(38) Unterhaltswert
Kein Yagirit liebt das Leben so wie den Tod. Das ist leicht zu erklären. Keiner liebt den Tod, es sei denn die Toten, und darüber hört man wenig. Liebt er also das Leben anders als den Tod? Mag sein. Tatsache ist, dass er vom Leben alles Mögliche erwartet, von dem er denkt, dass der Tod es ihm wieder abnehmen wird. Schneller zu sein als der Tod: danach strebt jeder aus ganzem Herzen. Kein Wunder also, dass ihr berühmtester Denker in einer denkwürdigen Passage seines work in progress feststellte: »Gott ist Tempo.« Er meinte das durchaus kritisch. Aus der Kritik des Todes geboren ist der Yagir der Ort, an dem die Kritik des Lebens zur letzten Reife gelangte. Orangen zum Beispiel ... Orangen sind nur mittels reiner Kritik denkbar. Gesunden Erwachsenen wachsen sie schnell zum Halse heraus und werden von staatlich akkreditierten Orangen-Abnehmern gehortet, bevor man sie auf den Markt wirft, wo das Kindergeschrei sie vertilgt. Warum Orangen? Nun, sie sind rund wie der Globus, mit der kleinen Differenz, an den Polen nicht abgeplattet, sondern ein wenig in die Länge gezogen zu sein. Warum ist das wichtig? Weil es nicht wichtig ist. Das Wichtige unwichtig, das Unwichtige wichtig nehmen: So funktioniert im Yagir Kommunikation, deren höchste Stufe sie Wissenschaft nennen. ›Kommwiss‹ heißt eine Gestalt der Leere, sie paradiert vor dem Tod, sie zöge sich vor ihm aus, um, falls nötig, seine Aufmerksamkeit zu erringen. In der Regel genügt es, dass eine girls group quer über ihre Brüste Parolen pinselt wie »Glückliche Menschen leben glücklicher«, »Lust bedeutet Macht«, »Intelligente Steuerung jetzt«, »Inklusion macht blonde Haare«, »Reichtum macht reich« und dergleichen mehr. Es kostet eine Stange Geld, diese Wissenschaft zu unterhalten, doch ihr Unterhaltswert rechtfertigt die Ausgaben allemal. Klagen jedenfalls hört man bloß von Außenseitern, denen es nicht gelang, in ihr zu reüssieren. Früher dachte man im Yagir, die Wissensscharade schade den Frauen, und versuchte sie mit Tricks und höhnischen Worten davon fernzuhalten. Eine ferne Welt! Doch nicht so fern, wie jemand denken könnte, jedenfalls erwies es sich als nötig, Studiengänge einzurichten, in denen diese Dinge mit ernsthafter Miene diskutiert und gelernt werden können, damit das Wissen um sie nicht untergeht, sondern, wie im Märchen gefordert, beiherspielt.