blick auf den 1997 auslaufenden britischen Pachtvertrag für die ›New Territories‹ (auf dem Festland) und auf die Gewinnung der Souveränität für Hongkong prägte Deng, auf seine Weise die bereits von Zhou Enlai vorgezeichnete Linie fortsetzend, die Formel ›Ein Land, zwei Systeme‹. In langwierigen, sich über mehr als zehn Jahre hinziehenden Verhandlungen, bei denen Deng noch Anfang Januar 1990 seinen offenbar zu verständnisvollen Verhandlungsführer Xu Jiatun entließ – dieser ersuchte kurz darauf in der amerikanischen Botschaft um Asyl (S.509) –, kam es im April 1990 zur Verabschiedung eines ›Grundgesetzes‹ (Basic Law) für Hongkong. Am 30. Juni 1997, vier Monate nach Dengs Tod, kehrte Hongkong unter chinesische Oberhoheit zurück. (S.487-511)

Für Tibet war Deng bereit, den dereinst von Mao gewährten Autonomie-Status zu erneuern. Das Projekt scheiterte indes sowohl an den in Tibet als Herren etablierten Han-Chinesen als auch an den weitergehenden Forderungen der von ihren Mönchen und Exil-Tibetern in Indien inspirierten Einheimischen. Was Taiwan betraf, hatten sich die chinesischen Kommunisten stets geweigert, eine gewaltsame Wiedervereinigung auszuschließen. Mit seiner 1985 über Lee Yuan Kew übermittelten Friedens- und Einheitsbotschaft, stieß Deng in Taipeh bei seinem einstigen Moskauer Studienkollegen Chiang Ching-kuo aber auf Misstrauen. Dieser lehnte die Einladung zu einem Treffen ab. (S.487).

Nicht in das von Vogel vermittelte Bild umfassender Konzilianz passt die Beobachtung, dass Deng Außenpolitik nach dem Grundmuster der Freund-Feind-Bestimmung betrieb. Schon vor seinem USA-Besuch hatte er auf seiner Südostasien-Reise (im November 1978) Lee Yuan Yew, den Präsidenten von Singapur, über den bevorstehenden Militärschlag gegen Vietnam informiert. Nun unterrichtete er die Amerikaner. Vietnam sei für China, was Kuba für die USA bedeute. Es ging darum, den Kommunisten im Süden angesichts ihres – bereits von Ho Chi Minh für ganz Indochina proklamierten (!) – hegemonialen Anspruchs eine Lektion zu erteilen. Am 25. Dezember 1978 waren die Vietnamesen in Kambodscha einmarschiert und hatten das mit China verbündete Pol-Pot-Regime beseitigt. Chinesische Besorgnis erregte zudem die wachsende sowjetische Militärpräsenz in Vietnam. Gegen Dengs Strafexpedition erhob Präsident Jimmy Carter keine prinzipiellen Einwände. Die angekündigte Operation erfolgte vom 27. Februar bis zum 16. März 1979 und kostete – nicht zuletzt aufgrund militärischer Defizite der chinesischen Armee – mindestens 25 000 Soldaten das Leben. (S. 531).

Nicht zufällig rückte danach die Modernisierung der Armee in Dengs Programmliste nach vorn. Gleichzeitig revidierte er angesichts der von ihm gegenüber den Amerikanern vorausgesagten Invasion der Sowjets in Afghanistan die Bedrohungslage. Er hielt es für angebracht, die Konfrontation mit Moskau zu suspendieren, während er die Kooperation mit den Amerikanern in militärtechnisch nutzbarer Technologie vorantrieb. (Kapitel 18: »The Military: Preparing for Modernization«, S. 523-552).

VI.

Bei seinem USA-Besuch zeigte sich Deng gegenüber seinem Gesprächspartner, dem Speaker des Repräsentantenhauses Tip O´Neill, ›fasziniert‹ vom Verfassungsprinzip der Gewaltentrennung. Bei einem Gegenbesuch ließ er indes keinen Zweifel, dass ein solches Regierungssystem für China nicht in Frage komme. (S. 342) Entsprechend hatte er bereits der italienischen Journalistin Oriana Fallaci anno 1980 erklärt, einen Bruch mit der Mao-Verehrung – wie im sowjetischen Umgang mit Stalin – werde es nicht geben. Das Bild Maos auf dem Tiananmen-Platz werde ›für immer‹ dort bleiben. (S.367, 369).

Das Machtmonopol der kommunistischen Partei in Frage zu stellen, kam für Deng nie in Frage. Es ging ihm um flexiblere Formen der Machtübergabe an Kandidaten aus der jüngeren Generation, erst in zweiter Linie um die Gewährung gewisser intellektueller Spielräume. Unter dem Signum seiner ›vier Grundprinzipien‹ (sprich ideologische Fixierungen: 1) Verfolg des sozialistischen Weges 2) Diktatur des Proletariats 3) Führung der KPCh 4) Marxismus-Leninismus-Mao Zedong-Denken) grenzte er diese Lockerungen strikt ab von ›bourgeoiser Liberalisierung‹. Als im Dezember 1986 der junge Astrophysiker Fang Lizhi, Vizepräsident der Universität Hefei, gerade zurückgekehrt von einem Studienaufenthalt in Princeton, mit provokativen Reden gegen den Sozialismus Studenten in zahlreichen Städten zu Demonstrationen inspirierte, ließ ihn Deng aus der Partei werfen. Fang Lizhi flüchtete sich daraufhin in die amerikanische Botschaft. Deng gestattete ihm 1990, in die USA zu emigrieren. (S.576-579, 585, 653)

Die Grenzen von Dengs Reformbereitschaft erfuhr als erster der bei den Studenten beliebte Hu Yaobang, den er Anfang 1987 zum Rücktritt als Generalsekretär nötigte. Wiederholte Einladungen Dengs zu einem Bridge-Spiel lehnte Hu bis auf ein einziges Mal ab. (S.585) Er starb im April 1989. Zu Hus Nachfolger als Generalsekretär erwählte Deng Zhao Ziyang. Als dieser für gewisse politische Reformen, etwa unabhängigere Gewerkschaften, eintrat, beschied ihm Deng, Demokratie sei nur ein Mittel zum Zweck effizienter Regierung. (S.575)

Vor diesem Hintergrund war die dramatische Entwicklung vorgezeichnet, die vom ›Pekinger Frühling‹ (Kap. 20) in die ›Tiananmen Tragödie‹ (Kap. 21) am 4. Juni 1989 mündete. Ihren Ausgang nahm die neuerliche studentische Protestbewegung in Trauerkundgebungen für Hua Yaobang. Laut Vogel standen hinter den auf das breite Volk zielenden Forderungen nach Demokratie und Beseitigung der Korruption ursprünglich höchst materielle Motive: der Unmut der Studenten über ihre miserablen Lebensbedingungen im Vergleich zu allen, die unter Dengs Staatskapitalismus zu schnellem Wohlstand gekommen waren. An der Parteispitze tat sich ein Riss auf zwischen Deng und dem Premier Li Peng auf der einen Seite und dem konzilianteren Zhao Ziyang auf der anderen.

Als Mitte Mai 1989 Michail Gorbatschow zu einem Staatsbesuch in Peking eintraf, begrüßten ihn Studenten mit einem Transparent als ›den Botschafter der Demokratie‹ (S. 612). Während Deng den Besuch Gorbatschows (15.-18.Mai) – er symbolisierte die Aussöhnung mit der Sowjetunion – als außenpolitischen Erfolg verbuchen konnte, desavouierten ihn die Studenten vor seinem Gast: An die 1,2 Millionen Menschen auf dem Tiananmen-Platz blockierten einen Empfang in der Halle des Volkes. Die westlichen Medien zeigten mehr Interesse für die ›demokratischen‹ Studenten als für den Besuch Gorbatschows. Die Proteste hatten sich radikalisiert, zahlreiche Studenten waren in einen Hungerstreik getreten.Vergeblich versuchte Zhao Ziyang, die Studenten zur Mäßigung anzuhalten.

Zu diesem Zeitpunkt war Deng bereits entschlossen, den Massenprotest wenn nötig mit Gewalt zu unterdrücken. Als Zhao sich gegen die Verhängung des Kriegsrechts aussprach und seinen Rücktritt ankündigte, kam es zum offenen Bruch mit dem bereits seit einer Unterredung Zhaos mit Gorbatschow gekränkten Deng. Zhao wurde unter Hausarrest gestellt. Unter relativ komfortablen Bedingungen lebte er – ohne sich je durch Selbstkritik zu demütigen – bis zu seinem Tod 2005. (S.616-619) An die Stelle von Zhao rückte Jiang Zemin, der bereits im April Proteste in Schanghai unterdrückt hatte.

Das blutige Finale auf dem Tiananmen-Platz kostete – je nach Schätzung ausländischer Beobachter – zwischen 300 bis 2600 Menschen (darunter auch eine Anzahl Soldaten!) das Leben. In einer Art Kommentar rückt Vogel rückt das Massaker in historische Perspektive: Bei der Invasion Taiwans durch nationalchinesische Guomindang-Truppen im Februar 1947 ließ der General Chen Ji Tausende örtlicher Führungspersönlichkeiten töten. Anno 1980 schlachtete der südkoreanische Diktator Chun Doo Hwan in der Provinz Kwangju weit mehr Menschen ab als auf dem Tiananmen-Platz zu Tode kamen. (S. 654) Wie sagte doch Deng bei der Ankündigung des Kriegsrechts: »Westerners would forget«. (S.617)

Tatsächlich signalisierte US-Präsident Bush unmittelbar nach den blutigen Ereignissen das amerikanische Interesse, über die ›Schwierigkeiten zwischen Freunden‹ zu sprechen. In geheimer Mission entsandte er Anfang Juli den Nationalen Sicherheitsberater Brent Snowcroft und den stellvertretenden Außenminister Lawrence Eagleburger nach Peking. Deng seinerseits wollte ›diese unglückliche Episode in den Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten‹ abschließen bzw. abwarten, wie die USA reagieren würde. Bereits im Mai 1990 erklärte Präsident Bush, er werde China den Meistbegünstigungsstatus im amerikanischen Außenhandel einräumen. (S.653) Die Beziehungen nahmen also keinen grundsätzlichen Schaden, außer dass bis 1993 keine Waffensysteme nach China geliefert wurden und Kontakte zwischen hohen Militärs suspendiert wurden. (S.648-652) Auch die britische Premierministerin schickte den in den Hongkong-Verhandlungen versierten Percy Cradock nach Peking, um einen Bruch in den britisch-chinesischen Beziehungen zu vermeiden. (S. 509)

VII.

Der Vergleich mit der Sowjetunion am Ende der Wirtschaftskapitel (Kap. 14-16) gehört zu den erhellendsten Passagen des Werkes. Zu seinem Sohn Zhifang sagte Deng anno 1990, er halte Gorbatschow für ›einen Idioten‹. Dieser habe politische Reformen eingeleitet, ohne zuvor die Ökonomie in Ordnung gebracht zu haben, ›und das Volk werde ihn entfernen.‹ (S.423).

Laut Vogel besaß China gegenüber der Sowjetunion folgende Vorzüge: 1. die Geographie des Landes: a) eine lange, für Transporte günstige Küste b) die für Parzellierung und individuelle Produktion von Reis geeigneten Regionen im Süden 2) die historisch-geographische Einheit Chinas sowie die weitgehende ethnisch-kulturelle Homogenität von 93 Prozent Han-Chinesen, ferner die Verbindung zu den 20 Millionen Auslandschinesen 3) das Vorbild der erfolgreichen Nachbarstaaten (Japan und die ›kleinen Tiger‹ Südkorea, Taiwan, Hongkong 4) das politische Interesse des Westens an einer dauerhaften Distanz Chinas zur Sowjetunion 5) das historisch ungebrochene Selbstbewusstsein der Chinesen und, daraus erwachsen, die Bereitschaft der Leute um Deng zur Öffnung ihres Landes für Ideen und Handel. Die Öffnung traf auf das Interesse des Westens an einem liberalen Weltmarkt. Last but not least war es der Modus der von oben kontrollierten Modernisierung, der China von der ins Chaos führenden Schocktherapie (»big bang«) Russlands in der Ära Jelzin unterschied. (S.473-476)

Am 9. November 1989, am Tag des Berliner Mauerfalls, trat Deng offiziell von seinen Ämtern zurück. Dessen ungeachtet behielt er seinen Einfluss auf der Pekinger Bühne. Am 20. August 1991, dem Tag nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow in Moskau, rief Deng die Führungsspitze – Jiang Zemin, dessen ersten Stellvertreter Yang Shangkun und Li Peng – zu einem Treffen zusammen, um Chinas Kurs – Öffnung nach außen, Härte nach innen – zu bestätigen. Risse in der kommunistischen Ideologie sollten durch mehr Patriotismus gekittet werden. Laut Vogel mit Erfolg: Studenten, die noch auf dem Tiananmen-Platz unter der ›Göttin der Demokratie‹ (einer Freiheitsstatue aus Styropor) demonstriert hatten, riefen jetzt Parolen gegen vermeintlich chinafeindliche Ausländer. (S.662)

Einen letzten politischen Vorstoß – gerichtet gegen zögerliche ›konservative‹ Funktionäre wie Chen Yun – zur Forcierung der Modernisierung unternahm Deng auf einer ›privaten‹ Reise im Januar und Februar 1992 durch die Boom-Städte in den Sonderwirtschaftszonen des Südens. Es gehe darum, verkündete er in Shenzhen, innerhalb von zwanzig Jahren zu den ›vier kleinen Drachen‹ Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan aufzuschließen. (S.673) An der Parteispitze zog es Jiang Zemin vor, den zunächst nur über Hongkong verbreiteten Appellen Dengs zu folgen. Er propagierte den von Deng geforderten beschleunigten Kurs in einer Rede (»Deeply Understand and Implement Comrade Deng Xiaoping´s Important Spirit, Make Economic Construction, Reform and Opening Go Faster and Better«) und prägte dafür das Schlagwort ›sozialistische Marktwirtschaft‹ (S.681f).

Nach dieser ›südlichen Reise‹ ging es Deng darum, die Reformdynamik durch entsprechende Ämterbesetzung abzusichern. An die Spitze eines neu etablierten Wirtschafts- und Handelsamtes (Economic and Trade Office/OTC) stellte er den zuvor als Bürgermeister von Schanghai erfolgreichen Vizepremier Zhu Rongji. Unter dessen Regie schnellten die Wachstumsraten in den 1990er Jahren wieder auf durchschnittlich zehn Prozent. (S. 688) Als – von drei folgenden Parteikongressen bestätigten – de-facto-Nachfolger für Jiang Zemin bestimmte Deng – durch Kooptation ins Ständige Komitee des Politbüros – den damals fünfzig Jahre alten Hu Jintao. (S.686) Dieser fungierte von 2002 bis 2012 als Parteichef der KPCh, von 2003 bis 2013 als Staatspräsident Chinas.

VIII.

Bei seiner Rückkehr ins Machtzentrum (1976) hatte Deng erklärt, ihm blieben noch etwa 20 Jahre Lebenszeit für sein Reformwerk. Sein letzter öffentlicher Auftritt fällt auf das Neujahr 1994. Als er am 19. Februar 1997 starb, war sein politisches Ziel, der Wiederaufstieg Chinas zu einer modernen Weltmacht, Wirklichkeit geworden.

Ohne die Schwachstellen und gewisse Fehlentwicklungen in der heutigen chinesischen Gesellschaft (Korruption, fehlendes bürgerliches Rechtssystem, üble Arbeitsbedingungen, Umweltschäden) zu übersehen, kommt Dengs Biograph zu einer überwiegend positiven Würdigung von dessen Lebensleistung. Deng habe in weniger als zwölf Jahren erreicht, was in 150 Jahren keinem chinesischen Führer gelungen sei: das Land stark und das Volk wohlhabender zu machen. Es sei ihm gelungen, von oben nach unten ein leistungsfähiges, flexibles, meritokratisches Herrschaftssystem zu etablieren. Unter dem Pragmatiker Deng habe China den größten Strukturwandel seit der Festigung des Reiches unter der Han-Dynastie vor 2000 Jahren erlebt. Erst dank Deng konnte in China eine durch Sprache (Standard-Mandarin), Kommunikation, Verkehrswesen und Urbanisierung verbundene moderne Nation entstehen.(S.693- 706)

Eines Werturteils über das unter Deng eingeleitete Programm zur Geburtenkontrolle – die mit rabiaten Abtreibungspraktiken (und ›sozialer Kontrolle‹ qua Denunziation) durchgesetzte Ein-Kind-Politik – enthält sich der Autor. (»As he did with other controversial issues, Deng carefully avoided going out on a limb by advocating specific measures.« S. 435) Mit Sympathie betrachtet er die wiedergewonnene Rolle Chinas in der Welt: Unter Dengs Führung sei China in die Weltgemeinschaft mit ihren internationalen Organisationen (Weltbank, Weltwährungsfonds (IMF) und Welthandelsorganisation (WTO) eingetreten, habe die Globalisierung mutiger vorangetrieben als Indien, Russland und Brasilien und habe eine verantwortungsvolle Rolle im internationalen System eingenommen. »...it was left to Deng Xiaoping to open the country and lead China to take an active part in international affairs. It was not until Deng´s era that government leaders had both the vision and the political strength to overcome the sour memories of the imperialist era and develop a lasting and positive pattern of relations with other nations whereby China was a part of a new world order that had emerged after World War II.« (S.696)

70 Jahre nach der Begründung der Volksrepublik China sind Zweifel an diesem Resümee angebracht – und dies nicht allein wegen der dramatischen Bilder aus Hongkong. Unter Xi Jinping, der im März 2018 eine Verfassungsänderung durchsetzte, die ihm eine Präsidentschaft auf Lebenszeit ermöglicht, hat das Regime erneut deutlich autoritäre Züge angenommen. (Hornby)

Nach außen hin erscheint das Auftreten Chinas als ›Modernisierungsmacht‹ in Afrika, Lateinamerika – und Europa – alles andere denn selbstlos. Dass hinter dem Konzept von Xi Jinpings ›neuer Seidenstraße‹ handfeste imperiale Interessen – in Afrika abgesichert durch einen Marinestützpunkt in Djibuti – stecken, ist evident. In Ost- und Südostasien stößt die Hegemonie des neuen China auf wenig Gegenliebe. Schon unter Deng errichtete China einen ersten Marinestützpunkt auf den Spratly-Inseln, 2014 wurde ein zweiter hinzugefügt. Und wie die von China ökonomisch – und globalpolitisch – herausgeforderten USA, die EU als unvollendete Weltmacht, das allseits ungeliebte Russland in kommenden Jahrzehnten auf die Machtprojektionen Chinas reagieren werden, ist ungewiss. (Golub) Der Sinologe Vogel vertraut offenbar Dengs Friedensversprechen vor der UNO von 1974: China strebe keine Hegemonie an, es halte sich an das Prinzip der Nichteinmischung. (S.714)

Literatur

John K. FAIRBANK: Edgar Snow in Red China, in: ders.: China, The People´s Middle Kingdom and the USA, Cambridge, Mass. 1967, S. 93-90
John K. FAIRBANK– Merle GOLDMAN: China: A New History, 2. erw. Aufl. Cambridge, Mass., London 2006
Uli FRANZ: »Töte das Huhn, um den Affen zu warnen«, in: Der Spiegel 26/1989, S. 138-140
Jacques GERNET: Die chinesische Welt. Die Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Jetztzeit, Frankfurt/M. 1985 (frz. Orig. 1972)
Philip S. GOLUB: Der große Handelskrieg, in: Le Monde diplomatique, Oktober 2019, S. 6-7
Sebastian HEILMANN: Ritt auf dem Tiger, ZEIT-online v. 28. Februar 2012, https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2012/01/Reformen-unter-Deng-Xiaoping/seite-4
Lucy HORNBY: Xi versus Deng, the family feud over China’s reforms, in: Financial Times, November 15, 2018, https://www.ft.com/content/839ccb0c-e439-11e8-8e70-5e22a430c1ad
J. Jürgen JESKE: Chinas zweite Revolution, in: FAZ v. 07.09.1985, S. 15
Gottfried-Karl KINDERMANN: Der Ferne Osten in der Weltpolitik des industriellen Zeitalters, München 1970 (=dtv 4006)
Peter KUNTZE: Die Wiedergeburt des Reichs der Mitte, in: Junge Freiheit v. 27.09.2019, S. 19
Edgar SNOW: Red Star Over China, New York (Grove Press Black Cat Edition) 1961 (Orig. 1944)
Peter STURM: Eine Staatsgründung mit viel Pathos, in: FAZ v. 01.10.2019, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nationalfeiertag-in-china-staatsgruendung-mit-pathos-16410898-p2.html
Erwin WICKERT: Die Herkunft der chinesischen Revolution (Rezension zu John K. Fairbank: Geschichte des modernen China 1800-1985), in: FAZ v. 01.08.1989, S. 26