Renate Solbach: Zeichen

Die Weltrevolution von 1990

Globalisierung als Ursache der gesellschaftlichen Spaltung

Koexistenz und Brain Circulation mit dem Nahen Osten

Postmoderne Destruktion

Gegensätze zu Gegenseitigkeiten

Ein Europa, das schützt

Dank und Ausblick


Liebe Gäste, nah und fern,

ich bin sehr dankbar für diese Gelegenheit zur Rückschau, denn ich habe bei der Vorbereitung viel über mich gelernt.

Ich war von 1990 bis 2020 genau 30 Jahre lang Hochschullehrer, zunächst sieben Jahre bei der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und dann 23 Jahre hier an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Zuvor hatte ich in sieben Assistentenjahren das Glück, zwei mich nachhaltig prägenden Lehrern zu begegnen: meinem verehrten Doktorvater Karl Dietrich Bracher in Bonn und später dem viel zu früh verstorbenen Klaus von Schubert in Heidelberg. Beide Professoren haben nicht nur Bücher geschrieben, sondern sie standen mit ihrer ganzen Person für ihre Gedanken ein.

Die Weltrevolution von 1990

In den 30 Jahren von 1990 bis 2020 hat sich die Welt, ausgehend vom Zusammenbruch des Sowjetsystems, bis hin zur Unkenntlichkeit verändert und ich hatte als Politikwissenschaftler alle Mühe, diese Veränderungen zu verstehen und ihnen begrifflich zu folgen.

Auch mein Berufsweg hängt mit der Zeitenwende von 1990 zusammen. Meine erste Professur an der Hochschule des Bundes war mit dem Auftrag verbunden, ehemaligen Staatsdienern der DDR, die in den Bundesdienst übernommen wurden, auf die Demokratie einzustimmen, böse Zungen sprachen von ›Gehirnwäsche‹, jedenfalls war es eine faszinierende Aufgabe. Schwieriger wurde es dann mit dem Folgeauftrag, auch in Moskau und Minsk Regierungsbeamte auf die Demokratie einzustimmen.

Nun: auch aus Niederlagen kann man lernen. Über diese Erfahrungen hat sich mein außenpolitisches Weltbild grundlegend gewandelt. Zuvor von der universellen Gültigkeit westlicher Werte überzeugt, wurde mir in den etwa 20 Lehreinsätzen in Moskau sehr deutlich gemacht, dass sie in Moskau keineswegs universal gültig sind. Damit aus den Vernetzungen der Globalisierung keine Verstrickungen werden, müssen die Eigenheiten und damit auch die Grenzen zwischen den Kulturen und Systemen im gegenseitigen Interesse beachtet werden.

Die westlichen Universalisierungsversuche haben unterdessen zu seiner fatalen Überdehnung und Schwächung geführt. Allein schon die Nato-Beitrittsversprechen und die EU-Avancen an Georgien und die Ukraine haben die Ukraine und damit zugleich West- und Osteuropa gespalten, die Nato-Russland-Sicherheitspartnerschaft ruiniert und uns Europäer wehrloser gegenüber den gemeinsamen Gefahren des revolutionären Islamismus und des chinesischen Imperialismus gemacht.

Mit der alten Weltordnung erodierten zugleich auch die alten ideologischen Begriffe: Sozialismus und Kapitalismus, Totalitarismus und Liberalismus, progressiv und konservativ, Links und Rechts, lauter Begriffe, mit denen meine Generation sich leicht noch orientieren, identifizieren oder auch abgrenzen konnte.

Heute wuchern demgegenüber die seltsamsten Hybridbegriffe: Demokraturen wie in Russland, ein Kommunistischer Kapitalismus in China, gewählte Diktatoren im globalen Süden, eine zunehmend islamistische Türkei als Mitglied der westlichen Nato-Wertegemeinschaft. Es geht strukturell und begrifflich drunter und drüber.

Dieser hybride Welt fehlen die ihr angemessenen neuen Begriffe. Hegel hatte uns Geistesarbeitern bekanntlich die Aufgabe einer ›Arbeit am Begriff‹ zugewiesen. Begriffe sollen begreifen und die Realität geistig und praktisch ordnen helfen. Von daher sah ich meine Arbeit als Suche nach dem treffenden, dem Sachverhalt angemessenen Begriff und nicht in der Propagierung schöner und korrekter Begriffe.

Dieses Berufsethos machte mich manchmal etwas schwierig, aber die Propagierung schöner Worte, die selten wahr sind und die jungen Menschen Flausen in den Kopf setzten, erscheint mir als eine gesinnungsethische Verantwortungslosigkeit.

Wenn wir zum Arzt gehen, erhoffen wir, aber erwarten wir keine schöne Diagnose, sondern eine die Krankheit treffende Diagnose als Voraussetzung jeder Therapie. Und wir erwarten ein Urteil: empirische Erhebungen der Symptome dienen nur der Vorbereitung dieses Urteils.

Die Aufbruchstimmung von 1990 ist schon lange dahin. Nach 1990 galt die westliche Demokratie als triumphierende Siegerin der Geschichte. Heute ist sie – von außen und von innen– in hohem Maße gefährdet. Und damit steht viel auf dem Spiel: Säkularität und Liberalität, Soziale Marktwirtschaft und rechtsstaatliche Gewaltenteilung, Demokratie und Freiheit.

Wir leben in platonischen Zeiten. Platon hatte ja keinen Fortschritt der Geschichte, sondern einen Kreislauf der politischen Systeme vorausgesetzt. Demnach verfalle die Demokratie zwangsläufig zur Pöbelherrschaft und diese ende in einer neuen Diktatur. Heute droht die Diktatur nicht nur in Gestalt eines allmächtigen Staates, sondern über einen digitalen Totalitarismus.

Macht begrenzt sich nie von selbst. Tritt man ihr nicht entgegen, kann sie sich wie im Stalinismus oder Maoismus selbst noch über Völkermorde stabilisieren und ausdehnen. Der Nationalsozialismus konnte nur durch massivste Gegenwehr zerstört werden. Die nicht zuletzt an Hochschulen herrschende naive Gutmütigkeit gegenüber der allzu global beurteilten Welt bietet heute keine gute Voraussetzung für notwendige Gegenmächte.

Wenn es den Europäern aber nicht gelingt, den neuen Totalitarismus des Islamismus und des chinesischen Imperialismus oder auch den tendenziell totalitären Digitalismus zu begrenzen und zu bändigen, werden wir Europäer auf die eine oder andere Weise zum Spielball und zur Kolonie anderer Mächte.

Globalisierung als Ursache gesellschaftlicher Spaltungen

Seit dem Fall der Grenzen zwischen Ost und West leben wir im Zeitalter einer wildwüchsigen Globalisierung, die erst durch die Digitalisierung einer neuen, aber wenig freiheitlichen Ordnung unterworfen werden könnte.

Aus dieser Globalisierung ist wiederum die größte politische Spaltung unserer westlichen Gesellschaften hervorgegangen: die zwischen Global und Local Playern, nach weltoffenen Globalisten und oft allzu regressiven Kommunitaristen, die in umgrenzten Gemeinschaften Schutz suchen.

»No nation, no borders«, so las ich auf Stickern unserer Studierenden, Träume von einer Welt, in der es keine Feinde mehr gibt, außer denen, die diese Weltsicht nicht teilen. Dieser Utopismus von der ›Einen Welt‹, schlug – aus dialektischer Sicht eigentlich selbstverständlich – in gegenteilige Antithesen und Regressionen um.

Letztere verirren sich dann in neu-nationalistischem oder separatistischem Protektionismus, welche einer Selbstbehauptung gegenüber den großen Imperien dieser Welt erst recht nicht gerecht werden. Regression aber auch auf der anderen Seite: bei der Rückkehr zu den ideologischen Begriffen des 19. Jahrhunderts.

Auf der großen internationalen Konferenz hier in der Katholischen Hochschule haben wir stattdessen nach Dritten Wegen jenseits von Utopie und Regression – nach einer Glokalisierung gesucht. Ich würde mich freuen, wenn wir uns hier weiter an der Suche nach neuen mittleren Wegen beteiligen.

Koexistenz und Brain Circulation mit dem Nahen Osten

An einem anderen Schauplatz des Weltgeschehens sind wir seit langem vertreten, dem Nahen Osten. Die dortigen Geschehnisse sind bis in den Arbeitsalltag unserer SozialarbeiterInnen von direkter Relevanz.

Militärische Interventionen des Westens haben die Levante und Libyen zerstört. Die Folgen von Vertreibung und Flucht binden heute erhebliche Teile der Sozialen Integrationsarbeit. Ohne Kenntnisse der Kulturen sind die Integrationsprozesse nicht einmal verstehbar, geschweige denn bewältigbar.

Das Unverständnis zeigt sich vor allem etwa an dem nach innen gewendeten westlichen Universalismus, demzufolge wir alle, die zu uns kommen, in unsere Leitkultur integrieren. Wer die islamische Kultur kennt, weiß, dass dieser Anspruch auf kulturelle Integration eher ihre Fundamentalisierung hervortreibt.

Wir müssen in der Vielfalt der verschiedenen Kulturen in Europa zu koexistieren lernen, aber zugleich die Einheit der Rechtsordnung und der unbedingten Gültigkeit der staatlichen Leitstrukturen – von der Schule bis hin zum Gewaltmonopol der Polizei – einfordern. Die lange Stabilität des Römischen Weltreiches beruhte auch auf eben dieser Dialektik zwischen einer Vielfalt der Kulturen und der Einheit des Römischen Rechts, aus geförderter Toleranz und eingeforderter gegenseitiger Toleranz.

Leitstruktur statt Leitkultur, der Unterschied zwischen beiden gehörte zu meinen Lieblingsprüfungsthemen. Dass die Studierenden darin meine Thesen eins zu eins, ohne eigene Gedanken hierzu nacherzählten, gefiel mir keineswegs. Das Selbstdenken ist, um es höflich zu sagen, aus der Mode gekommen.

Auch diese Differenzierung nach Funktionssystemen ist weder Links noch Rechts, sondern beides, im sozial-ökonomischen System kommen mit dem Fördern und Fordern individueller Selbstverantwortung auch noch liberale Ideen hinzu. Ausdifferenzierte Funktionssysteme erfordern statt ideologischer Antworten differenzierte Wege zur gemeinsamen Problem-Bewältigung.

Inspiriert durch meine Lehrtätigkeiten im Nahen Osten, in Bethlehem, Haifa, Amman und Ghom habe ich zwischen den Kulturen zu differenzieren gelernt. Weiterhin muss auch noch innerhalb der Kulturen, zumindest zwischen Staat und Gesellschaft differenziert werden.

Auf den Reisen im Iran wurden wir hin- und hergerissen zwischen den großartigen Menschen, denen wir begegneten und einem schrecklichen religiös-totalitären Regime. Auf dieses Dilemma gibt es nur eine dialektische Antwort: je schlimmer der Staat, desto wichtiger wird die Hilfe für zivilgesellschaftliches Engagement. Je korrupter und verkommener die alten Eliten, desto wichtiger die Förderung von Studierenden.

In meinem Buch über den Nahen Osten habe ich 2015 statt der irreal gewordenen Zwei-Staatenlösung einen Wirtschaftsfrieden zwischen Palästinensern und Israelis empfohlen. Der Kampf um die Zivilisation, so der Untertitel meines Buches, geht um die Bewältigung des Wassermangels, der Desertifikation, von Armut und um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dafür ist die Teilhabe am Knowhow der wissensbasierten Zivilisation wichtiger als der Inbesitz Heiliger Berge, aber auch einer eigenen Fahne.

Ich war nicht der einzige, der solche seltsamen Ansichten vertrat, aber ich gehörte – wie üblich – zu einer Minderheit. Woher schöpfte ich diese Einsicht? Aus Gesprächen, etwa mit dem palästinensischen Studenten Abdallah in Bethlehem: Einen Satz von ihm werde ich nie vergessen: »Doktor, ich brauche keinen eigenen Staat, sondern einen eigenen Arbeitsplatz. Wo auch immer.«

Ihm ging es, anders als der dortigen Hochschulleitung, nicht um den eigenen Nationalstaat, er braucht für ein gutes eigenes Leben Knowhow und Arbeit. Heute – ich bin mit ihm über Facebook weiter verbunden – arbeitet er als Schulsozialarbeiter in Israel, mit meist palästinensischen Schülern. Es gibt 1,6 Millionen palästinensische Israelis, die froh sind, dort zu sein und nicht in einem weiteren Syrien, Irak oder Libanon. Der europäische Nationalstaat kann in den Stammeskulturen des Nahen Ostens mit eben der Ausnahme des europäischen Israels gar nicht die richtige Organisationsform sein, weil er einem anderen Gesellschafts- bzw. Gemeinschaftsverständnis der Stammeskulturen entstammt.

Unterdessen hat sich die Sichtweise vom Vorrang der Zivilisation über die Kultur, über Nation und Religion in den Verträgen zwischen arabischen Staaten und Israel durchgesetzt. Das lag sicherlich nicht an meinem Buch, aber dass ich dort einigen Jahrgängen diese Gedanken, vielleicht für sie noch beizeiten, nahebringen konnte, gehört zu meinen besten Erinnerungen.

Im Iran führte dieses These allerdings zu einem heftigen Wutausbruch des gastgebenden Ajatollahs, wie ich ihn –jedenfalls in beruflichen Kontexten – noch nie erlebt hatte und der auch nach unserer Abreise noch tagelang nachhallen sollte. Solche Erfahrungen helfen zu klären: so unabdingbar Koexistenz und Kooperation auch mit autoritären Regimen ist, so dringend muss der revolutionäre und totalitäre Islamismus beizeiten eingedämmt werden, damit man später keine Kriege gegen ihn führen muss.

Auch bei manchen Studierenden in Bethlehem, die der Hamas-Bewegung nahestanden, erfreute ich mich ob meiner Zivilisationstheorie größter Unbeliebtheit. Nun, wer sowohl die Antifa in Aachen und Köln als auch die Hamas im Gaza-Streifen zu seiner Gegnern zählen kann, hat wohl nicht alles falsch gemacht.

Ausgerechnet der Nahe Osten gehört mit den neuen Verträgen zu den hoffnungsvolleren Regionen des letzten Jahres. Generell befinden wir uns neben den politischen Verfallserscheinungen zugleich im Aufbruch zu einer wissensbasierten Zivilisation, in der Funktionen wichtiger sind als Identitäten und in der es auch heilsame Zwänge zur Einordnung von partikularen Interessen gibt. An diesem Wettrennen zwischen Verfall und Aufbruch sollten sich Hochschulen auf reflexive Weise beteiligen.

Über das persönliche Schicksal unserer Studierenden entscheiden nicht ihre Herkunftsidentitäten, nicht ihre Religionen und Nationen, aber auch nicht ihre Geschlechtsmerkmale, sexuellen Neigungen oder Hautfarben. Für ihre gute Ausbildung sind Einsichten in die Realitäten und die Kompetenzen gefordert, diese dann zu bewältigen.

Postmoderne Destruktion

Die in ganz Europa vereinheitlichten, ›sowjetisierten‹ (Karl-Heinz Bohrer) Studiengänge fördern eine Einheitlichkeit des Lernens, in der die Studierenden dann nur noch alles nachlernen dürfen, was der Mainstream verkündet, und in dem für freies, nicht einmal für dialektisches Denken keine Freiräume und Spielräume bleiben.

Hochschulen sind kein relevanter Player mehr im öffentlichen Diskurs. Eifernde Gesinnungsethiker dominieren, die uns nach Gut oder Böse zu unterscheiden versuchen. Mit der moralischen Spaltung verstärkt man die politische Spaltung der Gesellschaft, worüber sich die Ausgegrenzten radikalisieren, und dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die gegenseitige Dämonisierung in Gewalt endet.

Ihre postmodernen Destruktionen schufen flächendeckenden Relativismus und ein geistiges Vakuum, in das nun – an die Stelle des Gemeinwohls – immer neue konstruierte Mikro-Identitäten und ersatzreligiöse Phantasien treten. An die Stelle differenzierter Analysen, zu denen erhebliche Teile des inflationierten akademischen Prekariats gar nicht mehr in der Lage sind, trat eine grobschlächtige Moralisierung, bewacht von den neuen Blockwarten der Antifa.

Die Antifa hat mit dieser im Grunde ja stalinistischen – Strategie, alle ›fortschrittlichen Kräfte‹ in einer allgemeinen Gesinnung-Blockpartei zu sammeln und alle anderen auszugrenzen, an westlichen Hochschulen eine stille, aber sehr wirkungsvolle Dominanz errungen.

Mit ›Rechts‹ sind wirklich alle gemeint, die nicht Links sind, was dann selbst Konservative und Liberale ausgrenzt. Diese Strategie ist voll aufgegangen und hat zuerst den offenen Diskurs der offenen Gesellschaft zerstört und dann diese gespalten. Die postmodernen und spätmarxistischen Gesinnungen sind – wie von einem Superspreader – in die Medien und Politik getragen worden und haben die Selbstbehauptungsfähigkeit der westlichen Welt schwerstens beschädigt.

Gegensätze zu Gegenseitigkeiten

Nicht nur Corona, auch die geistige Verwirrung hat heute pandemische Ausmaße angenommen. Plötzlich ist derjenige, der den liberalen Rechtsstaat gegen religiösen Extremismus verteidigt, ›Rechts‹ und derjenige, der Entgrenzungen und damit einem weltweiten Wettbewerb das Wort redet, bei dem die Schwächsten der Gesellschaft die Hauptverlierer sind, ist Links. Der Begriff ›Milliardärs-Sozialismus‹ scheint mir gut auf die kalifornischen und chinesischen Mogule zuzutreffen, die die ganze Welt als gleiche Konsumenten gewinnen wollen, einschließlich ihrer gleich korrekten Gesinnung.

Wer den Sozialstaat, den Rechtsstaat und die freiheitliche Demokratie bewahren will, ist rechts, links, liberal, sozial und konservativ. Ich habe es nie verstanden, wie sich ein denkender Mensch freiwillig auf einen einzigen Begriff reduzieren lässt.

Für eine komplexere Sicht steht seit langem die Christliche Soziallehre, die am Ausgleich der Werte im Sinne des Gemeinwohls orientiert ist. Zu meinen Hoffnungen gehört, dass sich die Überlegenheit dieser Lehre gegenüber den alten enggeführten Ideologien durchsetzt. Ich hoffe, dass Europa in einem aufgeklärten Kulturchristentum, welches auch Nichtgläubigen und historisch gebildeten Menschen zugänglich ist, einen neuen Minimalkonsens findet, in dem falsche Gegensätze in neuen Gegenseitigkeiten aufgehoben sind: so auch der Gegensatz von Offenheit und Begrenzung in einer begrenzten und kontrollierten Offenheit.

Diese Gegenseitigkeit von Gegensätzen gründet auch in den Gedanken von Nikolaus Cusanus. Sie ist in der abendländisch-aufklärerischen Kultur einige Male gelungen. Nicht zuletzt bei den

  • Gegensätzen von Religion und Politik im säkularen Staat und

  • von Kapital und Arbeit in der Sozialen Marktwirtschaft.

Ein Europa, das schützt

Auch in der Corona-Pandemie gibt die EU kein gutes Bild ab. Die bis noch April 2020 offenen Grenzen zu den Corona-Hotspots China und Iran führten dann umgekehrt zu Grenzschließungen zwischen den Schengen-Ländern und noch mehr zu Begrenzungen unserer Grundrechte. Die Frage lautet doch nicht im Ernst, ob wir Grenzen wollen, sondern nur, wo diese notwendig sind.

Für die Suche nach glokalen Gegenseitigkeiten zwischen Globalismus und Nationalismus wäre eine Europäische Union geeignet, in der die Vielfalt ihrer Nationalstaaten gewahrt bleibt, die aber sich zugleich nach außen gemeinsam zu behaupten versteht.

Die derzeitige EU hat den umgekehrten Weg gewählt, sie strebt zur Einheit nach innen bis hin zur berühmten Regulierung von Gurkenkrümmungen, schlimmer: zu einer die Wirtschaft Südeuropas überfordernden Einheitswährung: Nach außen reden dann 27 Außenminister durcheinander. Dieser Irrweg ist von der nationalstaatlichen Forderung nach Einheitlichkeit im gemeinsamen Raum inspiriert.

Aber ein neuer Nationalstaat oberhalb von 27 bereits bestehenden Nationalstaaten – das kann nicht gutgehen. Dieses Streben hat die in den Verträgen auch vorgesehene Subsidiarität der Union beseitigt und führt, wie zuletzt, zu den Impfstoff-Verstrickungen zahlloser Akteure. Dabei wäre nach den Verträgen ›Gesundheit‹ Sache der Nationalstaaten gewesen.

Umgekehrt würde ein Schuh draus. Wir bräuchten ein subsidiäres Europa, welches mittelständischen Geschäften vor steuerhinterziehenden Global Playern wie Amazon hilft, statt sie für ihre Ortsgebundenheit zu bestrafen. Und wir bräuchten subsidiäre Nationalstaaten, in denen auf kommunaler Ebene der Milieuschutz die Vielfalt des Lokalen vor der trostlosen Einheit des Globalen zu schützen versucht. Eine Europäische Union, die das nicht bewältigen kann, weil in ihr die jeweils allein profitierenden Steuerparadiese – im Fall Amazons ist dies Irland – die zur Änderung geforderte Einstimmigkeit verhindern, befindet sich in einer Verflechtungsfalle. Sie ist in ihren eigenen Strukturen verstrickt.

Auf das Flüchtlingsdrama, welches die EU durch die Halbierung ihrer Hilfen für die Flüchtlingslager in den Nachbarstaaten Syriens 2014 maßgeblich mit ausgelöst hat, wurde bis heute keine gemeinsame Antwort gefunden.

Welche realistischen Visionen gäbe es hierzu? Europas Beteiligung am Kampf um die Zivilisation sollte vor allem in einer Ausbildungsarbeit liegen, möglichst schon in den Flüchtlingslagern vor Ort, aber dann auch in Europa, wo es allerdings eben nicht um Integration, sondern um eine Umkehrung des Brain Drain in Brain Circulation ginge.

Mit mehr Vielfalt nach innen und viel mehr Einheit nach außen würde die EU nicht abgeschafft, sondern renoviert. Denn all diese Irrungen und Wirrungen müssen ja nicht das letzte Wort haben. Paradigmenwandel sind unserer Kultur öfters gelungen, vor allem 1648, 1945 und eben auch 1990. Ich stelle mir die Rolle des künftigen Europas in der Welt etwa vor wie die der Schweiz in Europa. In diesem Staat der verschiedenen Ethnien und Sprachen herrschte über Jahrhunderte maximale Vielfalt nach innen und defensive Einheit nach außen – gegen die sie umringenden Großmächte. Bis heute verhält sie sich gegenüber dem Rest der Welt in aktiver Neutralität. Niemand braucht am Schweizer Wesen zu genesen.

In globalen Kontexten sollten wir aus der Not unserer demografisch, militärisch und ökonomisch nachlassenden Kräfte die Tugend der Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung machen und in aktiver Neutralität unsere Kooperation auf die Bereiche konzentrieren, in denen der Westen noch einiges einzubringen hat, auf Bildung, Ausbildung, Wissenschaft und Technik. Hierzu wünsche ich der internationalen Arbeit der Hochschule, an der ich mich so gerne beteiligt habe, bei ihren weiteren Aktivitäten von ganzem Herzen Erfolg.

Dank und Ausblick

Nicht bedanken möchte ich mich bei der Antifa, bei der ich aufmerksame Leser hatte, die allerdings nicht reflexiv, sondern reflexhaft auf bestimmte Begriffe anschlugen, Eiferer, die nicht in Zusammenhängen denken und aus dieser Not die Tugend der moralisierenden Anklage machen.

Für mich bleiben deren immer anonyme, feige, gegen den Dialog und damit gegen die Demokratie gerichteten Attacken eine unangenehme Erinnerung. Geholfen hat mir die Solidarität des Kollegiums und vor allem die Solidarität des AStAs der Abteilung Köln, die es besser wussten und für deren Solidarität ich mich hiermit ausdrücklich bedanke. Andere Kollegen in Berlin sind nicht so gut weggekommen. In der Regel reicht es bei Hochschullehrern, die nicht zu Helden geboren sind, einen zu bestrafen, um hundert zu erziehen.

Der Abschied von einer Hochschule ist heute auch ein Abschied von einem Zeitgeist, in dem postmoderner Dekonstruktivismus, Gender-Sprachspielereien, die Pflege von Wokeness und seltsamsten Mikro-Identitäten, aber auch ersatzreligiöse Träume von der ›Einen-Welt‹ vorherrschen.

In den sehr ernst gewordenen Zeiten sollten auch Hochschullehrer die einfältigen Mainstream-Debatten der Medien beenden helfen. Um einen Paradigmenwandel vorzubereiten, müssten an Hochschulen nicht primär postmoderne und postkoloniale Studien, die nur Schlechtes über unsere Kultur breittreten, stattdessen vormoderne und moderne Geistesgeschichte betrieben werden.

An einer Katholischen Hochschule ist man – jedenfalls nach oben – vor dem Zeitgeist etwas mehr geschützt als üblich. Inhaltlich gab es keinerlei Einreden von oben oder von der Seite, dafür allerdings von ganz unten. Allen anderen, der Kirche, der Hochschulleitung, den Kollegen und den vielen sympathischen Studierenden gilt mein Dank sowohl für das Nichthineinreden als auch für das Miteinanderreden.

Bei der Zwangspensionierung handelt es sich um eine Altersdiskriminierung durch den Gesetzgeber, um ein unhaltbares Relikt vergangener Zeiten. Ich rede hier nicht in eigener Sache, denn ich bin ganz froh um die viele Zeit, die ich jetzt zum Schreiben habe.

Wie geht es weiter mit mir? Es gibt einen trefflichen Satz des Schriftstellers Wolf Wondratschek: »Was soll ein Typ wie ich schon machen – außer weitermachen?«

Eine Anrede als Pensionär oder gar Ruheständler möchte ich mir ausdrücklich verbitten. Ich bin, wie Sie gehört haben, ziemlich beunruhigt und werde deshalb weiter als Autor und Redner unruhig unterwegs sein, mich weiter in Wort und Schrift für eine Koexistenz und gegenseitige Toleranz der Kulturen, für differenzierte Integration, Behauptung unserer demokratischen Leitstrukturen, Wirtschaftsfrieden im Nahen Osten und ein ›Europa, das schützt‹ einsetzen.

Immerhin stehen mir dafür als Foren einige nicht mainstreamige Medien zur Verfügung, die liberal sind im Sinne der Offenheit für unterschiedliche Meinungen und Perspektiven, aus deren Ergänzung erst Annäherungen an die größere Wahrheit gelingen kann. Und mehr wird und darf uns auch nie gelingen.

 

2020 Schach dem Wissen