Verhandlungen SPD-SED
Gespräche mit der SED wurden von der SPD in der Zeit nach dem Regierungswechsel auf allen Ebenen geführt. Margitta Terborg, MdB, leitete eine Arbeitsgruppe, die sich mit Jugendpolitik befaßte und versuchte den Jugendaustausch auf den Weg zu bringen. Reinhold Hiller, MdB, führte umfangreiche Gespräche über umweltpolitische Fragen. Horst Sielaff, MdB, leitete eine Arbeitsgruppe, die sich mit Agrarpolitik beschäftigte und andere, wie z.B. Gert Weißkirchen, MdB, kümmerten sich um die Oppositionsgruppen in der DDR. Dieter Haack, MdB, und Jürgen Schmude, MdB, arbeiteten eng mit den Kirchen in der DDR zusammen. Freimut Duve, MdB, hatte Kontakt zu Schriftstellern Intellektuellen und Kulturschaffenden. Dies sind Beispiele für eine Vielzahl von Kontakten und Gesprächen, die alle den Sinn hatten, Verbindungen aufrechtzuerhalten bzw. neue zu schaffen. Die Arbeitsgruppe innerdeutsche Beziehungen der SPD bereiste regelmäßig die DDR, führte Gespräche mit Kommunalpolitikern, mit Spitzen der SED und hatte bei diesen Reisen oft Gelegenheit, mit der Bevölkerung direkt zu diskutieren. Durch Besichtigungen in Betrieben und Einrichtungen im sozialen und kulturellen Bereich gewannen die Mitglieder dieser AG Einblick in die DDR-Wirklichkeit. Die SPD-Bundestagsfraktion führte regelmäßig offizielle Gespräche mit Mitgliedern der Volkskammer. Es kam zu Besuchen und Gegenbesuchen (Sindermann in Bonn).
Bald aber setzte bei allen Parteien ein run auf Kontakte zur SED ein, die ja gleichzeitig Regierungspartei war. Manchmal hatte man gar den Eindruck, daß Image und Prestige eines Politikers ohne einen öffentlichkeitswirksamen Besuch bei Honecker nichts mehr wert war. Jeder Kandidat mußte scheinbar vor eigenen Wahlen bei Honecker gewesen sein oder mindestens durch einen der wichtigen SED-Bezirksfürsten empfangen worden sein, um vor der Öffentlichkeit und wahrscheinlich sogar vor seinem eigenen Selbstwertbewußtsein bestehen zu können.
Die gestandenen Deutschlandpolitiker betrachteten diese Vorgänge nur mit wachsender Verwunderung und Kopfschütteln. In allen Fraktionen waren sie es, die sich aus Erfahrung die nötige Distanz bewahrt hatten, um noch zu einer realistischen Einschätzung der Lage in der DDR kommen zu können. Sie sahen, weil sie im Lande unterwegs waren, die sich abzeichnende Umweltkatastrophe, den schlimmen technischen Rückstand in der Produktion, den Verfall der Städte und Gemeinden, die großen Mängel des Gesundheitswesens und auch die Problematik bei Kindergärten und Kindergruppen.
Das Urteil der Deutschlandpolitiker aller Fraktionen stand spätestens seit 1986 fest. Der Staat DDR kann ohne eine massive Unterstützung aus der Bundesrepublik den eh schon vergleichsweise niedrigen Lebensstandard seiner Bevölkerung halten. Das wußten die Funktionäre der DDR, die sich mit den wirtschafts-, umwelt-, sozialpolitischen und sonstigen Problemen ihrer Gesellschaft befassen mußten, vor allem die aus der zweiten Reihe hinter der Führung, ebenfalls. Alle offiziellen Gespräche mit Institutionen der DDR, aber auch bei allen möglichen Einzelkontakten, waren seit 1986 inhaltlich daraufhin ausgerichtet, die für die DDR unüberwindbaren Schwierigkeiten mit Hilfe der Bundesrepublik Deutschland zu überwinden. Nach außen wurde der Schein einer intakten DDR – oft spöttisch belächelt auch von Fachleuten in der DDR – bewahrt, vor allem durch die Vielzahl an Besuchen durch die Spitzen der westlichen Welt.
Die Gespräche zwischen SPD und SED in den gemeinsamen Arbeitsgruppen chemie- und atomwaffenfreie Zone waren für die SED natürlich auch ein Propagandainstrument, und zwar nach innen und außen. Die vernünftige und richtige sozialdemokratische Forderung, die Militärblöcke durch Zonen ohne Chemie- und Atomwaffen zu trennen, wurde mißbraucht. Die SED wollte vor allem ihre »Friedensfähigkeit« dokumentieren, wohl wissend, daß sie nicht beim Wort genommen werden konnte, daß weder SED noch SPD, weder die DDR noch die Bundesrepublik diese Beschlüsse zu einer chemie- und atomwaffenfreien Zone durchsetzen konnten. Die Entscheidung lag allein im Kompetenzbereich von NATO und Warschauer Pakt.