Renate Solbach: Zeichen

I Die Virulenz des Totalitären

1.

Die SED- und Stasi-Opfer sind Störenfriede wie einst die überlebenden Juden. Sie sind und waren das schlechte Gewissen nicht nur der Täter, sondern vor allem der Gleichgültigen, die nicht so genau hinsehen wollten und möchten. Sie verkörpern die nicht einfach zu beantwortende Frage nach eigener Verantwortung oder gar Mitschuld. Dass Menschen in der ›DDR‹ großes Unrecht geschah, war in Ost und West leicht zu erkennen. Wer nicht blind war, sondern sich nur so stellte, der wusste, mit welcher Rücksichtslosigkeit die SED ihre Macht verteidigte und auch über Leichen ging. All das war sichtbar und sollte es auch sein. Damit aber wurden die Geschädigten zur Anklage für jeden, der aus nachvollziehbaren Gründen wegsehen wollte. Das Schreckliche einer Diktatur ist ja nicht bloß ihre unmittelbare Grausamkeit; es ist ihr perfider Versuch, die Untertanen permanent zur Gleichgültigkeit, zur Mitleidlosigkeit und zum schlauen Dummsein zu zwingen, wenn sie schon nicht als Mittäter gewonnen werden können. »Die Söhne des Teufels«, so der französische Kulturanthropologe René Girard, »sind jene Menschen, die sich in den Zirkel des rivalisierenden Begehrens hineinziehen lassen und unwissentlich zum Spielball der mimetischen Gewalt werden. Wie alle Opfer dieses Prozesses ›wissen sie nicht, was sie tun‹ (Lukas 23,34).«

2.

Die wie Jürgen Habermas und seine neomarxistischen Adepten jahrzehntelang den im Zwanzigsten Jahrhundert durch einen 30-jährigen europäischen Bürgerkrieg blutgetränkten Boden bewässerten und damit den ideellen Sumpf bereiteten, in dem wir langsam und sicher ersticken, erkennen plötzlich im Alter: »Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.« Das zu verstehen fällt weniger schwer, als die Person zu akzeptieren, die solches sprach. Schließlich könnte es sein, dass es Vorgänge gibt, die nicht vergeben werden können, nicht zuletzt deshalb, weil, so der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas, »die Möglichkeit der grenzenlosen Vergebung zu grenzenlosem Bösen auffordert«. Dem ›Verstehen wollen‹ und dem ›Verständnis aufbringen‹ haftet selbstverständlich eine moralische Dimension an. So wie Einzelnes sich aus dem Ganzen verstehen lässt, wird das Ganze oft aus dem Einzelnen verständlich. Das menschenmögliche Verstehen ist gleichermaßen synthetisch wie analytisch, ebenso sehr Folgerung wie Ableitung. Demnach erfüllt sich unser Dasein zur Gänze erst in dem Verstehen anderer und im Verstandenwerden durch andere und damit in den moralischen Gemeinsamkeiten von Familie, Religion, Kultur, Volk und Staat, aber niemals in einer Ideologie. Ein Schlüsselbegriff sittlicher Gemeinsamkeit dürfte dabei das ›Gewissen‹ sein, an dem sich schon Generationen von Philosophen die Zähne ausgebissen haben.

3.

In der marxistischen Variante des Sozialismus wurde dieser Begriff durch das ›sozialistische Bewusstsein‹ ersetzt, das zu erlangen jeder solange geschult wurde, bis der Begriff ›Gewissen‹ aus der Mode kam. Lediglich bei Marx und Engels fand sich die Vokabel noch in terroristischen Sätzen wie: »Die Kommunisten machen sich allerdings kein Gewissen daraus, die Herrschaft der Bourgeois zu stürzen und ihr ›Wohlsein‹ zu zerstören, sobald sie die Macht dazu haben werden.« Was Marx und Engels nicht wissen konnten oder wollten – nach dem Untergang der Bourgeoisie war auch die angeblich herrschende Klasse, das Proletariat, der Verarmung preisgegeben. Zudem wurden die Arbeitenden in solchen Arbeiter-und-Bauern-Staaten am meisten geknebelt durch die bürokratische Herrschaft einer feudalistisch, nein, viel schlimmer: totalitär regierenden Parteienoligarchie. Und nicht einmal das stimmt, denn es ist unsinnig, von Parteien zu sprechen, wo es in den kommunistischen Staaten ohnehin nur eine maßgebende Partei gab. Denn das Wort ›Partei‹ bekommt seine Bedeutung nur, wenn es mindestens einen echten Gegenpart gibt. Entsprechend ist ein Mensch, der beansprucht, die Wahrheit zu besitzen, nicht nur kein Philosoph, sondern neigt unabänderlich dazu, gerade weil ihn utopisch-ersatzreligiöse Vorstellungen antreiben, die ganze Macht an sich zu reißen, um zum tyrannischen Terroristen zu werden, wenn ihm die Mittel dazu gegeben sind.

3.

Der mit religiöser Inbrunst betriebene und als Religionsersatz dienende Führerkult um Hitler, Bolesław Bierut, Fidel Castro, Nicolae Ceauşescu, Enver Hoxha, Saddam Hussein, Kim Il-sung, Kim Jong-il, Lenin, Mao, Saparmurat Nijasow, Stalin und viele andere zeigt den Grad der Domestizierung großer Bevölkerungsteile genauso an wie den Vorrang des Zynismus, der intelligente Menschen befällt, wenn sie keine Chance sehen, die Verhältnisse zu ändern oder solcher Tyrannei zu entkommen. Von außen, aus einem anderen System der Lebensform heraus, ist so etwas schwer nachzuvollziehen.

Der polnische Literatur-Nobelpreisträger litauischen Ursprungs, Czesław Miłosz, der sich als Diplomat zunächst dem Kommunismus verbunden fühlte, jedoch bald dessen schärfster Kritiker wurde und ins Exil ging, hat mit als Erster versucht, dem Rest der Welt in seinem Buch Verführtes Denken auf hohem sprachlichem, psychologischen und politischen Niveau – und trotzdem anschaulich! – die geistige und moralische Zerstörung bis hin zur Auflösung des Denkens unter den sich auf Marx, Engels, Lenin und Stalin berufenden Diktatoren des Ostblocks zu erklären. Wäre er grundlegend verstanden worden, hätte es dann viele Jahre darauf wieder zu einer Renaissance des Marxismus an den westlichen Universitäten kommen können?

1950 erschien Wilhelm Röpkes Buch Maß und Mitte. Darin heißt es, »dass die kommunistische Variante des Totalitarismus die nationalsozialistische gerade in denjenigen Hinsichten, auf die es ankommt, eher noch übertrifft«. Zu Recht fragte er, der auch den Totalitarismus der Hitler-Diktatur von Anfang an durchschaute und ihm widerstand, warum man immer wieder, trotz aller Offensichtlichkeit, »klugen und wohlmeinenden Menschen« begegnet, darunter sogar Christen, »die sich an die weniger wesentlichen Verschiedenheiten zwischen dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus klammern, um die Gleichheit im Wesentlichen zu leugnen«. Der Kommunismus sei vom Wesen her weit gefährlicher als das NS-Regime auf Grund der Tatsache, dass der Nationalsozialismus auf einer biologischen Rassen- oder Auserwähltheitslehre gründete, die wohl kaum einen Eskimo oder Afrikaner zur Ideologie des Germanischen ›Herrenvolkes‹ bekehrt und damit keine Chance gehabt hätte, »zu einem wirklichen Pseudo-Islam zu werden«. Der vom Marxismus-Leninismus ausgehende Kommunismus hingegen sei »durch den universell-rationalistischen, an die ›linken‹ Überlieferungen anknüpfenden Charakter seines Programms – nicht eine partikuläre, sondern eine universalistische Pseudo-Religion«.

4.

Marx verkündete, dass der gesetzmäßig kommende Kommunismus über die Zwischenetappe Sozialismus die Menschen, besonders des ausgebeuteten Proletariats, von ihren Fesseln befreien werde. Sie hätten ja nichts weiter zu verlieren als ihre Ketten. Danach, wenn den kapitalistischen Ausbeutern der Garaus gemacht worden sei, müsste sich keiner mehr um eine fremde Sonne drehen, sondern könnte endlich, der Entfremdung von sich selber entledigt, seine volle Menschlichkeit entfalten, um »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. Aus der Fülle des nach Plan mit volkseigenen Produktionsmitteln Produzierten könnte sich dann jeder nach seinen Bedürfnissen ohne Geld bedienen.

Der von Friedrich Engels vorhergesagte »Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« würde den im Paradies auf Erden lebenden Menschen auch dorthin führen, »wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion«. So könnte in Kurzform die ›wissenschaftliche‹ Erlösungs-Botschaft von Marx & Engels lauten – ohne sie mit jenem Sarkasmus und Zynismus kommentieren zu wollen, der ansonsten den Stil dieser Vielschreiber ausmacht. Wie soll schon in wenigen Jahren noch verstanden werden, welchem Aberwitz die Mehrheit der meinungsführenden Intellektuellen über hundert Jahre lang aufgesessen ist? Es wäre nur eine Vorhaltung zum Thema Dummheit, wären da nicht endlose Verwüstungen an Kulturen und Traditionen zu beklagen, ganz zu schweigen von den vielen Millionen Menschenopfern im Namen kommunistischer Gewaltherrschaft. Das sei längst schon Geschichte und nicht mehr virulent? Wie ist es dann zu verstehen, dass nach einer ›Spiegel‹-Umfrage aus dem Jahre 2005 zwei Drittel der Mitteldeutschen und überraschend viele Westdeutsche, nämlich 56 Prozent, der Meinung sind, der Sozialismus sei »eine gute Idee, die bislang nur schlecht ausgeführt worden ist«? Rational lässt sich das wohl kaum noch erklären.

5.

Erich Rothacker, Begründer der geisteswissenschaftlichen Kulturanthropologie, unterschied zwischen dem Verstehen und den beiden »rationalen Wegen des Begreifens und Erklärens«. Das Verstehen nutze zwar die »rationalen Möglichkeiten«, aber »die Begriffe haben für das Resultat keine konstruktive, sondern nur eine erläuternde Bedeutung«. Das erklärt einiges, aber beileibe nicht alles. Karl Jaspers widmete dem Buch Verführtes Denken ein Vorwort, aus dem weit reichendes Verständnis durch Erfahrung spricht: »Die Sklavenschaft des Geistes in totalitären Staaten, die wir Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus äußerlich in den Redewendungen, Gebärden und Handlungen des damaligen Alltags, innerlich in der Anschauung dessen, was in den einzelnen Menschen vorging, erfahren haben, wird hier an den Erscheinungen der östlichen Volksdemokratien, besonders Polens, in einer Weise gezeigt, die wahrhaft ergreift, uns Deutsche vielleicht mehr noch als die westlichen Völker, denn wir sind Mitwisser dessen, was hier in polnischer Abwandlung gezeigt wird.« Solche selbstverständlichen Einsichten wurden durch die Wohlstands-Revoluzzer der 68er-Generation, die alles bestritten außer ihren Lebensunterhalt, regelrecht kriminalisiert.

Weit unter Jaspers’, Heideggers, Gadamers und Noltes Niveau fiel der zum bundesdeutschen Staatsdenker stilisierte ›Ayatollah vom Starnberger See‹ zurück. Seine Soziologie beförderte die Auflösung der Lebensbindungen und eine übertriebene Distanz der Deutschen zur eigenen Nationalgeschichte, die auf die 12-jährige Herrschaftsverwerfung der Nationalsozialisten reduziert wurde. Freilich musste diese Katastrophe analysiert und begriffen werden. Aber das funktioniert schlecht auf Kosten geschichtlicher Selbstdurchsichtigkeit, die der gesamten Geschichte bedarf – ohne gleich Hegels umstrittenes Diktum »Das Wahre ist das Ganze« in Anspruch nehmen zu wollen. Gadamers Hermeneutik, in der das Verstehen zum Gegenstand der Besinnung gemacht wurde, verdeutlicht, »wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist und wie wenig durch das moderne historische Bewusstsein die Traditionen, in denen wir stehen, entmächtigt sind, so werden damit nicht etwa den Wissenschaften oder der Praxis des Lebens Vorschriften gemacht, sondern es wird versucht, ein falsches Denken über das, was sie sind, zu berichtigen«.

6.

Viele zeitgenössische Soziologen und Spezialphilosophen haben ihr Denken in einen wirren, dabei ausgetüftelten Jargon gekleidet. »Worauf«, entgegnete der fast 100-jährige Gadamer in der Frankfurter Paulskirche 1999, »soll eine Nation noch ihren Stolz gründen, wenn nicht auf das Wunder der Muttersprache?« Die Bannerträger des deutschen Sonderweges sind sich einig, dass es keinen Grund zum Stolz geben dürfe in einem verblühenden Staatswesen, das lediglich Verfassungspatriotismus gestatte und dessen Mythos sich auf Auschwitz gründe. Der Klassenkampf von oben – vielen Schülern weder in Literatur, Geschichte oder Religion einen Bildungskanon vermittelnd – tobt sich zwar langsam aus, aber die Schäden scheinen irreversibel zu sein. Linke Gutmenschen, stets auf der Seite des Fortschritts, päppelten sich aus ihren politisch, pädagogisch und kulturell verwahrlosten Kindern ein rechtsextremes Potenzial heran, um aus dem Steuertopf ihren im Ansatz schon totalitären »Kampf gegen rechts« führen und von ihrem Versagen gegenüber der zweiten totalitären Diktatur in Deutschland ablenken zu können. »Mit Geschichtswissenschaft hatte das nichts zu tun«, stellte Ernst Nolte in einem Interview lapidar fest, »eher mit dem Entstehen einer neuen Religion vom absoluten Bösen, dem wir uns entgegensetzen, um uns dadurch als Gute zu empfinden.«

Der vulgäre Ausfluss solchen Unbedenkens, das sich weniger ums Verstehen, desto heftiger um Urteile bemüht, äußert sich kurz und brutal in Graffiti-Sprüchen wie: »Feuer und Flamme für diesen Staat!«, »Polen muss bis Holland reichen, Deutschland von der Karte streichen« oder kurz und bündig: »Deutschland verrecke!« Die ›Früchte des Zorns‹ scheinen besonders gut auf einem humanen, soll heißen: liberalen und pluralistisch-demokratischen Boden zu wachsen. »Wenn wir leben wollen, müssen wir uns beeilen«, sagen sich die so genannten ›Autonomen‹ zur Rechtfertigung ihrer Gewaltbereitschaft. Und so sehen sie »die Scheiße«, in der sie angeblich »schon bis zum Halse stecken«:

»Das Leben vegetiert zwischen Maloche, Kaufzwang und Glotze. Die Jungen werden eingekreist, die Alten nach einem betrogenen Leben in Heime weggeschlossen und die Rente gekürzt; die dazwischen sind neurotisch und werden wie nie zuvor auf Effektivität getrimmt oder ausgesondert und arbeitsmarktmäßig ›saisonbereinigt‹ oder auch nicht. Die Frauen sind ›doppelbelastet‹, Ausländer, Alte und Studenten bilden ›Negativgruppen‹ in ›Problemgebieten mit Veränderungsdruck‹ und werden wegsaniert. Die Gefangenen werden lebendig in Beton eingemauert, die Irren mit Chemie abgeschaltet. Aus Liebenden sind längst Partner geworden, aus Erfassung und Entmündigung ›Sozialfürsorge‹, aus weißer Folter ›Therapie‹ und aus Atomlagern ›Entsorgungsparks‹. Aus Kriegsgegnern sind ›gefährliche Pazifisten‹ geworden, aus Kriegstreibern ›Männer des Friedens‹ und aus der entsetzlichen Auspressung der 3. Welt der ›Nord-Süd-Dialog‹. Der Regen ist sauer, die Luft krebserregend, das Wasser längst umgekippt, die Erde voller Atomsprengköpfe und wenn man Sprengstoff fressen könnte, gäb‹s keinen Hunger mehr auf der Welt, denn bereits auf jedes Baby kommen ein paar Tonnen.«
(Aus Texten der Revolutionären Zellen/Rote Zora: Feuer und Flamme für diesen Staat.)

Das entspricht einem Weltbild unterhalb des Niveaus der Bild-Zeitung. Doch reicht diese einfältige ›Weltanschauung‹ bis weit in die Reihen der ältesten demokratischen Partei Deutschlands hinein. Der preisgekrönte Film Der ewige Gärtner bedient ihre Klischees. Der Regisseur von Dokumentarfilmen über Opfer des Kommunismus, Dirk Jungnickel, kommt anlässlich der Besprechung einer Filmdokumentation zu der Einsicht: »Was den Umgang mit Kommunisten betrifft, hat die deutsche Sozialdemokratie aus eigener leidvoller Geschichte wenig gelernt. Gemeinsame Wurzeln bei Marx verhindern bis heute eine konsequente Gegnerschaft zu den Kommunisten. Die daraus resultierende ideologische Virulenz bereitete bei Lichte besehen auch den Humus, auf dem die PDS gedeiht und durch den die fossilen Schergen des MfS derzeit wieder hervorzukriechen wagen.«

7.

Hier dürfte – wie bei den Rechtsextremisten auf der anderen Seite des Spektrums – der Zusammenhang zwischen »Erlebnis, Ausdruck und Verstehen« (Wilhelm Dilthey) erkennbar gestört sein. Von den aufgezählten, keineswegs nur aus der Luft gegriffenen ›Problemen‹ haben die Wohlstands-Revolutionäre freilich die wenigsten ›erlebt‹ oder auch nur mitfühlend durchdacht. Sie gieren, oft aus Verwilderung heraus, die sich als jugendlicher Leichtsinn tarnt, nach extremen Erlebnisformen und orientieren sich am gefährlichen Leben der Freischärler, Revolutionäre, Rebellen, Autonomen oder Stadtguerillas. Ihr Lebenssinn speist sich aus Verachtung gegenüber dem Spießer, dem ›normalen‹ Leben und der von ihnen so empfundenen Wirklichkeit. Ihr Ausdrucksvermögen spannt sich von vulgär, kindlich, agitativ bis hin zu unkonventionell, originell und witzig und bleibt dabei durchgehend ohne philosophische Tiefe. Ihr Nichtverstehenwollen der Umwelt, das sich in Verachtung bis Hass bekundet, resultiert aus utopischen und märchenhaften Modellen, die teils aus Kinderfernsehsendungen, meist jedoch aus den bekannten Utopien von Marxisten und Anarchisten jeder Spielart stammen, manchmal auch aus den Büchern religiöser Sektierer.

Es versteht sich von selbst, dass narzisstische ›Revolutionäre‹ sich nicht im Geringsten um jene bemühten, die man jetzt so kurzerhand zur ›abtretenden Erlebnisgeneration‹ rechnet. Die Überlebenden des letzten Weltkrieges und des sich daran anschließenden Martyriums von Millionen Flüchtlingen, Heimatvertriebenen, Verschleppten und Verhungerten (besonders gedacht sei der zigtausenden unschuldigen Jugendlichen zwischen 12 und 21 Jahren, die in den Kellern des sowjetischen Geheimdienstes gedemütigt, gefoltert, zu Falschaussagen erpresst, schließlich ermordet wurden oder qualvoll in so genannten ›Speziallagern‹ oder in den Kohlegruben Workutas verreckten) spüren ebenso wie die jüdischen Überlebenden des Holocaust eine starke Verpflichtung, durch Zeitzeugenschaft diese Untaten nie in Vergessenheit geraten zu lassen. Inbrünstig mahnen sie, damit sich nie wiederhole, was sie erlebten und durchlebten, und dies oft mit Schuldgefühlen jenen gegenüber, die nicht überlebten.

8.

Was die mit Gaskammern ausgerüsteten »Todeslager so fürchterlich macht«, schrieb die amerikanische Philosophin Susan Neiman, »ist für viele gerade dieses pervertierte Zusammenspiel von industrialisiertem Töten und einem Anspruch auf Menschlichkeit«, denn die Gaskammern seien erfunden worden, »um den Opfern schrecklichere Arten des Sterbens zu ersparen – und den Mördern einen Anblick, der ihr Gewissen hätte beunruhigen können«. Ein Trost, dass solch verstörende Gedanken, die zwar dem Verstehen, jedoch nicht irgendeiner Verharmlosung dienen, von einer Jüdin ausgedrückt wurden; ein anderer hätte sich da rasch um Kopf und Kragen geredet. Der russisch-jüdische Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky »hätte den schnellen Tod in einem deutschen KZ dem langsamen Dahinsiechen in einem sowjetischen Straflager vorgezogen«, wusste sein deutscher Freund Hans Christoph Buch zu berichten. Brodsky wurde 1964 in der Sowjetunion wegen ›Parasitentums‹ zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die er in der Gegend von Archangelsk verbringen musste, aber bereits nach 18 Monaten entlassen. Später lebte und starb er in den USA. Er bekam also einen nachhaltigen Eindruck von dem, was sein Landsmann und Kollege Alexander Solschenizyn in seinem begriffsbildenden Buch Der Archipel GULAG Westeuropäern und US-Bürgern nahe zu bringen versuchte. Er lieferte darin mit literarischer Potenz eine materialreiche und wirklichkeitsgetreue Aufarbeitung des Systems der politischen Verfolgungen, Verhaftungen, Untersuchungsgefängnisse, der Verhöre, Folter, Verurteilungen und anschließenden Straflager mit ihren unmenschlichen, durch Hunger, Kälte, Überanstrengung, unhygienische Zustände, Krankheiten und mangelnde medizinische Versorgung geprägten Lebensbedingungen, die – wohlgemerkt: zu sozialistischen Friedenszeiten! – Millionen Menschenopfer kosteten.

Solschenizyns Berichte sind nach Akteneinsichten und Zeugenbefragungen von der jüdischen Journalistin Anne Applebaum bestätigt worden. Zugleich bestätigt sie die Thesen Ernst Noltes vom Wesenszusammenhang beider sozialistischen Systeme, indem sie schreibt: »Beide Systeme entstanden nahezu zur selben Zeit auf demselben Kontinent. Hitler wusste von den sowjetischen Lagern, und Stalin vom Holocaust. Manche Häftlinge haben beide Arten von Lagern erlebt und beschrieben. Irgendwo in großer Tiefe gibt es Zusammenhänge.« In beiden totalitären Systemen, so führt sie des Weiteren aus, wurden die Menschen nicht für das festgesetzt oder ermordet, was sie getan oder unterlassen haben, »sondern dafür, was sie waren.«

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