IV ›Ihr Sozis wollt die Einheit nicht!‹
Nach den epochalen Ereignissen in der Friedlichen Revolution 1989/90 mit Massenflucht, Massendemonstrationen, Volksaufstand Leipzig zwischen 9. und 16. Oktober 1989, Mauereindrücken 9. 11. 1989 stand am 7. Dezember 1989 der nächste Akt auf der ostdeutschen Tagesordnung.
In seiner ersten Sitzung beschloss der Runde Tisch, die Volkskammerwahlen auf den 6. Mai 1990 festzulegen. Die amtierende DDR-Regierung und die amtierende Volkskammer, die wie all ihre Vorgängerregierungen und Volkskammern zu keinem Zeitpunkt demokratisch legitimiert waren, mussten zügig durch eine von einer demokratischen Volkskammer legitimierten neuen Regierung ersetzt werden.
Mit dem Wahltermin stand fest, wieviel Zeit die Akteure der Friedlichen Revolution zur Erreichung ihres Zieles Freie Wahlen, aber auch das ›Ancien Regime‹ (der alte Staat) zur Wiederherstellung alter Macht in neuer Verkleidung zur Verfügung haben würden.
Die neuen Gruppen und Parteien besaßen dabei nichts außer ihrem Engagement und (noch) großen Rückhalt in der Bevölkerung, die alten Parteien SED und Blockflöten hatten ihre großen Apparate. Während die Einen buchstäblich bei Null anfingen, konnten die Anderen bereits ihr Equipment und Personal für die Verbreitung ihrer Politikauffassungen einsetzen. Gehörten ihnen doch auch immer noch die Medien.
Für die SDP schien die Ausgangslage für den kommenden Wahlkampf mehr als günstig zu sein. Mit-Träger der Friedlichen Revolution hier und faktische Mitinhaberin des grandiosen sozialdemokratischen Erbes da. Zusammen mit der sehr vorzeigbaren Gilde auch in Ostdeutschland hoch angesehener sozialdemokratischer Spitzenpolitiker konnte den Wahlen eigentlich nur positiv entgegen gesehen werden. Noch stimmte scheinbar einfach alles. Die Bekenntnisse zur SDP und zur Deutschen Einheit seitens des SPD-Bundesvorstandes waren inzwischen erfolgt und gerade in Leipzig stand die SDP in hoher öffentlicher Anerkennung. Was sollte da noch schief gehen können?
Doch es sollte noch viel schief gehen. Die Zwei-Deutschland- und SED-Freunde in der SPD hatten es nicht verwunden, dass ihre Favoriten nicht zum Zuge kommen sollten. Die Deutsche Frage sollte unbedingt offen gehalten werden. Der Berliner Programmparteitag mit Lafontaines deutlich zu spürender Abneigung gegenüber der Deutschen Einheit, dem dortigen Verhindern des Redebeitrages Hans Büchlers zur Einheit ließen die kommenden Probleme für die Sozialdemokratie drohend am Horizont wetterleuchten.
Wieder lohnt ein Blick in Uneinig in die Einheit von Daniel Friedrich Sturm. Hier der Umgang mit Ollenhauers Rede von 1959 (S.243):
Zu Beginn des Parteitages wollte Anke Fuchs den Videoausschnitt einer Rede Erich Ollenhauers auf dem Godesberger Parteitag von 1959 zeigen. Darin hieß es: »Genossinnen und Genossen, ich möchte, ehe ich zum Programm selbst komme, noch eine weitere wesentliche Feststellung treffen. Das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokratie ist das Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der Bundesrepublik. Wir sind uns dieser tragischen Unzulänglichkeit bewußt, und wir möchten unseren Genossen und Freunden in die Zone die selbstverständliche und undiskutierbare Gewissheit geben, daß wir mit ihnen gemeinsam die programmatischen Grundlagen der deutschen Sozialdemokratie neu diskutieren werden, wenn die Stunde gekommen ist, in der wir alle als freie Menschen in einem freien und wiedervereinigten Deutschland die Positionen und die Aufgaben des demokratischen Sozialismus neu bestimmen können.« Dem Parteitag 1989 aber wurde dieser Redeausschnitt vorenthalten. Wieczorek-Zeul verhinderte als Tagungspräsidentin ein Abspielen der Rede Ollenhauers: »Das wird nicht gezeigt, das bedeutet dann ja, wir sind für die Wiedervereinigung. Das aber sind falsche Signale, das wollen wir nicht«, habe Wieczorek-Zeul ihr bedeutet, berichtet Fuchs. Zwar hätte sich Fuchs als »Hausherrin« an diese Ansage nicht halten müssen. Fuchs und Vogel aber vermieden eine Auseinandersetzung, zumal Wieczorek-Zeul die Mehrheitsmeinung des Präsidiums verkörperte.
Und hier zu Lafontaines Rede auf dem Parteitag (S. 251-253):
Wie weit Lafontaine mit seiner Rede und seinem Denken von der Wirklichkeit des Lebens der Menschen in der DDR entfernt war, zeigte ein Radiointerview, das er am 21. Dezember im Rückblick auf den Parteitag gab. Ausgerechnet in der »Stimme der DDR« nannte er »die stärkere Betonung des Internationalismus« als wichtigste Botschaft und warnte davor, sich »allzu sehr nationalistischer Übersteigerung ... hinzugeben«. Die ökologische Zerstörung nannte er die »Hauptherausforderung unserer Zeit«. Zudem schwärmte Lafontaine, im neuen Programm der SPD finde sich ein »Arbeitsbegriff, der über Marx und Hegel hinausgeht«. Mit den Menschen in der DDR »fremdelte« Lafontaine. Treffend analysierte Richard Schröder später: »Merkwürdig, dass diejenigen, die sich für besonders weltoffen hielten, von dem bisschen Fremdheit der Ostdeutschen schon überfordert waren.« Brandt zeigte sich von Lafontaines Rede entsetzt. Auf der Rückfahrt von dem Parteitag, berichtet seine Frau, habe er gescherzt: »Ach was, diese Saarländer sind ja gar keine richtigen Deutschen.« Lafontaines Realitätsverweigerung wurde von Günter Grass übertroffen. Grass wandte sich in seiner Rede mit einer harten Rhetorik gegen die staatliche Einheit. Er geißelte »den rücksichtslos herbeigeredeten Einheitswillen der Deutschen« und sprach vom »Volk der DDR«. Grass erinnerte an Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik, verwies auf die Affären um die Parteispenden des Großindustriellen Flick, die Vorgänge um die Baugesellschaft »Neue Heimat« und die Barschel-Affäre. Mit einer »Vereinigung als Einverleibung der DDR«, prognostizierte Grass, gehe Identität verloren. Und: Nach dem Bankrott des Kommunismus sei erkennbar, »dass der demokratische Sozialismus weltweit Zukunft hat«. Der Beifall zeigte, wie Grass die Stimmung unter den Delegierten getroffen hatte. Das Ausmaß der Widersprüche innerhalb der SPD zeigten drei weitere Wortmeldungen. Ganz wie Lafontaine äußerte sich einmal mehr Momper. Die SPD dürfe sich nicht an einer Wiedervereinigungskampagne beteiligen, warnte er. Diese mobilisiere allein nationalistische Gefühle, aber widme sich nicht dem, was den Menschen wichtig sei. Die deutsche Frage sei europäisch zu lösen… Kohl jedoch dominierte zum Ärger Lafontaines die Fernsehbilder am Abend und die Schlagzeilen des nächsten Tages. Das Medieninteresse an der SPD war begrenzt.
Kurzum: Der Parteitag erwies sich als Höhepunkt deutschlandpolitischer Verwirrungen. Brandt sprach euphorisch für die Einheit, Lafontaine wandte sich kämpferisch dagegen. Vogel schwieg.
›Ihr Sozis wollt die Einheit nicht‹, diesen Satz hieß es ab Jahreswechsel 1989/90 ständig und immer öfter abzuwehren. Was nützte es der SDP/SPD, wenn sie in Ostdeutschland tagsüber für die Deutsche Einheit warb und abends in den Nachrichten mit Lafontaine-Abwiegelungen desavouiert wurde. In Leipzig spürte ich diese Diskrepanz persönlich sehr stark. Oben auf dem Balkon der Oper stand ich für die ostdeutsche Sozialdemokratie mit dem Herzen für die Einheit und unten standen die Demonstranten, die am Abend vorher die Lafontainisten gegenteilig vernommen hatten. Von Brandt, Schmidt, Renger, Dohnanyi u.v.a. war es anders zu hören. Wunderbare Entwicklung, es wird auch Schwierigkeiten geben, doch wir werden es zusammen schaffen! Offene statt verschränkte Arme halt…
Ab sofort galt für die ostdeutschen Sozialdemokraten: Die SDP/SPD-Ost konnte erklären, was sie wollten, die Demonstranten achteten stärker auf die Äußerungen der kommenden ersten Garde der SPD-West um Lafontaine. Das Klima auf dem Balkon der Leipziger Oper kühlte sich für den SDP/SPD-Redner merklich ab. Das ging soweit, dass die Blockparteien plötzlich wie Bürgen geradliniger Deutschlandpolitik standen und zu richtiger Konkurrenz anwuchsen. Lafontaines Abwehr der Einheit, sein offensichtliches Nichtverstehen der Ostdeutschen außerhalb der SED-Nomenklatura befreite die Blockparteien faktisch von Schuld. Gemessen an Lafontaines Ablehnung erschienen den meisten Ostdeutschen diese Helden in gebückter Haltung als lässliche Sünder. Zudem übersahen die Ostdeutschen die vormaligen Blockparteien und die SDP/SPD zunehmend willentlich. Wichtig waren die Ost-Parteien in dieser Sichtweise nur noch als Ableger ihrer bundesdeutschen Schwesterparteien. Und auf die kam es in dieser Logik ja schließlich an. Gerade deshalb war Lafontaines Kurs höchst unprofessionell. Es ging um Mehrheiten zur Gestaltung der kommenden Prozesse und dieses angebliche große politische Talent erkannte nicht den Faden und zog die deutsche Sozialdemokratie aufs gesellschaftliche und historische Abstellgleis?