Mein Weg in die Sozialdemokratie der DDR Teil 2
Nie hätte ich gedacht, dass der Staat sich nicht mehr wehrt.
Im Mai 1988 fand das erste thematisch vom neuen Friedenskreis Golgatha vorbereite Friedensgebet statt. Wir fassten gesellschaftlich heiße Themen an. Von der technologischen Weiterentwicklung der C-Waffen über die Demütigungen des Soldatseins, die von der SED-Spitze ausstrahlenden Ressentiments gegenüber unserem polnischen Nachbarland und seiner Bevölkerung bis zur Militarisierung der Kindererziehung in Kindergarten und Schule. Unsere Arbeit fand quasi im öffentlichen Raum statt. Nichts wurde verboten, Zensur fand nicht statt (Die einzigen sorgenvollen Diskussionen gab es im Gemeindekirchenrat, aber Gott sei Dank betrafen sie mehr meinen Vater, der sich vor uns stellte).
Ich glaube nicht, dass unsere Beiträge harmlos waren. Aber unsere Vorstellungen von dem, was im Staat nicht erlaubt sei, brachen sich an der Realität. Der Staat war schwächer geworden. Und wir stießen in neue gesellschaftliche Räume vor, die wir Jahre vorher straflos nie hätten betreten dürfen. Schon das lohnte die Anstrengung. In den späten 80er Jahren lebte die Diktatur noch vom ihrem stalinistischen Ruf früherer Jahre, den sie faktisch nicht mehr aufrechterhielt.
Diese Erfahrung war wichtig. Genauso wie wir in diesem Friedenskreis demokratische Gepflogenheiten einübten. Jede Idee wurde gewendet und verändert. Keine Idee, kein Konzept hatte nur einen einzigen Stichwortgeber. Der Friedenskreis war sowohl Brainstorming-Runde als auch Mediator unterschiedlichster Ansichten. Wir probten hier nicht die Revolution, wir lernten unseren aufrechten Gang in einem politischen System, dem selbständige und geistig unabhängige Menschen verhasst waren. Wir versuchten mit einer Politik zu kommunizieren, die sich taub und stumm stellte. Wir provozierten, die Politik, der Staat schwieg. Jedem weiteren Schritt vorwärts in bisherige Tabu-Zonen folgte ein nächster. Das war spannend, ja prickelnd. Wir wollten wissen, wie weit wir gehen konnten. Wir haben diese Grenze in diesen anderthalb Jahren unseres Wirkens bis Oktober ’89 nicht mehr gefunden.
Zwischendrin hatte ich mich an der Aufdeckung der Wahlfälschung beteiligt. Ich hatte das erste Mal in meinem Leben eine Strafanzeige gestellt, ausgerechnet gegen den Kronprinzen der SED-Führung, Egon Krenz, weil der als Chef der Wahlkommission die oberste Verantwortung für die von der DDR praktizierte Wahlfälschung trug. Auch das war höchst spannend, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen, um am eigenen Puls abzulesen, der öfter mal höher war als normal, zum anderen, weil diese Art der öffentlichen Arbeit mir das erste Mal das Gefühl vermittelte, an etwas Sinnvollem im öffentlichen Raum beteiligt zu sein, etwas Vernünftiges zu tun, etwas, das Zukunft bedeutete.