In 1984 beschreibt Orwell, dass die Verteilung von Macht in allen Gesellschaften stets drei Schichten erzeugt: Die Herrscherschicht (weniger als ein Hundertstel), die Trägerschicht (etwa 10-15 Prozent) und die Schicht der Beherrschten (85-90 Prozent). Mit Gesellschaften sind dabei alle Staaten seit der Urbanisierung der Menschheit mit Einführung der Schrift gemeint, also die historische Existenz [24]. Selbstverständlich wird diese Abschätzung in seinem literarischen Werk nicht empirisch belegt, doch dürfte Orwell quantitativ und qualitativ in etwa richtig liegen. Diese Aufteilung scheint in der Natur des Menschen begründet zu sein; Macht ist einer der wichtigsten Treiber der Vergesellschaftung [31, S. 4]. Die interessante Frage ist daher nicht, wie man die Machtverteilung fundamental verändern kann, sondern wie die Macht ausgeübt wird: Welches Eigentum, welche Autonomie, welche Rechte und welche Partizipationsmöglichkeiten die beiden unteren Schichten in einer Gesellschaft erhalten.
In Europa teilten sich Adel und führender Klerus seit dem Frühmittelalter Macht und Eigentum, doch gehörten beiden Machtgruppen, zwischen denen es auch verwandtschaftliche Verbindungen gab, nur weniger als 1% der Bevölkerung an. Diese Schicht verfügte über das Gros des damals machtrelevanten Produktionseigentums, des Grundeigentums, und sie übte die Grundherrschaft über die eigentumslosen Untertanen aus, die im Wesentlichen einer Willkürjudikative durch den Grundherren ausgesetzt waren und keinerlei Autonomie genossen [5].
Die Herausbildung partizipativer Machtstrukturen erfolgte in Nordeuropa ab dem Übergang vom 11. zum 12. Jahrhundert, als Städte wie Gent aufgrund des wirtschaftlichen Erfolges ihrer Bürger vom Adel Privilegien und zunehmende Autonomie erhielten. Der wirtschaftliche Aufschwung hatte zahlreiche Ursachen, Jones [16] führt Handel, Technologie, Ressourcenerschließung in den Kolonien, Marktwirtschaft und das System konkurrierender souveräner Staaten an. Mitterauer [22], der auf die mittelalterlichen Grundlagen der europäischen Entwicklung blickt, betont die frühmittelalterliche Agarrevolution, Monogamie und bilaterale Verwandschaft, den ständisch verfassten Feudalismus, das hochentwickelte Vergesellschaftungsmodell der Kirche, die Etablierung des später so wichtigen Expansionismus durch die Kreuzzüge und die Entwicklung der Medien mit der Erfindung des Buchdrucks. Die Städte waren der Kristallisationspunkt dieser Dynamik, sie nutzten das römische Recht, um soziale Normen zu formalisieren und zu institutionalisieren [18]. Parallel zum wirtschaftlichen Erfolg des Bürgertums nahmen dessen Eigentum an Produktionsmitteln, Autonomie und die Institutionalisierung des Rechts immer weiter zu. Auch in England fand ein ähnlicher Prozess statt, wobei aber nicht das römische Recht wiederverwendet wurde, sondern sich das organisch entstandene Präzedenzrecht institutionalisierte, wodurch das Common Law entstand [20].
Die Geschichte Europas seit etwa 1100 ist die Geschichte zunehmender Partizipation der Trägerschicht der Agrargesellschaft mit Manufaktur und Handel an der Macht. Mit dem Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft wurden Adel und Klerus zwischen 1776 und 1919 schrittweise entmachtet, neue Herrscherschicht in den Ländern, die nicht kommunistisch waren, wurde das Großbürgertum. Dessen Zusammensetzung fluktuiert allerdings deutlich stärker als die des Adels, da die Industriegesellschaft eine höhere vertikale soziale Mobilität ermöglicht als Agrargesellschaften [12]. Parallel dazu schritt die Verrechtlichung fort, insgesamt erreichte man bereits in den 1920er Jahren in vielen westlichen Nationen ein hohes Ausmaß an Isonomie, Grundrechtsschutz, Kompetenznormen, Verfahrensnormen, Besetzungsnormen und Öffentlichkeitsnormen [28, S. 65]. Diese Entwicklung ist weltweit einzigartig, sie ist das ›Europäische Wunder‹ [16], das zu einer Gesellschaft geführt hat, in der es eine echte Partizipation des Einzelnen an den Entscheidungsfindungen der Machtträger und eine Trennung von Person und Amt gibt. Das Individuum kann nicht etwa nur über den Wahlzettel mitbestimmen, sondern auch über Engagement in der Öffentlichkeit, das Betreiben von Prozessen und über Korporationen, Verbände, Parteien und Gewerkschaften. Diese Partizipationsprozesse sind tief verwurzelt und breit verankert, nicht nur durch die Verbände und deren Führungsgremien, sondern auch durch die selbständigen bürgerlichen Berufe wie Anwälte, Notare, Ärzte und Apotheker und das freie, mittelständische Unternehmertum. Die Amtsträger in der hochentwickelten Massendemokratie strebten danach, die von diesen Gruppen vorgetragenen Interessen so zu bedienen, dass die gesellschaftlich-staatliche Gesamtstruktur mit freier Marktwirtschaft funktional blieb. Dabei ist die Machtausübung von den Personen entkoppelt und erfolgt über anonyme Verwaltungsapparate. Das ist im Wesentlichen das Prinzip des Ordoliberalismus [19] im modernen hochdifferenzierten Industriestaat [25].
Diese Entwicklung ist für die historische Existenz nicht zwingend, nicht einmal für Industriegesellschaften. So haben zwei wichtige moderne Hochkulturnationen und in Teilgebieten sehr erfolgreiche Industriegesellschaften, Russland und China, niemals partizipative oder rechtsstaatliche Strukturen im Sinne Westeuropas gekannt. Beiden Ländern gemeinsam sind vielmehr oligokratische Herrschaftsform, die auf sehr alte historische Wurzeln zurückgehen [16, Kapitel 11]. Sie beruhen auf einer Kombination von Zentralismus mit lokalen Herrschaftsstrukturen nach dem Muster des Patronats. In Russland gab es im 19. und frühen 20. Jahrhundert zwar Versuche, die Machtausübung in der ›Anwesenheitsgesellschaft‹ (Baberowski) durch die Einführung einer depersonalisierten Amtsführung nach westlichem Vorbild zu ersetzen, doch der Versuch scheiterte und trug zum Untergang des Zarenreichs bei [3]. Die Wiederherstellung der personengebundenen Patronatsherrschaft war ein wesentlicher politischer Erfolgsfaktor der Sowjetunion und ist bis heute eine wichtige Grundlage der Stabilität Russlands.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren weder die westeuropäischen Staaten noch die USA oder Kanada egalitär, die Orwellsche Verteilung des Eigentums auf die drei Schichten galt weiterhin. Doch hatte die Trägerschicht einen verhältnismäßig hohen Anteil am Eigentum an Produktionsmitteln, die Isonomie war in diesen Staaten gut ausgebaut und das Ausmaß der Geltung der oben genannten sozialen und rechtlichen Normen war bis in die 1990er Jahre hinein sehr hoch. Die soziale und rechtliche Sicherheit der Unterschicht und der ›Ausgeschlossenen‹ [6] war im historischen Vergleich wohl einmalig. Die fünf Jahrzehnte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis dahin waren rückblickend betrachtet eine Pentekontaetie der Industriegesellschaft.
Renaissance der Oligokratie
Warum Pentekontaetie? Weil die Blüte von Rechtsstaatlichkeit und Partizipation im Abendland der Nachkriegszeit bereits vorbei zu sein scheint, obwohl diese Periode nicht durch einen Krieg beendet wurde wie das goldene Zeitalter Athens. Nach dem Ende der Sowjetunion und des Warschauer Pakts verblasste das westliche Nachkriegsmodell zunehmend. Seine wesentlichen Tragpfeiler waren eine Verteilung des Eigentums an Produktions- und Distributionsmitteln auf mehr als 10 Prozent der Bevölkerung mit einer breiten Schicht von Selbständigen, eine von kleinen und mittleren Unternehmen getragene Wirtschaft sowie Korporationen, Verbände, Gewerkschaften, Institutionen und Parteien, die in einem offenen Wettstreit um Partizipation und Interessen rangen. Sie wurden begleitet von einer medialen Öffentlichkeit, in der fast alle Interessen und Meinung abgebildet wurden, und von staatlichen Institutionen, die der Isonomie und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet waren. Machtausübung fand in erster Linie über autoritative Macht statt, was bedeutet, dass die sozialen Normen und die Hierarchie der Gesellschaft bei der großen Mehrheit der Bevölkerung stark verinnerlicht waren.
Dadurch spielten instrumentelle und datensetzende Macht eine geringere Rolle bei der Machtdurchsetzung, die Aktionsmacht (die Anwendung physischer Gewalt) blieb auf seltene Ausnahmesituationen beschränkt. Zu den erwähnten Typen der Macht siehe Popitz [28]. Diese Periode endete in Deutschland Ende der 1990er Jahre.
Methodische Überlegungen
Bei den im Folgenden vorgetragenen Überlegungen handelt es sich um eine Tendenzanalyse auf der Grundlage von Entwicklungen, die teils im privaten, teils im vorinstitutionellen, teils im institutionellen, teils im politischen Raum seit Jahrzehnten stattfinden. Die erfolgreiche Kontrolle und Begrenzung des staatlichen Gewaltmonopols ist in urbanisierten Gesellschaften die Ausnahme, es besteht stets die Tendenz, dass eine Eukratie sich zu einer Dyskratie entwickelt. Die Prozesse, die im nächsten Abschnitt beschrieben werden, werden von den Akteuren und ihren Zuarbeitern (Regierungsinstituten, Denkfabriken, NGOs) fortlaufend analysiert, wobei das Ergebnis dieser Analysen wiederum in die Handlungen und damit in die Prozesse einfließen, womit gewisse Rückkopplungs- und Selbstregulierungseffekte eintreten, wie sie etwa die Systemtheorie beschrieben hat. Natürlich kann der Prozess sich auch jederzeit anders entwickeln, es können andere, überraschende Verläufe eintreten, die Entwicklung von Gesellschaften ist komplex und chaotisch. Dies ist auch wie alle historischen Prozesse eine spontane Entwicklung, es findet keine gezielte, planmäßige Oligarchisierung statt. Zwar gibt es immer partielle Planungen, die von Machtinteressen und der Beobachtung der Ereignisse gespeist werden. Demgegenüber ist die Annahme eines, möglichst geheimen, umfassenden Plans, der hinter den Kulissen entworfen wurde und seither umgesetzt wurde, irrational und unrealistisch und wird hier nicht vorgetragen.
Der Prozess der Oligarchisierung
Durch zahlreiche Prozesse, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden kann, hat sich seit den 1970er Jahren die Eigentümerschicht, das Rückgrat jeder freiheitlich-bürgerlichen Republik, verschmälert und gleichzeitig internationalisiert. Heute sind mehr als zwei Drittel des Produktions- und Distributionseigentums der Industrienationen in den Händen von einigen Tausend Familien, wobei das Eigentum stark global gestreut ist: Deutschen Großeigentümern gehören Unternehmensanteile in allen Ländern, denen gegenüber Deutschland Exportüberschüsse erwirtschaftet, gleichzeitig ist das Eigentum an Firmen, deren globale Zentrale in Deutschland liegt (ehemals deutsche Firmen), stark internationalisiert [26]. Die Globalisierung des Eigentums hat die Rolle des Nationalstaats als Ort der Planung und Durchsetzung gemeinsamer Interessen von Teilgruppen der Eigentumsschicht stark relativiert: Die politische Willensbildung von Interessengruppen wie etwa der globalen Internethandels- und Internetwerbevermittler, der Pharma-, Erdöl- oder Rüstungslobbies hat sich vom Nationalstaat zu internationalen Verbänden und Lobbygruppen verlagert. Diese Gruppen üben parallel konzertierten Interessendruck auf Politiker verschiedener Nationen aus, sie planen und agieren global, organisieren sich auch in globalen Verbänden und legen ihr Geld mit Hilfe globaler Kapitalverwaltungsfirmen an.
Die Institutionen, die der Gewaltkontrolle dienen, sind jedoch alle nationalstaatlich organisiert. Die EU als internationaler Staatenverband schwächt die Machtkontrollmechanismen der Nationalstaaten und ermöglicht es Interessengruppen, nationale Kontrollen zu umgehen und direkt auf die EU-Gesetzgebungsverfahren einzuwirken. Deren wesentliche Kontrolle erfolgt zwar über den Europäischen Rat und den Rat der EU, der von gewählten Staatsoberhäuptern oder Ministern der Mitgliedsländer besetzt werden, doch hat sich diese Kontrolle als zu schwach und zu indirekt erwiesen.
Diese Machtverlagerung in die EU läuft auf eine Schwächung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Partizipation im Nationalstaat hinaus. Denn die Institutionen, die Träger der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sind, haben immer weniger Möglichkeiten, das Handeln der Exekutive zu kontrollieren und auch immer weniger legislative Kompetenz. Oftmals ist die nationale Legislative gezwungen, EU-Verordnungen in nationales Rechts umzusetzen, oder der Druck durch die von der Exekutiven geschaffenen Tatsachen ist sehr groß.
Betrachten wir hierzu zwei wichtige Beispiele, die Eurorettung als Beispiel von verfassungswidriger Kompetenzverlagerung in die EU und die Novelle des Infektionsschutzgesetzes.
Die Eurorettung hat zu einer im Vertrag von Maastricht explizit verbotenen Finanztransferunion in der Eurogruppe geführt hat [34], deren langfristige Folgen volkswirtschaftlich äußerst nachteilig für alle beteiligten Länder sein dürften [21]. Der Grund für die Eurorettung war die Rettung der Gläubiger der Mittelmeerländer mit Handelsbilanzdefiziten sowie Irlands, das damals auch stark überschuldet war. Außerdem wurden die Politiker der Mittelmeerländer von der Aufgabe, ihre Schulden zu reduzieren, entbunden. Die Hauptwirkungen der Eurorettung sind laut Sinn und Meyer: Beschleunigung der Staats- und Privatverschuldung in der Eurozone, Transfer von staatlichen Garantieleistungen zu den gewerblichen Importeuren in den Mittelmeerländern und zu den Exporteuren der Länder mit Handelsbilanzüberschuss bei Thesaurierung der Gewinne durch deren Eigentümer, Zombifizierung der Wirtschaft (Zunahme der überschuldeten Unternehmen und Verfestigung der Investitionsschwäche; alle Details dazu finden sich bei Horn [14]).
Die Novelle des Infektionsschutzgesetzes vom 18.11.2020 war nach Ansicht vieler Staatsrechtler verfassungswidrig, siehe beispielsweise Kingreen [17]. Dies gilt insbesondere angesichts der von führenden Epidemiologen berichteten, aber politisch umstrittenen Daten zur geringen Letalität des Erregers und dem hohen Alter der an Viruspneumonie Verstorbenen [15] sowie den ebenso umstrittenen Hinweisen auf die Unwirksamkeit der Masken gegen die Ausbreitung des Virus [7], des Lockdowns [4] oder der Impfung zur Prävention des Todes an COVID [27]. Es besteht daher die Vermutung, dass die Einschränkungen einen anderen Zweck haben als den, der offiziell vorgetragen wird. Denn COVID wird von den Vordenker der globalen Oligarchie als Chance zur Gestaltung der Gesellschaft nach ihrem Vorstellungen gesehen [32]. In der Tat ist das Vermögen der US-Internetmilliardäre seit Beginn der COVID-Maßnahme um 50 bis 100 Prozent gestiegen, während die Wirtschaftsleitung um mind. 5 Prozent sank [1].
Die Ideologie der globalen Oligokratie
Die genannte Entwicklung der Eigentumsverhältnisse und die beispielhaft erläuterten Entscheidungen sowie viele weitere Beispiele der Erosion des Rechtsstaates wie der Atomausstieg, die sogenannte Energiewende, die Grenzöffnung oder das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und die damit verbundene privat geübte Zensur, die im Januar 2021 auf einen neuen Höhepunkt hinausläuft, werden von einer aggressiv vorgetragenen Propaganda begleitet, die keine alternative Deutung duldet und wie im Fall von COVID die Wirklichkeit willkürlich uminterpretiert, lässt die Vermutung zu, dass ein neues Herrschaftsmodell etabliert werden soll.
Die Ideologie, mit der der Abbau der bürgerlich-freiheitlichen Grundordnung begründet wird, hat zwei wesentliche Komponenten: Kulturell-nihilistischen Westmarxismus und Feudalkapitalismus. Ihr Kerngedanke ist die sozialistische Idee, dass eine Gesellschaft freier Individuen, die gemäß spontan entstandener sozialer Normen und unter der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung und Partizipation miteinander interagieren, zu einer ungerechten, ungleichen, amoralischen Gesellschaft führt, die Armut, Entfremdung und Unterdrückung erzeugt, die Umwelt zerstört und Kriege hervorbringt. Dieses Gedankengut hat Karl Marx von seinen frühsozialistischen Vorläufern wie Morelly [23] übernommen und als erster in breit angelegten Schriften systematisiert. Die daraus hervorgehenden Schulen des sowjetischen Kommunismus und des asiatischen Kommunismus haben im 20. Jahrhundert gewaltige Schäden angerichtet [8]. Doch im Abendland hat dieses Gedankengut in Form des Westmarxismus überlebt, der zum Kulturmarxismus weiterentwickelt wurde und seit den 1960er Jahren bis heute weite Teile der Geisteswissenschaften penetriert hat. Das Problem ist gut untersucht worden. Scruton [33] bezeichnet diese Schule, um den Gegensatz zum klassischen dialektischen Materialismus des russischen und asiatischen Kommunismus zu betonen, als ›new left‹, Preparata [29] nennt sie die ›Ideologie der Tyrannei‹, Himmelfarb [13] spricht von einem Abgrund, der sein nihilistisches Maximum im kulturmarxistischen Dekonstruktivismus Derridas und seiner Schüler (wie Judith Butler) erreicht. Flaig [10] gibt einen geistesgeschichtlichen Überblick aus der Perspektive des Universalismus der Aufklärung.
Dieser Lehre zu Folge soll die im Laufe der abendländischen Geschichte entstandene freie Gesellschaft durch eine Gesellschaftsordnung ersetzt werden, in der Eliten das Leben der Menschen planen. Dadurch sollen ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gleichheit und Frieden erreicht werden [32]. Da die freiheitliche Ordnung aus Sicht des Westmarxismus diese Ziele weder durch Marktkräfte noch durch die spontane politische Willensbildung im Nationalstaat erreichen kann, sollen sie durch zwei wesentliche Elemente erreicht werden: Eine supranationale politische Ordnung, in der die Eliten Recht und exekutive Rechtsanwendung bestimmen, und eine modifizierte Marktordnung, die von großen international agierenden Konzernen bestimmt und durch zahlreiche staatliche Interventionen gesteuert wird. Dabei wird nicht erwähnt, wie die Eigentumsstrukturen aussehen sollen, doch ist offensichtlich, dass eine möglichst hohe Eigentumskonzentration als zweckmäßig zur Steuerbarkeit der Wirtschaft angesehen wird. Dies ist die feudalkapitalistische Komponente der Ideologie. Sie entwirft eine doppelte Oligarchie, die sich aus den wenigen Besitzern der globalen Produktionsmittel und staatlichen Akteuren, die die Weltgesellschaft zur Nachhaltigkeit steuern soll, zusammensetzt [32]. Die Ideologie ist nicht nur oligarchisch, sondern sie leugnet auch, wie alle revolutionären Herrschaftsideologien, die Realität [2], die durch ideologische Zielvorstellungen ersetzt wird. Beispiele dafür sind die sogenannte ›Energiewende‹, das Corona-Narrativ oder die Klassifikation Immanuel Kants als Rassist [35].
Wie alle revolutionären Herrschaftsideologien geht es der neuen Globaloligarchie nicht um Werte, sondern um blanke Macht (›naked power‹), wie dies für ›revolutionary power‹ charakteristisch ist [31, Kap. 7]). Die vorgegebenen Werte der Nachhaltigkeit und Gleichheit sind lediglich eine kulturelle Fassade der Herrschaftslegitimation. Denn Eigentumskonzentration, Ausschaltung von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit und der Ersatz der Marktwirtschaft durch Planung führen keineswegs zu einer effizienteren Ressourcennutzung und zur Vermeidung der Umweltverseuchung durch alle Arten von Müll, dem Endprodukt der Industriezivilisation, sondern zu Stagnation, Effizienzverlust und einer Erhöhung der Externalitäten (wie Müll und Elend). Diese werden am effektivsten verhindert, wenn man ihre Kosten über Steuern auf die Teilnehmer eines freien Marktes verteilt. Dann findet der Markt als Entdeckungsprinzip Möglichkeiten, die Externalitäten zu senken [11]. Die bereits erfolgte Schwächung der Prinzipien der Marktwirtschaft durch ungedecktes Fiktivgeld und Überregulierung hingegen hemmt die Innovation und führt zu einer sklerotischen Wirtschaftsform, die keinen neuen Wohlstand mehr schaffen kann und verschwenderisch mit menschlichen Ressourcen und der Umwelt umgeht [14].
Eine globaloligarchische Gesellschaft führt auch nicht zu mehr Gleichheit, sondern zu einer radikalen Dichotomisierung der Gesellschaft, wobei eine winzige Eigentümerschicht einerseits eine kleine Schicht von Konzernadministratoren und staatlichen Bürokraten zur Herrschaftssicherung nutzt, während andererseits der große Teil der Menschen entrechtet und der Partizipation beraubt als eigentumslose Arbeitskräfte oder Empfänger staatlicher Transferleitungen dahinlebt.
Im westmarxistischen Modell wird ein wesentlicher Teil der Menschen zum Opfer von Ungerechtigkeit und Unterdrückung erklärt. Diese Menschen werden in zahlreiche Gruppen von Minderheiten eingeteilt, denen Unselbständigkeit und Hilfsbedürftigkeit zugesprochen wird, da sie als hilflose Opfer der historisch entstandenen Lebensweise angesehen werden. Der Schutz des Einzelnen durch die universal gültigen Menschenrechte wird aufgehoben, der Mensch wird vom autonomen, verantwortlichen Wesen der Aufklärung zum hilflosen Minderheitsangehörigen. Nun kann der Staat aus dessen komplizierter Versorgung, Quotierung und Rollenzuweisung Legitimität schöpfen [30], die Minderheitenfürsorge wird zu einer Form des anonymisierten Staatspatronats.
Oligokratie ohne Anwesenheitsherrschaft?
Wir haben gesehen, dass der Westen seit dem Hochmittelalter eine partizipative Gesellschaft hervorgebracht hat, in der Macht nicht über persönliche Beziehungen, sondern über Institutionen und die breite Gültigkeit sozialer und rechtlicher Normen ausgeübt und auch geteilt wird. Es gibt im Westen seit dem Ende des Absolutismus kein Modell stabiler oligokratischer Machtausübung. Oligokratische, nicht partizipative, willkürliche Formen der Machtausübung in Verbindung mit anonymen, institutionell-bürokratischen Herrschaftsstrukturen hat es nur in Frankreich unter Napoleon, in Italien unter Mussolini und in Deutschland unter Hitler gegeben (Spanien, Portugal und Griechenland hatten zwar Elemente moderner Staaten, doch stützten sich die Diktaturen dieser Länder stark auf Patrontasstrukturen der Anwesenheitsgesellschaft). Diese drei Gewaltherrscher verfügten zwar zu Anfang ihrer Herrschaft über kurze Phasen von Legitimität, doch war nach der Machtergreifung sogleich ein hoher Aufwand an Propaganda und vielseitiger Einschüchterung der Bevölkerung mit den Mittel der Aktionsmacht (Geheimdienste, politische Gefangene, Exekutionen, Schauprozesse) erforderlich. Diese oligarchischen Gewaltherrschaften währten nicht lange, sie mussten Legitimität durch Kriegführung erzeugen und wurden dann rasch besiegt. Oligokratien wie China und Russland hingegen nutzen heute zwar moderne Administrationsstrukturen, doch wird Macht vor allem auf lokaler Ebene durch Anwesenheit und Patronat ausgeübt. In China funktioniert dieses Hybridmodell aus zentral gesteuerter Administration und lokaler Machtausübung seit vielen Jahrhunderten [16, Kap. 11]. Rumänien, Jugoslawien und andere sozialistische Balkanländer funktionierten auch im Kommunismus bis 1989, ähnlich wie die UdSSR, als Anwesenheitsgesellschaften.
Doch die heute vom Westmarxismus vorgetragene Ideologie der oligarchisch erzeugten Nachhaltigkeit und Gleichheit erfordert eine global koordiniert agierende Herrschaft auf der Basis einer modernen, ausdifferenzierten Industriegesellschaft mit Arbeitsteilung, funktionalen Teilsystemen, hohem Arbeitsethos, hochentwickelter, mit anonym funktionierenden Amtsträgern besetzter Administration, einer hohen Verinnerlichung sozialer Normen (autoritative Macht) und einer breiten Wertebasis [25]. Die entscheidende Frage ist daher, ob es in westlichen Gesellschaften möglich ist, eine solche Oligokratie zu etablieren, ohne die Machtstrukturen der traditionellen Anwesenheitsherrschaft nutzen zu können. Diesem Zustand einer Oligarchie mit modernen Machtmitteln kamen die westlichen Staaten des Ostblocks in der Nachkriegszeit bis 1989 in Ostdeutschland, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei am nächsten. Wie bei Orwell herrschten dort kommunistische Güterzuweisung und entsprechender Mangel. Die Regierungen dieser Ländern hatten keine natürliche, historisch spontan entstandene Legitimität, die für stabile Herrschaftsformen charakteristisch ist [9], sondern die Herrschaftsordnung musste durch beständige Androhung und Ausführung von Aktionsmacht aufrecht erhalten werden und hing vom sowjetischen Machtgaranten ab. Sobald dieser wegfiel, wurde das historisch gewachsene Partizipationsmuster wieder hergestellt.
Die partizipativ-rechtsstaatliche Ordnung ist in den USA, Europa, Kanada, Australien und Neuseeland historisch-kulturell zutiefst verwurzelt. Sie durchdringt die Gesellschaft und verleiht dem Herrschaftsmodell Legitimität. Daher versucht die westmarxistische Ideologie vorzugeben, wesentliche Elemente des abendländischen Legitimitätsmodells erhalten zu wollen. Historisch gibt es keine Evidenz, dass Oligokratie ohne massive Anwendung von Aktionsmacht auf Dauer im modernen Westen verankert werden kann und ohne Anwesenheitsherrschaft in der hochdifferenzierten Industriegesellschaft erfolgreich sein kann.
Die Träger der bürgerliche Gesellschaft sind derzeit zurückgezogen und verrichten still ihre Aufgaben, weil Medien, NGO-Lobbygruppen und staatliche oder staatlich geförderte Institutionen seit Jahrzehnten daran arbeiten, Menschen vom öffentlichen Leben und auch vom Erwerbsleben ausschließen, die gegen das westmarxistisch-oligarchische Narrativ kritisch Stellung beziehen (Das Projekt https://cancelculture.de hat wichtige Fälle seit Ende 2019 gesammelt, doch ist dies nur ein Bruchteil der betroffenen Personen.). Den Akteuren geht es dabei um den Erhalt bereits etablierter oligokratischer Machtstrukturen. Dadurch entsteht bei manchen Beobachtern der Eindruck, die spontan historisch entstandenen korporativen, subsidiären, bürgerlichen Institutionen der Zivilgesellschaft seien am Ende. Doch ist dies keineswegs der Fall, das Blatt kann sich schnell wenden. Wenn die Trägerschichten der Gesellschaft und die vor allem funktional orientierten, wenig ideologisierten Amtsträger der Institutionen und Körperschaften merken, dass es dem Westmarxismus nicht um Wortspiele wie Genderformen oder sprachliche Inklusionsakrobatik ohne Bezug zur Wirklichkeit geht, sondern dass ein Entzug von Rechten und Partizipationsmöglichkeiten stattfindet, kann sich schnell echter Widerstand bilden. Kein revolutionäres Herrschaftsmodell, das haben die drei besten Machttheoretiker der Neuzeit, Niccolò Machiavelli, Bertrand Russell und Guglielmo Ferrero gezeigt, hat ohne massiven Einsatz von Aktionsmacht Bestand. Für illegitime, historisch nicht spontan entstandene Herrschaftsformen ist eine wechselseitige Angst von Herrscher und Untertanen typisch [9]. Die Herrscher haben Angst vor einem Aufstand der Untertanen und üben daher fortlaufend propagandistische und materielle Repression aus. Die Untertanen versuchen beides zu unterlaufen; wenn die Trägerschichten für sich keine Vorteile mehr sehen, wie etwa in Frankreich ab 1811, ist das Schicksal illegitimer Herrschaft besiegelt. Wenn die neuen westmarxistischen Eliten mit der Verwirklichung ihres Modell ernst machen wollen, wird massiver Einsatz physischer Gewalt unvermeidlich werden. Einen Vorgeschmack darauf erhalten wir gerade, wenn Politiker der führenden westmarxistischen Partei in Deutschland ›Die Grünen‹ die Einrichtung von Lagern zur Absonderung von Quarantäneverweigerern ankündigen. Die wahre Zivilgesellschaft wird sich dagegen formieren.
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