Die damalige Kunstwelt in Wien hatte mit organisiertem Studentenprotest oder Massendemonstrationen nichts zu tun. Es wäre niemandem eingefallen, endlose Gemeinplätze aus dem Zettelkasten der demokratischen Entleerung nachzubeten. Dieses blieb dem verachteten Kollektivgedanken der bundesdemokratischen Tausendfüsslern und Basisanbetern vorbehalten. Die Radikalität fand individuell statt. In ritualisierten Formen, zwischen gekonnten Handküssen und gewaltigen Fürzen, wütete das sezierende Messer, tiefe Wunden in das welke Fleisch Österreichs schlagend. Diese legendären Anfänge der Wiener Avantgarde hatten sich zum Fundament der relativ überschaubaren Künstlerszene vermörtelt. Jeder, der an einer neuen Begrifflichkeit von Kunst, Künstler, Wirklichkeit und veränderter künstlerischer Praxis Interesse hatte, kam an der ›Wiener Gruppe‹ nicht vorbei. Deren gattungsübergreifendes Arbeiten an Theorie und Praxis und dem darin innewohnenden Bewusstsein, hat die Dichtung als Material und Lautkonstellation in Wirklichkeit hineingezwungen und als Strategie in Bewegung gesetzt. Neben Gerhard Rühm, H.C. Artmann und Friedrich Achleitner stechen Konrad Bayer und Oswald Wiener hervor; sie sind für das Verständnis der Persönlichkeit Michel Würthles von besonderer Bedeutung. Ich erinnere mich, wie ich 20jährig die ›Wiener Gruppe‹ oberflächlich abzuarbeiten begann – das Erscheinungsbild beeindruckt mich bis heute.
Im Juni 1968 fand auf Einladung des Sozialistischen Österreichischen Studentenverbandes im Hörsaal 1 des neuen Institutsgebäudes der Universität Wien eine denkwürdige Manifestation des Wiener Aktionismus statt, mit ungeahnten Folgen für Berlin. An diesem ehrwürdigen Ort der reinen Wissenschaft gelang endlich die Provokation der kulissenhaften Nachkriegszeit und ihrer kollektiven Verdrängung von Schuld, Schmutz und Niedertracht. Otto Mühl hielt eine vernichtende Leichenrede auf Robert Kennedy, Peter Weibel verhöhnte den Finanzminister durch ein Mikrophon, das, mit einem Scheinwerfer verbunden, von Valie Export bedient wurde, und alles gipfelte im triumphalen Auftritt von Günter Brus, der unter Absingen der österreichischen Bundeshymne schiss, kotzte und onanierte, als ob es kein Morgen gäbe. Der österreichische Staat reagierte: es regnete Verurteilungen mit Aussicht auf monatelange Gefängnisaufenthalte. Reinhard Priessnitz bemerkte dazu: »Das war das Ende des Wiener Aktionismus als Gruppe und der Beginn der Europäisierungserfahrung!« Ingrid und Oswald Wiener sowie Anni und Günter Brus flohen auf die Insel Berlin, wo Gerhard Rühm und H.C. Artmann schon Quartier bezogen hatten. Erstere gründeten das Kreuzberger Lokal »Exil«, Letztere wurden erste Stammgäste. Als nächster kam am 3. Mai 1970 Michel Würthle aus Paris in Tempelhof an, um seinen Freund Oswald Wiener und die Ausstellung von Christian Ludwig Attersee in der Galerie Springer zu sehen. Kurzentschlossen beteiligte er sich, kellnerte und pokerte, um zu überleben, während Ingrid Wiener mit Kochtips aus der Wiener Kronenzeitung die Küche und Gaumenfreuden der Besucher erfreute – Potlatsch. Dieter Roth gestaltete die Tapete im Billardzimmer, Richard Hamilton das Richard-Schild, Per Paolo Paolozzi die Gipsbüsten und Günther Brus das Deckengemälde. Marcel Broodthaers sorgte für poetische Verrätselung, während Benjamin Katz und Michael Werner bei Springer ersten Galerieduft inhalierten. Später wurde in der Paris Bar diese Tradition wegen Martin Kippenberger um lebenslange freie Kost ergänzt.
Markus Lüpertz erinnerte sich an die zarten Anfänge: »Die Wiener fielen damals über unser idyllisches Berlin her oder dort ein oder beides… das war neu. Kneipier mit Anspruch, literarisch gefordert, ja besungen und mit… anrüchiger Vergangenheit. Zum Beispiel wegen Vaterlandsverrat, Staatsbeleidigung des Landes verwiesen und somit Exilanten… mit der unnachahmlichen Arroganz vertriebener Fürsten…«