In einer Fernsehdiskussion zitierte der Historiker Michael Stürmer kürzlich einen Ausspruch des früheren britischen Premierministers Harold Mcmillan: »Was bewegt die Politik? Ereignisse, Ereignisse, Ereignisse«. Dies erinnerte mich an das berühmte Diktum des Nestors der deutschen Politikwissenschaft Ernst Fraenkel: »In der Politik geht es erstens um Macht, zweitens um Macht und drittens um Macht.«
Ja, was ›bewegt‹ sie denn wirklich? Machtstreben oder das Reagieren auf Ereignisse? Die Antwort darauf ist einfach: Beides. Und vor allem: Beides zugleich!
I.
In der ersten – Fraenkelschen – Perspektive wird Politik als strategisches Handeln aufgefasst, das darauf gerichtet ist, den eigenen Willen, sei er durch Interessen, Ziele oder bestimmte Ordnungsvorstellungen gekennzeichnet, auch gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen. Ein solcher, eng an die bekannte Machtdefinition Max Webers angelehnter Politikbegriff hat verschiedene Vor- und Nachteile.
Der erste Vorteil ist: Er charakterisiert das Feld der Politik als Arena widerstreitender Akteure, die versuchen, ihre jeweiligen Interessen mit geeigneten Mitteln und Methoden gegen andere, ebenfalls interessierte Akteure durchzusetzen und ihnen gegenüber dauerhaft die Oberhand zu gewinnen. Politik wird auf diese Weise prinzipiell an handelnde Subjekte – Personen oder Organisationen, die wiederum von Personen geführt werden – gebunden: Sie wird von ihnen ›gemacht‹. Eine solche Auffassung vermeidet von vornherein ein entsubjektiviertes Politik- und Gesellschaftsverständnis, wie es heute so oft in den Begriffen von ›Globalisierung‹, ›demographische Entwicklung‹ oder ›Moderne‹ auftaucht. Die Legierung von Politik und Macht nennt immer schon Ross und Reiter und versteckt sie nicht hinter begrifflichen Abstraktionen.
Die Auffassung von Politik als Machtstreben berücksichtigt ferner, dass wir es in der Regel nicht nur mit zwei Kontrahenten, sondern mit einer Vielzahl von Akteuren, also einer Machtfiguration, zu tun haben, die sich in ständiger Bewegung befindet. Norbert Elias erläutert den Begriff der Figuration öfter anhand der Dynamik des Fußballspiels: Je nachdem, wohin der Ball gerade gespielt wird, muss sich die eigene Mannschaft und ebenso die Mannschaft der Gegenseite völlig neu gruppieren, um, freilich unter Einhaltung der in den Spielregeln festgelegten Handlungsweisen, in den Besitz des Balles zu gelangen und ihn in das gegnerische Tor zu befördern. Dabei muss jeder Spieler die Perspektive aller anderen Akteure auf dem Feld übernehmen, wobei er jedoch niemals sicher sein kann, was als nächstes geschieht.
Übertragen auf das Terrain parlamentarischer, auch durch die Massenmedien gesteuerter Politik kann man das Machtspiel der Politik vielleicht am besten als ›geregelten Tumult‹ beschreiben. Allerdings treten hier nicht nur zwei, sondern eine größere Anzahl – etablierter oder ambitionierter – Parteien gegeneinander an, es gibt stets mehrere Bälle (Themen), um deren favorisierte Bedeutung erbittert gestritten wird, ab und zu pfeift ein Schiedsrichter (Verfassungsgericht), es stehen auch Tore herum, in die manchmal getroffen wird (oder auch nicht) – und am Ende entscheidet das Publikum im weiten Stadionrund per Akklamation (Wahlen), wer aktuell zum Sieger erklärt wird und in welcher Zusammensetzung das Spiel in Zukunft fortgesetzt werden soll.
Außerdem gilt auch für dieses Spiel: Der Ball ist rund! Alle Akteure sind in ständiger Bewegung, jederzeit kann etwas passieren, das alle Berechnungen über den Haufen wirft und die Karten im Machtspiel neu mischt. Zwar sind die konstitutiven Regeln des Spiels über die institutionellen Vorgaben, also das Grundgerüst der politischen Ordnung, festgelegt; die regulativen Regeln hingegen (Foul oder nicht?) sind hingegen stets interpretationsbedürftig und können je nach Interesse oder Gesinnung von allen Beteiligten höchst unterschiedlich ausgelegt werden.
Hinzu kommt, dass das Spiel sich keineswegs auf eine Streitdimension beschränkt, sondern dass sich darin verschiedene Konflikttypen mit je eigener Struktur und Gesetzmäßigkeit vermischen und überlagern. Im politischen Streit ist der Sachstreit um Grundauffassungen der sozialen Ordnung (Programme) und die daraus abgeleiteten Problemlösungen stets verquickt mit der Rivalität ambitionierter Personen um die Besetzung hoher politischer Ämter, die am Ende jedoch nur dann zu erringen sind, wenn sich der Kandidat in der Eindruckskonkurrenz mit anderen Bewerbern bei einem durch die Massenmedien zentral beeinflussten Wahlpublikum durchsetzt und schließlich als Machthaber autorisiert wird.
In all diesen Kämpfen geht es um Macht (Machtgewinn, Machterhalt, das Vermeiden von Machtverlust), die idealtypisch freilich als gesellschaftliche Gestaltungsmacht eingesetzt werden soll. Und da das in den Augen eigener oder potentieller Anhänger erfolgreiche Durchsetzen des favorisierten Ordnungsentwurfs gleichzeitig die eigene Machtbasis sichert, ist beides, Macht und Gestaltungsmacht (Führung), kaum voneinander zu trennen und bedingt sich wechselseitig.
II.
Kämpfe haben einen ungewissen Ausgang. Alle Strategie und Taktik des Machtstrebens kann letztlich fehlschlagen und am Ende zu Chaos und Unordnung führen. Mehr noch: Unter dem Gesichtspunkt der Ereignisabhängigkeit erscheint der politische Tumult geradezu als ein Universum der Ungewissheit und Unberechenbarkeit. Dabei lassen sich grundsätzlich verschiedene Arten von Ungewissheit unterscheiden.
Da ist als Erstes die Unklarheit über die speziellen Absichten, Kalküle und Reaktionen des anderen. Auch hier regiert das Gesetz der doppelten Kontingenz: Wir können erwarten, was der andere mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit tun wird – sicher sein können wir nie! Und dies umso weniger, als wir den anderen ebenfalls als ein machtambitioniertes Subjekt wahrnehmen, das bestrebt ist, seinen Willen gegen unser Gegeninteresse durchzusetzen.
Nicht erst der Feind, auch der politische Gegner ist prinzipiell unberechenbar, ja es gehört zum Wesen jedes – nicht nur politischen – Konflikts, dass man versuchen muss, den anderen zu überraschen. Wenn man ihn auf dem falschen Fuß erwischt, hat er kaum eine Chance der Gegenwehr. Wie andere soziale Interaktionen ist auch das Feld der Politik dadurch geprägt, dass das Handeln des einen stets Reaktionen des anderen und dies wiederum Reaktionsreaktionen des Ersten auslöst, die immer ein graduell gestaffeltes Element der Unberechenbarkeit enthalten, das sich der ›begrenzten Rationalität‹ (Herbert Simon) der Akteure entzieht.
Potenziert wird diese Unsicherheit durch die Vielzahl der Akteure im Feld. Je verzweigter die Figuration, desto erratischer das Handeln der einzelnen. Gewiss gibt es oft deutliche Anhaltspunkte oder Erfahrungen, die bestimmte Züge der Kontrahenten wahrscheinlich machen; da sich die Figuration aber ständig ändert – und sie ist gerade dadurch definiert, dass die Veränderung einer Relation gleichzeitig alle anderen Relationen verändert –, kann sich jederzeit eine völlig neue Situation ergeben, die alle Akteure fortan in Rechnung stellen müssen.
Die äußerste Zuspitzung der Überraschung ist der terroristische Anschlag. Die Gewalt des einen ist das Widerfahrnis des anderen. Im ›asymmetrischen Krieg‹ (Herfried Münkler) ist das Element der Unberechenbarkeit zentral, liegt das Gesetz des Handelns vorrangig auf Seiten der Mindermächtigen. Der Anschlag ist eine Provokation, die eine Überreaktion der Gegenseite hervorrufen soll, die es wiederum ermöglicht, den Konflikt anzuheizen und ihn weiter eskalieren zu lassen.
Freilich: Je öfter eine Provokation wiederholt wird, desto weniger provoziert sie.
Doch nicht nur das strategische Handeln anderer, auch der Zufall kann für Ungewissheit und Überraschungen sorgen. Ebenso wie in der Gesellschaft als ganzer gibt es auch in der Politik stets Ereignisse, die, obschon nicht notwendig, stattfinden, weil in ihnen zwei voneinander unabhängige Kausalketten zusammentreffen und alle Beteiligten plötzlich vor eine neue Situation stellen (Cournot-Effekte, benannt nach dem französischen Mathematiker Antoine-Augustin Cournot). Der Paradefall ist ein Mann, dem auf dem Bürgersteig ein Dachziegel auf den Kopf fällt. Zwei Dinge sind hier zusammengekommen. Eine Abfolge von Umständen hat dafür gesorgt, dass er sich genau zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort aufhält; und eine andere Ursachenabfolge hat veranlasst, dass der Dachziegel sich gelockert hat und, etwa durch einen Windstoß, genau in diesem Augenblick herunterfällt. Die übliche Umschreibung für solche möglichen, aber nicht notwendigen Ereignisse ist: Er war ›zur falschen Zeit am falschen Ort‹.
Auch die Geschichte der Politik kennt viele Beispiele, in denen eine Verkettung unglücklicher Umstände das Schicksal ganzer Gesellschaften geprägt hat. Auch das Aufeinanderprallen persönlicher Animositäten in Schlüsselsituationen oder bestimmte, eigentlich eher unwahrscheinliche Gruppenkonstellationen gehören dazu. Oft hat das letztendliche Ausbrechen von Krisen und Konflikten überaus zufällige, unscheinbare Anlässe – man denke hier etwa an Kleists berühmtes ›Zucken der Manschette‹ als Auslöser der Revolution.
Und, last not least, das Widerfahrnis schlechthin: Naturkatastrophen wie verheerende Wirbelstürme, Erdbeben, Vulkanausbrüche, aber auch politische Großereignisse wie Revolutionen, der Ausbruch von Kriegen und Bürgerkriegen in anderen Weltregionen oder der Zusammenbruch ganzer Gesellschaftssysteme. Kurzum: Jederzeit kann sich etwas ereignen, das alle Kalkulationen der Akteure auf einen Schlag Makulatur werden lässt und sie zu Getriebenen von Ereignissen macht, die für sie kaum oder gar nicht voraussehbar waren.
III.
Politik ist das Ordnen der Ordnung. Sie arbeitet unter der handlungsleitenden Fiktion, den Gesellschaftsprozess steuern oder gar kontrollieren zu können. Gestützt wird diese Fiktion in demokratischen Gesellschaften durch den Umstand, dass es nicht ein Einzelner – ein Diktator oder eine oligarchische Gruppe – ist, der die Entscheidungsgewalt innehat, sondern dass der politische Entscheidungsprozess über ein geregeltes System von checks and balances auf eine Vielzahl von individuellen und kollektiven Akteuren (neben den Staatsorganen auch auf die Institutionen der Meinungsbildung, Presse, Parteien usw.) verteilt ist. (Dem entspricht eine ›Sphärendefinition‹ von Politik als Gesamtheit derjenigen Prozesse, in denen eine Gesellschaft ihre eigene Entwicklung zum Gegenstand bewusster Entscheidungsfindung macht.)
Doch auch für Entscheidungen gilt, dass ihre Folgen und Konsequenzen nur begrenzt überschaubar und, vor allem auf lange Sicht, letztlich ungewiss sind. Stets kann etwas passieren, das alle Berechnungen und Abschätzungen hinfällig werden lässt. Per Gesetz eingerichtete Anreizsysteme können kurzfristig erfolgreich sein, später jedoch in ihrer Wirkung rasch erlahmen oder sich sogar ins Gegenteil verkehren. Und kaum etwas ist für eine Gesellschaft langfristig ruinöser als die irreversible Einrichtung dysfunktionaler Anreizsysteme.
Trutz von Trotha überraschte mich einmal in einer Diskussion mit dem Argument, es sei ein großer Vorteil der parlamentarischen Demokratie, dass sehr viele Entscheidungen letztlich nicht zustande kämen. Der Diktator könne ungehindert entscheiden, und bei dysfunktionalen Folgen entscheide er eben neu (womit er die Situation häufig nur verschlimmere). Das parlamentarische Beratungsverfahren hingegen biete über die Ausschussanhörungen sehr viel eher die Chance, mögliche schädliche Folgewirkungen geplanter Gesetze und Regelungen frühzeitig zu erkennen und die Vorhaben stillschweigend unter den Tisch fallen zu lassen. Auf diese Weise würden die Probleme zwar vielleicht nicht gelöst, aber wenigstens nicht noch weiter verschärft.
Auch das Unterlassen kann also unter Umständen sinnvoll sein (was unter den heutigen Bedingungen einer latent hysterischen Öffentlichkeit oftmals jedoch schwierig sein dürfte). Und noch ein weiterer Vorteil der parlamentarischen Demokratie und des Parteiensystems sollte Erwähnung finden. Ich meine die ausdrücklich eingeräumte Möglichkeit gestaffelter und dosierter Beteiligung: vom Zeitungleser über den Wähler, die Mitgliedschaft in einer Partei bis zur Politik als Beruf und die Übernahme politischer Ämter. Das System stellt es dem Einzelnen frei, ob und wie weit er sich in der Politik engagieren will, wobei er dies unter Umständen auch zurücknehmen und für sich neu festlegen kann. Die Diktatur verlangt von ihren Trägern und Mitbürgern politisches Dauerengagement und ideologische Ergebenheitsadressen; die Demokratie hingegen offeriert ihnen eine Vielzahl von Teilnahmechancen und lässt ihnen gleichzeitig die Freiheit, sich nicht für Politik zu interessieren.
Karl-Heinz Bohrer postulierte einmal, die Politik sei heute neben Fußball und Journalismus eines der wenigen beruflichen Felder, auf dem es noch echte Dramen und Abenteuer gäbe. Und in der Tat: Jeder Skandal zeigt, wie schwankend der Boden ist, auf dem das politische Personal sich bewegt. Hinzu kommen die paradoxen Handlungserwartungen des Publikums: Tut man nichts, wird einem das sofort um die Ohren geschlagen; tut man aber etwas, so ist es immer zu wenig. (Es liegt in der in der Logik einer solchen Haltung, von dem, was der andere tut, kaum etwas wahrzunehmen.)
Die Beispiele für solche Dilemmata und Paradoxien sind Legion. Ihre tiefere Ursache liegt im tumultartigen Charakter des politischen Konflikts, in dem es (nicht nur, aber auch) stets um das Erringen und die Behauptung von Macht geht; und es liegt an der Getriebenheit der Akteure von Ereignissen, die letztlich niemand von uns vorhersehen kann.