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»Zur unheiligen Dreifaltigkeit meiner Kindheit gehört als dritte Person die Mutter der Frau, die Mutter – oder Stiefmutter, was immerhin den Vorteil der Genauigkeit hätte – zu nennen ich nicht über mich bringe. Damals habe ich die Alte abwechselnd als Schreckgespenst und als Teufelin wahrgenommen. Später stellte sich heraus, dass sie eine psychische Krankengeschichte besaß, die in der Familie unter Verschluss gehalten wurde. Die Brüder hatten sie bei der Schwester abgestellt und sie war gerade dabei, sich das Leben der Tochter einzuverleiben, als mein Vater und damit ich unvorhergesehenerweise in ihr Leben traten. Lass’ es Wut, lass’ es Eifersucht sein – sie hasste uns beide inbrünstig und ließ keine Gelegenheit aus, uns zu schaden. Diese Person nun, ich kann sie nicht anders nennen, wurde zur Aufseherin über mich ernannt, da ihre Tochter tagsüber aus dem Haus ging, um in einem Gemüseladen Kartoffeln und Petersilie zu verkaufen. Ich sehe sie noch immer da sitzen, den Blick unverwandt auf mich gerichtet, während ich meine Schulaufgaben erledige, und mit einem scharfen Küchenmesser über die Tischplatte fahren – hin und her, her und hin. Dieses Geräusch ist das Urgeräusch meiner Kindheit, gleichmäßig wie der Pendelgang der Küchenuhr und irgendwie krank.
Dieser alte, innerlich zerfressene und wieder kindgewordene Mensch machte Abend für Abend vor seiner Tochter Meldung über die Missetaten, die ich im Laufe des Tages, eigentlich nur Nachmittages, begangen hatte. Ich weiß nicht, ob diesen Berichten jemals ein wahrer Satz beigemischt war. Es handelte sich um phantastische Erzählungen von Vorkommnissen, die niemals stattgefunden hatten, um Lügengeschichten, die meinen energischen Protest hervorriefen, der ebenso energisch, soll heißen mit Geschrei und Schlägen beantwortet wurde. Ich verharre ungern bei Details, aber das Ritual als solches beeindruckt mich noch heute. Unter solchen Verhältnissen wächst ein junger Mensch heran. Zum vollständigen Ritual gehörte die Ankunft meines Vaters, die ich anfangs herbeisehnte, aber bald mehr als alles andere fürchten lernte. War das Wetter entsprechend, holte ihn seine Frau am Gartentor ab und sie inspizierten gemeinsam den Garten, Terrasse um Terrasse, Beet um Beet, Rabatte für Rabatte. So näherten sie sich allmählich dem Haus, während meine Nervosität von Minute zu Minute wuchs. Auch die erwähnten Missetaten kamen hier nochmals zur Sprache, ergänzt um die Missetat an sich, meine Unehrerbietigkeit gegenüber der Alten. Das ergab, zusammen mit den Ergebnissen der Garteninspektion, ein hochgiftiges Gebräu, dessen Folgen sich alsbald auf diversen meiner Körperteile abzeichneten. Mein Vater unterzog sich und mich nicht der Mühe einer erneuten peinlichen Befragung, sondern drosch einfach auf mich ein, Sätze brüllend, deren Sinn ich nicht verstand, weil ich nicht wusste, welche Reden er sich vorher angehört hatte. Gegenrede, etwa in Form von Verständnisfragen, war auch hier nicht gestattet.

Man erinnert sich an so mancherlei, wenn die Stationen der Kindheit an einem vorbeiziehen. Schwamm drüber! Tatsache ist, dass ich diese Jahre in Erwartung von Strafen zugebracht habe, ohne zu wissen, wie ich sie verdient hatte. Natürlich macht das etwas mit einem, um den Jargon zu sprechen, den sich unsere Generation für dergleichen Anlässe zurechtgelegt hat. Man legt so etwas nicht ab, wenn man aus dem Haus geht. Auch als junger Mann habe ich in Erwartung von Strafen gelebt, trotzig, mir dabei auf die Finger klopfend, aber irgendwo in einem unzugänglichen Winkel davon überzeugt, dass ich für alles, was ich tat oder nicht tat, vor allem letzteres, in nicht allzu ferner Zukunft mit fürchterlichen Schlägen bedacht werden würde. Und wie das Leben so spielt, fand sich immer Personal, das die vertraute Konstellation wieder aufleben ließ. Auch die Schläge blieben nicht aus. Nur die dritte Rolle, die väterliche, blieb unbesetzt, vermutlich, weil er bis an sein Lebensende nicht davon abließ, mir Lektionen in Nichtigkeit zu erteilen, gleichgültig, ob ich sie hören wollte oder nicht. Seine letzten Verbündeten gegen mich waren meine Kinder.

Vieles verschwindet im Leben. Auch Teufel, die sich tief ins Fleisch des Delinquenten eingegraben haben? Ich frage nur. Eigentlich möchte ich gern etwas anderes fragen. Lieber wäre mir allerdings, Sie würden diese Frage stellen und ich könnte sie beantworten. Es liegt in diesen Dingen eine Überhärte, die zum Slapstick tendiert. Das wirft die Frage auf: Wo, in all diesem gelebten Irrsinn, steckt eigentlich die Mutter? Sehen Sie, ich habe mich das auch oft gefragt und keine Antwort gefunden. Als diese Dinge geschahen, war meine Mutter tot, Krebs, gestorben in jungen oder doch annähernd jungen Jahren, denn kriegs- und nachkriegsbedingt war ich später zur Welt gekommen, als sich das damals in ihren Kreisen schickte. Sie verstehen, ich gehöre zu den heute so töricht wie überheblich ›Boomer‹ genannten Jahrgängen. Wenn Sie mich fragen, was mir von meiner Mutter geblieben ist, dann antworte ich: das furchtbare Antlitz eines qualvollen Sterbens und das friedlich zurechtgemachte der aufgebahrten Leiche.«

»Wie? Sie haben keine anderen Erinnerungen an Ihre Mutter als diese beiden? Sind denn alle Erinnerungen an Ihre frühe Kindheit ausradiert?«

»Keineswegs. Obwohl ich zugeben muss: die Datenlage ist schütter. Sie werden sich vielleicht wundern: Der Held meiner frühen Kindheit ist mein Vater. Der gute Vater, um genau zu sein, der später für mich unerreichbar wurde, vielleicht schon gestorben war, aber als Vexierbild durch meine zweite Kindheit purzelte. Wann immer er mich schlug, war es ein wenig, als schlüge ich mich selbst. Meine Mutter kommt in den Szenen, an die ich mich erinnere, nicht vor. Während ich das sage, scheint mir der Satz nicht richtig zu sein. Stellen Sie sich ein Bild vor, auf dem eine der beiden Hauptpersonen, vielleicht die Hauptperson, ausradiert oder, noch besser, ausgekratzt wurde, aber so, dass nicht nur die Kontur erhalten blieb, sondern eine Reihe von Rändern, so dass sie gleichzeitig entfernt und anwesend erscheint.«

»Warum sagen Sie das?«

»Weil es mich beschäftigt. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht der Ursprung der Zustände, von denen ich erzählt habe, der auf Dauer gestellten Kopfschmerzen, der unvermeidlichen Migräne-Attacken, der Wetterfühligkeit, der Seefühligkeit, um dieses Wort zu kreieren, all dieser psychophysischen Entgleisungen in diesem ausradierten Bild liegt.«

»Das müssen Sie mir erklären.«

»Muss ich das? Sie gefallen mir. Ich verstehe es ja selbst nicht. Es ist eher eine vage Vermutung, die dadurch erregt wird, dass ich immer wieder auf diesen leeren Fleck in meinem Gedächtnis zurückkomme. Sie können einwenden, das sei doch natürlich, dass einer wissen will, aus welchem Bauch er gekrochen ist. Damit haben Sie sicher recht. Aber es ist noch etwas anderes dabei. Sehen Sie, wer immer meine Mutter persönlich gekannt hatte, schwärmte mir vor, welch ein herzensguter Mensch sie gewesen sei. Lange Zeit habe ich das blind geglaubt, weil es, sagen wir es ruhig, mich stabilisiert hat. Sie war die ruhende Gegeninstanz, wenn draußen Sturm aufzog. Aber jedes Mal, wenn ich genauer hinschaute, musste ich feststellen, dass die winzigen Spuren, die sich von ihr in meinem Gedächtnis fanden, eine negative Ladung trugen. Nichts Spektakuläres, aber doch auffällig genug: eine leise Zurückweisung hier, eine strafende Gebärde dort, vor allem eine durchdringende Passivität, die auffällig mit dem ansteckenden Aktivismus meines Vaters kontrastiert. Sie kommt mir vor wie ein Traumbild, das sich entzieht. Und damit meine ich jetzt nicht die Erinnerung, sondern, ganz konkret, eine Person.«

»Ach –«

»Mein Gedächtnis bewahrt zwei Miniaturszenen auf, in denen ihre verwischte Figur einen Tick deutlicher zu erkennen ist. In der ersten sitzen meine Mutter und meine Schwester beisammen und trinken heiße Schokolade, ein himmlischer Genuss in jenen Tagen, und weisen mich ab, als ich meinen Teil davon haben möchte. Ich weiß nicht, was dabei gesprochen wurde, aber zurückbehalten habe ich den Eindruck einer großen Kränkung. Kindereien, werden Sie sagen, aber was macht sie so wichtig, dass sie – und nur sie – die Schranke der Erinnerungslosigkeit durchbrochen haben? Auch die zweite Szene enthält eine Kinderei: meine Schwester hat mich tödlich beleidigt und mein Vater, bei dem ich mich beschwert habe, lässt mich auf seinen Schultern reiten, um es ihr ›heimzuzahlen‹. Doch meine Mutter verhindert den Spaß, indem sie sich allen Ernstes vor ihre Tochter hinstellt und eine unangenehme Szene daraus macht, so dass mein Vater und ich wie begossene Pudel wieder abziehen. Meine Schwester, müssen Sie wissen, ist etliche Jahre älter als ich, ein Kriegskind, und mich bewegt seit Jahren die Vorstellung, dass sie den heimkehrenden Vater, wie so viele Kinder damals, vor allem Mädchen, nie akzeptiert hat, so wie ich den Verdacht hege, dass die Ehe meiner Eltern ›am Ende‹ war, als ihr ziviler Teil beginnen sollte, weil der Mann, der da durch Glück und Zufall dem großen Morden entronnen war, nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem besaß, den meine Mutter ein paar Jahre zuvor geheiratet hatte. Beweisen kann man so etwas nie, es wird durch Lügen zugedeckt, aber es wäre gut möglich, dass sie auf gepackten Koffern saß, als meine Ankunft die Dinge in eine andere Zukunft verschob. Ein kleines Indiz, das in diese Richtung weisen könnte, kommt von meiner Cousine, die nach der Beerdigung von Nachbarn hörte, meine Mutter sei zu einer gewissen Zeit, womöglich mehrfach, im Fenster unserer Wohnung gestanden und habe sich auf den Hof zu stürzen gedroht. Für einen ausgewogenen Charakter spricht das jedenfalls nicht.«