Renate Solbach: Sarkophag

Beim Institut für Zeitgeschichte (IfZ) ist ein Projekt »Die Geschichte der Treuhandanstalt« angesiedelt. Anhand der Treuhandakten, die seit einigen Jahren kontinuierlich in das Bundesarchiv zur Einsicht für jedermann überführt werden, forschen elf Wissenschaftler jeweils über Teilaspekte der Treuhandarbeit. Das Projekt ist auf vier Jahre angelegt. Zur Halbzeit fand am 31.1./1.2. 2019 das erste wissenschaftliche Symposion zur Treuhand statt, auf dem erste Forschungsergebnisse vorgestellt wurden. Das öffentliche Interesse tendierte gegen Null. Lediglich zwei Journalisten haben an der Veranstaltung teilgenommen. Das steht in einem schwer erklärlichen Kontrast zu der Tatsache, dass seit etwa einem Vierteljahr die öffentliche Aufregung über die Arbeit der Treuhand enorm angeschwollen ist. Petra Köpping behauptet in ihrem Buch Integriert erst einmal uns (2018), die Treuhand habe die (geheime) Aufgabe gehabt, die westdeutsche Wirtschaft vor der ostdeutschen Konkurrenz durch Plattmachen zu schützen. Franziska Augstein will entdeckt haben, dass das Wüten der Treuhand in Ostdeutschland schuld sei an ostdeutschem Rechtsextremismus.

Das bisherige öffentliche Desinteresse an der Erforschung der Treuhandarbeit und das öffentliche Überinteresse an der Treuhand als Prügelknabe passen vielleicht gar nicht so schlecht zusammen. Wenn eine Gruppe oder eine Institution zum Sündenbock herhalten soll, sind in der Regel differenzierende Detailkenntnisse eher schädlich. Sie erschweren das pauschale Verdammen.

Die Beiträge jener Tagung sollen zeitnah veröffentlicht werden. Bis dahin ist aber vielleicht eine Erinnerung an ein Buch über die Arbeit der Treuhand aus dem Jahre 2015 hilfreich, das für die Arbeit der Treuhandanstalt in Thüringen bereits eine differenzierte Analyse geliefert hat. Wer sich heute zur Treuhand äußert, sollte doch nicht hinter den Kenntnisstand, den dieses Buch vermittelt, zurückfallen.

Im Folgenden ist meine damalige Besprechung dieses Buches aus Anlass seiner öffentlichen Präsentation wiedergegeben.

Franz Schuster, Thüringens Weg in die soziale Marktwirtschaft. Privatisierung, Sanierung, Aufbau, Böhlau 2015

Dieses Buch ist durch ein anderes veranlasst. Im Jahre 2012 hat die Thüringer Allgemeine eine große Artikelserie zur Treuhand in Thüringen veranlasst. Leser schilderten ihre Erlebnisse, Journalisten boten Recherchen. Daraus entstand ein Buch: Treuhand in Thüringen. Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde (Grosser u.a. 2013). Diese Artikelserie hat die Konrad-Adenauer-Stiftung 2013 mit dem »Deutschen Lokaljournalistenpreis« ausgezeichnet. Das kann man insofern rechtfertigen, als die Thüringer Gelegenheit hatten, sich ihren Ärger über die Treuhand von der Seele zu schreiben. Man kann aber nicht behaupten, dass aus so viel Betroffenheit eine brauchbare Grundlage für ein gerechtes Urteil über die Arbeit der Treuhand hervorgehen konnte.

Das Wort ›ausverkauft‹ im Untertitel hat den ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten Bernhard Vogel empört – ganz zu Recht, denn es wird ja damit unterstellt, er habe stumm zugesehen bei dieser Untat. Er hat deshalb die Studie angeregt, die heute vorgestellt wird.

Franz Schuster war in Bernhard Vogels Regierung Minister, erst in der Staatskanzlei, dann als Innen-, schließlich als Wirtschaftsminister. Auf der Grundlage der ihm zugänglichen Unterlagen (die Treuhandakten sind ja noch nicht zugänglich, aber hoffentlich bald), seiner eigenen Erfahrungen und aufgrund von Befragungen anderer damaliger Akteure bietet er ein Gesamtbild der Privatisierung in Thüringen.

Es ist ein Skandal in der Erinnerung der Einigungsgeschichte, dass bis heute sehr viele den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft nicht der SED und der sozialistischen Planwirtschaft zuschreiben, sondern der Treuhandanstalt. In allen ehemals sozialistischen Ländern gab es diese Zusammenbrüche (wenn auch nicht so plötzlich) - aber ohne das Wirken einer Treuhand. Gerhard Schürer, oberster Planungs-Chef der SED, hat doch zusammen mit anderen Spitzenfunktionären den katastrophalen Zustand der DDR-Wirtschaft und der Staatsfinanzen im sog. Schürer-Gutachten im Herbst 1989 vertraulich für Egon Krenz beschrieben, wie man im Internet nachlesen kann. Über Jahre seien Investitionen in die Produktionsanlagen und die Infrastruktur unterblieben zugunsten des Konsums. Über die Hälfte der Produktionsanlagen sei verschlissen, Tendenz zunehmend. Neu entwickelte Produkte hätten nicht in die Produktion eingeführt werden können. Und die sozialpolitischen Maßnahmen hätten nicht vollständig auf eigenen Leistungen beruht. Das alles habe zur wachsenden Westverschuldung geführt. Im Klartext: die DDR hat über ihre Verhältnisse und auf Pump gelebt.

Und dann macht Schürer Reformvorschläge, wohlgemerkt: Oktober 1989:

  • »drastischer Abbau von Verwaltungs- und Bürokräften.«

  • »bedeutende Einschränkung von Arbeitsplätzen.« Das heißt: es wird Arbeitslose geben.

  • »Klein- und Mittelbetriebe aus den Kombinaten ausgliedern.«

  • »die Rolle des Geldes als Maßstab für Leistung, wirtschaftlichen Erfolg und Misserfolg ist wesentlich zu erhöhen.«

  • »Der Wahrheitsgehalt der Statistik und Information ist auf allen Gebieten zu gewährleisten.«

Zehn Tage später ging die Mauer auf. Ein Jahr später war Deutschland vereinigt. Der von Schürer benannte erhebliche Reformbedarf wurde im letzten Jahr der DDR nicht mehr in Angriff genommen, sondern zusammen mit den wirtschaftlichen Folgen der Währungsunion der Treuhandanstalt sozusagen vor die Füße gekippt. Nun mach du mal.

Es gibt bisher drei Gattungen von Texten zur Treuhand.

Erstens die Erlebnistexte. Betroffene schildern, wie sie den Zusammenbruch ihres Unternehmens und den Verlust des Arbeitsplatzes erlebt haben. Dafür sind sie auch authentische Zeugen. Aber die Opfer eines Erdbebens wissen über dessen Ursachen zumeist wenig. Dazu muss man schon die Geologen fragen.

Zweitens die Skandaltexte unter der Überschrift »Pleiten, Pech und Pannen«. Neben den echten Skandalen wiederholen sie bis heute unkritisch Fehlurteile, wie diese: aus 600 Mrd. DM Industrievermögen der DDR habe die Treuhand 250 Mrd. DM Schulden gemacht, drei Vierteil der Arbeitsplätze in der Industrie habe sie vernichtet, die Ostdeutschen hätten nur 5% des Treuhandvermögens bekommen. Das alles ist nachweislich falsch, wird aber dennoch bis heute wiederholt, auch zum diesjährigen Jahrestag der ersten Treuhandanstalt unter Modrow.

Drittens Texte, die die Treuhand selbst über ihre Arbeit publiziert hat. Das ist gar nicht so wenig, wird aber oft unter dem Generalverdacht der Schönfärberei leichtfertig beiseite geschoben.

Bisher fehlt fast völlig eine vierte Gattung, nämlich gründliche wissenschaftlich fundierte Arbeiten über die Treuhand, die zugleich allgemeinverständlich in die Grundprobleme einführen. Solange die Treuhandakten noch nicht zugänglich sind, kann das Buch von Franz Schuster hier gute Dienste leisten. Wer sich in Zukunft über die Treuhandanstalt äußern möchte, muss mindestens so viel über die Treuhand wissen, wie dieses Buch vermittelt. Es darf auch mehr sein, aber weniger ist nicht seriös.

Aber ein Minister – steht der nicht unter dem Verdacht der Schönfärberei? Eine Krähe hackt der anderen doch kein Auge aus. Irrtum. Zwischen der Treuhand und den Landesregierungen gab es so beachtliche Interessenunterschiede, dass von einem damaligen Landesminister keine Hofberichterstattung für die Treuhand erwartet werden kann. Dafür hat er sich zu oft über Treuhandentscheidungen geärgert.

Man kann diesen Interessengegensatz so beschreiben: die Treuhand war vorrangig an der Privatisierung interessiert und deshalb auf die einzelnen Unternehmen fokussiert, deren formeller Eigentümer sie ja war. Die Landesregierungen waren dagegen vor allem an wirtschaftlicher Regionalpolitik und an Strukturpolitik interessiert. Das sind zwar keine Gegensätze, aber doch unterschiedliche Prioritäten. Schuster kritisiert eine ganze Reihe von Treuhandentscheidungen, von denen die Treuhänder wohl einige auch heute noch verteidigen würden. Dazu später Beispiele.

Schuster verfährt sozusagen zweigleisig. Sein eigentliches Thema ist ja Thüringen, das er diesbezüglich in- und auswendig kennt. Er gibt deshalb zur Privatisierung in den verschiedenen Thüringer Regionen detailreich Auskunft. Das ist mehr für die Lokalpatrioten von Bedeutung und soll hier nicht weiter dargestellt werden.

Er hat aber außerdem die Aufgabe der Umgestaltung der DDR-Wirtschaft im ganzen und prinzipiell, den Auftrag der Treuhand und die Arbeit ihrer Nachfolgeorganisation BvS sowie die Bilanz der Treuhand zum Thema gemacht. Und der Inhalt dieser allgemeinen Teile verdient es, im 25. Jahr der Gründung der Treuhand Allgemeingut zu werden.

Davon sei hier einiges hervorgehoben.

Zur Art der Privatisierung: Die Treuhand hat die Unternehmen nicht versteigert mit der Konsequenz »aus den Augen, aus dem Sinn«, sprich: egal was der neue Eigentümer damit macht. Dies wäre zweifellos das transparenteste Verfahren gewesen. Man sieht: Transparenz ist gut und schön, aber manchmal sozial nicht optimal.

Sie hat die Unternehmen aber auch nicht, wie in Russland, per Anteilscheine an die Belegschaft oder die Bevölkerung verteilt, denn so wäre weder das nötige Kapital noch das neue know how noch das Eigentümerengagement zu beschaffen gewesen und marktwirtschaftlich geschulte Führungskräfte wohl auch nicht. Übrigens ist auf dem Wege der Anteilscheine plus fehlendem Rechtsstaat plus Mafia die neue Klasse der russischen oder auch der ukrainischen Oligarchen entstanden. Das sollten diejenigen nicht vergessen, die bis heute beklagen, dass das Modell der Anteilscheine in der DDR nicht zur Anwendung gekommen ist. Es hat sich übrigens auch in Tschechien nicht bewährt. Der große Erfolg von Skoda beruht darauf, dass das Werk von VW übernommen worden ist und nicht auf einer Privatisierung über Anteilscheine.

Die Treuhand ist anders verfahren. Sie hat Käufer gesucht, die die Branche kannten und im besonderen über know how und Marktkenntnis verfügten. Was vielen nicht klar ist: der DDR-Industrie fehlten 1990 neue und moderne Maschinen und Industrieanlagen. Allerdings. Aber das war nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem war: die Betriebe brauchten neue Kunden und für diese attraktive Produkte. Oder eben: know how und Marktkenntnis. Und die gibt’s nicht einfach für Geld.

Und die Treuhand hat, wenn es mehrere Interessenten gab, das Konkurrenzprinzip anwenden können. Die Bewerber mussten einen detaillierten Plan vorlegen, der extern geprüft wurde, sowie Arbeitsplätze und Investitionen in verbindlich festgelegtem Umfang vertraglich garantieren, mit vereinbarten Vertragsstrafen.

Schuster S.52: »Bei den Verkaufsverhandlungen standen … folgende Fragen im Vordergrund:

  • Wie sieht das Unternehmenskonzept aus?

  • Welche fachliche Kompetenz hat der potentielle Unternehmer?

  • Wie viele Arbeitsplätze sind geplant, welche Investitionen sind vorgesehen?

  • Erst dann: wie hoch ist das Kaufpreisangebot?

Dass es dennoch so massenhaft zu Arbeitslosigkeit kam, lag vor allem an den Gründen, die Schürer aufgezählt hat. Die Betriebe waren durchweg überbesetzt – Schuster nennt als Zahl: 15% der Arbeitsplätze, also 15% verdeckte Arbeitslosigkeit oder: jeder hatte einen Arbeitsplatz, aber nicht jeder hatte auch etwas Nützliches zu tun. Diese Überbeschäftigung hat zusammen mit unterlassenen Modernisierungen die Arbeitsproduktivität in der DDR auf 30% West gesenkt und die Produktionskosten hochgetrieben, sobald alles in Westgeld gerechnet werden musste.

Schuster rückt auch die Behauptung zurecht, die Treuhand habe zwei Drittel der industriellen Arbeitsplätze vernichtet. Denn diese Aussage gilt nur für einen kurzen Zeitraum. Dabei sind aber weder die Arbeitsplatzzusagen der Investoren mitgezählt, die ja erst im Zuge der Modernisierung entstanden, noch die Arbeitsplätze, die bei der Abwicklung von Unternehmen durch Ausgründungen und Neugründungen erhalten wurden oder entstanden sind. Schuster beziffert sie auf 30 Prozent der Arbeitsplätze der liquidierten Unternehmen. Trotzdem kam es zu einem enormen Verlust an Arbeitsplätzen in Industrie und Landwirtschaft. Es wurde aber auch viel Geld ausgegeben, um das Schicksal der schuldlos Arbeitslosen abzufedern, nämlich Abfindungen, Vorruhestand, ABM, Umschulungen usw. In unseren östlichen Nachbarländern war für all dies gar kein Geld vorhanden.

Grundsätzlich bemängelt Schuster, dass die Privatisierung der DDR-Wirtschaft zumeist nur für die Zeit der Treuhandanstalt, also bis 1994 betrachtet wird. Da war aber ein großer Teil der Privatisierungen noch gar nicht vollzogen. Viele wissen gar nicht, dass es eine Nachfolgeorganisation der Treuhand gab, nämlich die »Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben« (BvS). Deren Arbeit ist keineswegs geheim gehalten worden, aber die Öffentlichkeit hat sich nun einmal so auf die Treuhand als Buhmann eingeschossen, dass die BvS übersehen wurde. Zur Arbeit der BvS gehörte übrigens auch die Fortsetzung des Vertragsmanagements, d.h. die weitergeführte Kontrolle der privatisierten Betriebe auf Einhaltung der Zusagen. Soeben habe ich in der Berliner Zeitung gelesen, niemand habe die Zusagen der Käufer kontrolliert. Irrtum. Seit 1991 waren die Verkaufsverträge mit Strafen bei Nichteinhaltung der Zusagen versehen. Übrigens sind die Zusagen sogar überboten worden, die der Arbeitsplätze um 24%, die der Investitionen um 15% (S.103). Die privatisierten Betriebe haben sich übrigens in der Folgezeit als überdurchschnittlich krisenfest erwiesen. Das Wirken der BvS ist auch deshalb interessant, weil sich nach 1994 die Kooperation mit den Ländern verstärkte und bei den schwer zu privatisierenden Unternehmen nun auch (vorläufige) Sanierungen unvermeidlich waren. Aber die Idee, die gesamte DDR-Industrie erst zu sanieren und dann schön teuer zu verkaufen, verweist Schuster zu Recht ins Märchenland, weil keine staatliche Organisation denkbar ist, die das hätte ins Werk setzen oder auch nur beaufsichtigen können. Die Märkte sind heute so ausdifferenziert und komplex, dass jedenfalls keine staatliche Behörde sich flächeneckend das notwendige Wissen beschaffen kann, um dann eine ganze Volkswirtschaft sozusagen auf dem Reißbrett zu modernisieren. »Sanieren statt Privatisieren«, wie sich das Modrow und die Kombinatsdirektoren zunächst vorgestellt haben, war schlicht undurchführbar. Das hätte technisch modernisierte Betriebe ergeben können, deren Produkte trotzdem niemand haben will. Insofern war der Grundsatz der Treuhand: »Sanieren durch Privatisieren« grundsätzlich richtig, aber es gab auch Fälle, in denen geboten war: Vorsanieren fürs Privatisieren, weil sonst den Betrieb niemand übernehmen wollte.

Die grundsätzliche Kritik Schusters an der Treuhand habe ich schon beschrieben. Sie habe sich zu sehr auf die Privatisierung konzentriert und zu wenig Strukturpolitik, zu wenig Standortentwicklungsprogramme betrieben. Ich persönlich halte es für möglich, dass die Treuhand hier nur dann hätte besser sein können, wenn sie mehr Zeit, mehr Geld, mehr tüchtiges Personal, von Anfang an Erfahrungen mit dieser einmaligen Aufgabe gehabt hätte und den Zustand ihrer Unternehmen gekannt hätte. Zu den Bedingungen der Treuhandarbeit gehörte aber leider die Knappheit dieser Güter. Man kann es nicht deutlich genug sagen: es gab eine unübersehbare Flut von Büchern zum Thema: »Vom Kapitalismus zum Sozialismus«, aber keine Bücher zum Thema: »Von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft«. Es gab sie im Osten nicht, weil allein der Gedanke eine sträfliche Ketzerei gewesen wäre. Das erinnert mich an die Fangfrage in der Nazizeit: »Was kommt nach den Dritten Reich?« Wer antwortete: das vierte, hatte sich als Volksfeind entlarvt.

Und es gab sie im Westen nicht, weil er sich nicht mit den Rücksichten der Entspannungspolitik vertrug. Im Westen gab es Erfahrungen mit Privatisierungen von Staatsunternehmen, wie VEBA und VW, später der Post und der Bahn. Das war aber jedes Mal nur ein Unternehmen in einem stabilen marktwirtschaftlichen und rechsstaatlichen Kontext. Erkundigen Sie sich mal, wie lange man dafür gebraucht hat. Da wären wir mit der DDR-Wirtschaft heute noch nicht fertig. Zur Privatisierung einer kompletten Volkswirtschaft gab es weltweit überhaupt keine Erfahrungen.

Zum Zustand der Unternehmen: die Volkskammer hatte verlangt, dass die DDR-Unternehmen zum 1. Juli 1990 DM-Eröffnungsbilanzen vorlegen sollten, damit man weiß, wie es um sie steht. Ich muss hier beichten, dass ich damals genauso naiv war wie die westdeutschen Fachleute. Ich dachte: das muss doch zu machen sein. Pustekuchen. Die VEB wussten schlicht nicht, wie man eine korrekte marktwirtschaftliche Bilanz verfertigt. Sie hatten zwar immerfort viele Kennziffern an ihre Ministerien zu liefern, aber nicht die Daten, aus denen sich die marktwirtschaftliche Rentabilität des Unternehmens ergab. Sie waren ja auch gar nicht für Einkauf und Verkauf zuständig. Die DM-Eröffnungsbilanzen zum 1. Juli 1990 (Währungsunion) lagen vollständig erst zwei Jahre später vor! Bis dahin konnte die Treuhand gar nicht vollständig wissen, wie es um ihre Betriebe bestellt war. Die Treuhand musste sozusagen im Blindflug beginnen. Unter diesen makabren Umständen von Anfang an Struktur- und Regionalpolitik zu verlangen ist, sagen wir mal, sehr ambitioniert.

Die Arbeit der Treuhand stand unter dem Imperativ der Eile. Wer das nicht akzeptiert, der sei erinnert an die Situation von Jenoptik, die übrigens nicht singulär war. Ähnliches galt von der DDR-Fluggesellschaft Interflug. Schuster referiert, dass Jenoptik vor der Umgestaltung ein tägliches Defizit von 1,4 Millionen DM eingefahren hat. Das muss man wissen, ehe man fordert: man hätte sich doch mehr Zeit nehmen sollen bei der Umgestaltung der DDR-Wirtschaft. Wie, bitte hätte man »mehr Zeit« bezahlen sollen bei diesen »Tagessätzen« allein für ein Unternehmen?

Im einzelnen führt Schuster als Misserfolge der Treuhandarbeit in Thüringen folgende Fälle an, die ich übrigens gar nicht beurteilen kann:

  • bei Technisches Glas Ilmenau habe das Wirtschaftsberatungsunternehmen Berger eine ungeeignete Strategie empfohlen, die scheitern musste und gescheitert ist.

  • Das Umformwerk Erfurt, Textil Leinefeld und Simson Suhl seien zu früh aufgegeben worden.

  • Erfurt hätte auch als Standort der Mikroelektronik stärkere Förderung verdient.

  • Das Konzept für die Kali-Industrie und namentlich die Schließung von Bischofferode sei ein Fehlschlag gewesen. Das letzte Votum ist mir nicht ganz nachvollziehbar, denn Schuster nennt die Schwierigkeiten, um die es ging: gewaltige Überkapazitäten in Deutschland und auf dem Weltmarkt, Defizite in der technischen Ausstattung um die zwanzig Jahre, Produktionskosten in Bischofferode je Tonne bei 746 DM, während die Tonne auf dem Weltmarkt für 134 DM gehandelt wurde, man musste also auf jede verkaufte Tonne 612 DM draufzahlen, um sie verkaufen zu können. Schuster rechnet es aber andernorts ganz richtig zu den Verdiensten der Treuhand, dass sie Dauersubventionen vermieden hat. Und in der Tat: nur in einer Planwirtschaft ist die Absurdität möglich, dass dauerhaft Produkte unter ihren Produktionskosten verkauft werden. Denn Subventionen fördern wirtschaftliches Fehlverhalten, Verschwendung und Betrug. So hat man ja auch in der DDR Brot statt Korn an die Hühner verfüttert, weil es billiger war. Irgendetwas unter seinen Erzeugungskosten zu verkaufen ist - von lebensnotwendigen Gütern bei Hungersnöten und Katastrophen abgesehen - wirtschaftlicher Unfug. Ich habe seinerzeit einmal zu Johannes Rau gesagt, Bischofferode musste schließen, weil die Produktionskosten pro Tonne mit 300 DM (wie ich damals meinte) subventioniert werden müssten, aber die Tonne Steinkohle wird mit 1000 DM subventioniert. Da verfinsterte sich sein Gesicht für einen Moment.

Möglicherweise hat Schuster aber gar nicht die Schließung selbst, sondern das fehlende Konzept für Nachbeschäftigung und Nachnutzung und also für Ersatzarbeitsplätze kritisieren wollen. Weil Bischofferode zum Symbol wurde (»Bischofferode ist überall«), interessieren hier nach wie vor die Einzelheiten sehr. Schusters Darlegung ist hier jedenfalls erfreulich detailreich. Trotzdem habe ich für sein Gesamturteil: »verfehlt« in seiner Darstellung keine überzeugenden Gründe gefunden.

Schuster schließt mit einer gegenwärtigen Bestandsaufnahme. Es sei der Treuhand gelungen, die Deindustrialisierung der neuen Bundesländer zu stoppen. Aber die Rückstände zum Westen seien noch nicht hinreichend aufgeholt. Die Betriebe seien im Durchschnitt deutlich kleiner als im Westen, Forschung und Entwicklung werde im Westen weit intensiver betrieben als im Osten. Die Arbeitsproduktivität sei durchschnittlich im Osten immer noch niedriger, was freilich nichts mit mangelndem Fleiß zu tun hat, sondern mit jenen Strukturproblemen. Großbetriebe können produktiver sein. Diese Unterschiede verkleinern sich derzeit kaum, man kann von einer Stagnation des Aufholprozesses sprechen. Ich bin ja kein Fachmann in diesen Fragen. Aber ich kann vergleichen, was der eine und der andere Fachmann sagt und wenn mehrere Fachleute dasselbe sagen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie diesbezüglich recht haben. Ich habe verglichen und kann Ihnen sagen: diese Beurteilung der wirtschaftlichen Lage teilen namhafte Ökonomen unabhängig von einander.

Zum Schluss gehe ich noch einmal auf einige Vorurteile zur Treuhandarbeit ein, die unausrottbar zu sein scheinen, denn sie sind auch dieses Jahr wieder in namhaften Medien wiederholt worden.

  1. Lediglich 5 Prozent der Treuhandbetriebe seien an Ostdeutsche gegangen. Das ist der Hintergrund für die These vom Ausverkauf. Ich wiederhole: die Behauptung ist schlicht falsch, und zwar aus folgenden Gründen.

    1. Man unterschlägt dabei die sog. kleine Privatisierung von Gaststätten, Einzelhandelsgeschäften, Apotheken. Das waren nach Schuster ca. 20.000 Einheiten, wobei er die Apotheken nicht erwähnt. Ich hatte bisher die Zahl 30.000 in der Literatur gefunden. Jedenfalls sind bei dieser Privatisierung zu allermeist Ostdeutsche zum Zuge gekommen, was übrigens jeder Ostdeutsche vor Ort bestätigen wird.

    2. Es haben ja nicht nur etablierte Unternehmer Treuhandbetriebe gekauft. Manche sind auch von bisherigen Betriebsangehörigen (MBO) und von auswärtigen Fachleuten (MBI) übernommen worden. Dabei sind nicht wenige Ostdeutsche zum Zuge gekommen. Bei schlüssigem Konzept war die Finanzierung in der Regel kein Problem.

    3. Die ganz großen Stücke sind doch gar nicht an westdeutsche Einzelpersonen gegangen, sondern an juristische Personen, also an Gesellschaften wie Siemens, Mercedes, Opel usw., kurz an Aktiengesellschaften. Zu denen gab es aber in der DDR gar kein handlungsfähiges Äquivalent, denn die »Kombinate« waren ja Patienten und nicht Akteure.

    4. Die westdeutschen Mittelständler, die dankenswerterweise in hohem Maße bei der Privatisierung aktiv wurden, hatten ja kein ostdeutsches Pendant mehr, weil unter Honecker die Reste der privaten, meist bereits halbstaatlichen Industrie systematisch enteignet worden waren. Bis heute weiß ich nicht, warum. Der volkswirtschaftliche Schaden war jedenfalls ganz erheblich, wie zu meiner Genugtuung nach 1990 auch Schürer, der letzte DDR-Planungs-Chef, erklärt hat.

    5. Jenes Argument erweckt den Eindruck, einen Treuhandbetrieb zu erwerben sei ein Schnäppchen gewesen, das die Treuhand Ostdeutschen vorenthalten und Westdeutschen zugeschanzt habe. Es war in Wahrheit umgekehrt. Das »Schnäppchen« war der Neubau auf der grünen Wiese eines der überreichlich eingerichteten Gewerbegebiete. Verbunden mit einer Investitionszulage und überfließendem Wohlwollen der zuständigen Kommune. Die Übernahme eines Treuhandbetriebes war dagegen durchaus auch mit Misslichkeiten verbunden wie der Beseitigung von Umweltlasten, die zwar die Treuhand bezahlt hat (auch das steigerte ihr Defizit), aber so was hält auf.

  2. Die Treuhand habe die Aufgabe gehabt, die DDR-Wirtschaft platt zu machen, um missliebige Konkurrenz für die westdeutsche Wirtschaft auszuschalten. Das ist in dieser Form jedenfalls der reine Unfug. Mir ist kein ostdeutsches Produkt von 1990 bekannt, das westdeutsche Konkurrenz hätte fürchten müssen. Sehr viele Produkte waren veraltet, wozu Trabant und Wartburg zählten. Andere Produkte wurden in westdeutschen Warenhäusern gern gesehen und gekauft, aber nur solange der Lohn in Ostgeld gezahlt wurde. Sobald man für Lohn und Material Westgeld einsetzen musste, waren die Produkte immer noch ganz gut, aber unverkäuflich teuer. Die Ängste westdeutscher Unternehmen vor ostdeutschen Unternehmen bezogen sich auf zwei andere Punkte. Ostdeutschland könnte als Billiglohnland gefährlich werden und die westdeutschen Löhne drücken, weshalb westdeutsche Gewerkschaften und wohl auch Unternehmer für schnelle Lohnangleichung plädierten, um das Billiglohnland Ost zu vermeiden. Fast kann man sagen: den Ostdeutschen wurden Lohnerhöhungen geradezu aufgedrängelt. Ich erinnere an die absurde Forderung der IG Metall, im Osten 100 Prozent Westlohn bis 1994 zu erreichen. Wir sind heute bei ca. 80 Prozent. Und westdeutsche Unternehmen hatten die Sorge, dass die Treuhand ihre Ost-Betriebe so massiv modernisiert und subventioniert, dass sie zur echten Konkurrenz aufgrund von massiven Wettbewerbsverzerrungen werden könnte. Das war aber nun ganz etwas anderes als »plattmachen«!

  3. Aus 600 Mrd. DM Industrievermögen habe die Treuhand 250 Mrd. DM Schulden gemacht. Dahinter steht der ausgesprochene oder unausgesprochene Verdacht: und die Differenz von immerhin 650 Mrd. DM – das ist heute mehr als der jährliche Bundeshaushalt – hätten sich Westdeutsche unter den Nagel gerissen. Als Zeuge wird regelmäßig der Treuhandchef Karsten Detlev Rohwedder angeführt. Am 13. September 1990 hat ihn Wolfgang Ullmann in der Volkskammer gefragt, ob und wann DDR-Bürger Anteilscheine am volkseigenen Vermögen erhalten. Rohwedders Antwort: er sehe das für absehbare Zeit überhaupt nicht. Wörtlich: »Ich glaube, dass die Beanspruchungen der Treuhandanstalt möglicherweise größer sind als die Mittel, die ihr durch Privatisierung und Verkäufe zur Verfügung stehen.« M.a.W. die Treuhand wird mit Minus abschließen. Das war Rohwedder also am 13. September 1990 bereits bewusst.

Knapp einen Monat später, am 19. Oktober 1990, hatte Rohwedder seinen ersten Auftritt im Ausland, in der Bundeswirtschaftskammer Wien. Dort wollte er eine Zahl zum Verkaufswert der Betriebe nennen, nicht aber zu den Privatisierungskosten der Treuhand. Denn die Verbindlichkeiten, also die Betriebsschulden, die ökologische Sanierung, Sozialpläne und die laufenden Zuschüsse bis zum Verkauf, sollten ja nicht die Käufer tragen. Belastbare Zahlen über den Wert der DDR-Unternehmen gab es damals aber noch nicht, da weder brauchbare Bilanzen existierten noch marktwirtschaftliche Begutachtungen. Rohwedder bat den damaligen Finanzvorstand der Treuhand, Wolfram Krause, einen Ostdeutschen, um eine Zahl. Wie diese zustande kam, stand damals im Spiegel. Ich zitiere: »Das Milliardenvermögen ergibt sich aus der schlichten Umrechnung einer zweifelhaften Schätzung aus Modrow-Zeiten über das Betriebsvermögen der Treuhand: 750 Mrd. Ost-Mark, umgerechnet zum Kurs 1:3 macht 250 Mrd. DM, der Rest seien die Grundstücke« – wobei man die Kontaminierung der Grundstücke noch nicht einberechnet hat. Der Spiegel bemerkt dazu: »Auf so dubios kalkulierte Vermögenswerte gibt keine Bank Kredit.« Also: Rohwedder hat nie behauptet, dass die Treuhand mit einem Gewinn von 600 Mrd. abschließen werde. Er hat aber noch im Jahr 1989 eine Schätzung der Gesamtkosten der Privatisierung in Auftrag gegeben. Sie lag Februar 1991 vor und belief sich auf 400 Mrd. DM minus, denen der Privatisierungsgewinn gegenüberstand. Nach Fertigstellung der Eröffnungsbilanzen zum 1. Juli 1990 (!) im Jahre 1992 (!) konnte man genauer rechnen und kam auf ein Defizit von 210 Mrd. DM, eine erstaunlich genaue Prognose. Ich fürchte, die Geschichte von den verschleuderten 600 Mrd. ist so schön schaurig, dass sie aufklärungsresistent ist. Wer aber Aufklärung über die Privatisierung wünscht, und nicht nur in Thüringen, findet sie auf verlässliche Weise in Schusters Buch.

Literatur

GROSSER, DIETMAR / MÜLLER, HANNO / RAUE, PAUL-JOSEF (Hrsg.), Treuhand in Thüringen. Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde, Essen 2013

KÖPPING, PETRA, »Integriert doch erst mal uns.« Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018 (Besprechung von Richard Schröder in: Globkult, 29. 10. 2018)