Auf meinen Spaziergängen eines „notorischen Stadtnomaden“ – wie ich mich seit vierzig Jahren selbst bezeichne – wurde mir die Hinfälligkeit der urbanen Textur und die in Baudelaires Modernitätswahrnehmung implizierte Veränderung bewusst; und die Tatsache, dass die Kultur der Zukunft weder national noch homogen sein würde – weder französisch noch englisch oder deutsch, nicht einmal europäisch –, sondern plural und gemischt, die Frucht von Austausch und Osmose, von fruchtbarem Zusammenleben mit Männern und Frauen aus allen Ecken der Welt. Ich fing an, sie von der Peripherie her zu betrachten und karnevalesk zu parodieren – ausgehend von den neuen Wirklichkeiten, die unserem ständig bewegten urbanen Raum entspringen; so wird der feierliche Vortrag von Aragons Gedicht Elsa, mon amour anlässlich ihrer Beerdigung im Mund eines afrikanischen Straßenkehrers zu L’sa Monammú – ein Marabu, dessen Fähigkeiten als Schwarzkünstler und Zauberer auf den Kärtchen aufgelistet sind, die an die Fahrgäste der Metro in der Station Barbès verteilt werden.

Die Passagen an Rue und Faubourg Saint-Denis sowie an der Place du Caire – heute ein Markt für die Dienstleistungen der pakistanischen Lastenträger – erteilten mir, wie ich in meinem Essay „Paris, Hauptstadt des 21. Jahrhunderts?“ schrieb, „Anschauungsunterricht in raum-zeitlichen Kollisionen – ausgelöst durch den Zuzug fleißiger Gemeinschaften, die sich von denen gänzlich unterschieden, für die sie entworfen worden waren; Ornamentik des Seconde Empire und türkische oder indische Küchengerüche“. Das alles schlug sich in dem Roman Landschaften nach der Schlacht nieder, als Antwort auf die Herausforderung, die mit dem Auftauchen vielsprachiger und kunterbunter urbaner Texturen einherging, in denen die Konjunktion synchroner und diachroner Elemente und die Polyphonie der Stimmen und Sprachen nicht bloß die Zutaten eines kühnen künstlerischen Entwurfs sein sollten, sondern Ergebnis einer lebendigen und bereichernden Erfahrung von Modernität. Der Kontakt mit diesen Vierteln und solchen in New York, Berlin, Tanger, Istanbul usw. eröffnete mir Bildungswege, die mir keine Universität hätte bieten können. Bachtin reichte Rabelais die Hand, Baudelaire den Schöpfern des urbanen Textes, der Topographie in Typographie verwandelte. Verzeihen Sie, wenn ich auf Eigenes zurückgreife für dieses Puzzle aus Teilen unterschiedlichster Formen und Farben; den jüdischen und armenischen Kaufleuten neben türkischen, maghrebinischen, subsaharischen, pakistanischen, indischen, vietnamesischen, karibischen Einwanderern:

Zu bestimmten Tageszeiten ist es ein wahres Babel der Sprachen. Die Häuserwände sind überzogen mit Schmierereien und Sprüchen auf Arabisch, die die Einheimischen nicht verstehen und die zu entziffern mir großen Vergnügen bereitet (...) die Einwanderer und ihre Familien bringen ihre Gebräuche mit, ihre Kleidung, ihre Frisuren, Musik, Schmuck, Essgewohnheiten. Die Viertel der kleinen Leute werden fröhlicher und bunter; ihre Bewohner haben die wunderbare Chance – ich möchte sagen, die unverdiente Ehre –, mit Männern, Frauen und Kindern aus ganz verschiedenen Ecken der Welt in Berührung zu kommen, sich gegenseitig respektieren zu lernen, mit ihnen dicht an dicht im Café zu sitzen, bei der Arbeit oder in der Schule. Auf einmal bröckelt die langweilige und erbärmliche ethnozentrische Sicht der Dinge, absolutgesetzte Werte relativieren sich, Vorurteile und Misstrauen verlieren an Gewicht. Das monumentale Pappmaché-Paris – der Triumphbogen und das Grab des Unbekannten Soldaten – bleibt für das Großbürgertum, die Funktionärselite, die Rentiers und Rentner sowie die Kriegerwitwen. In dem anderen, dem wirklich lebendigen Paris schießen Döner- und Couscous-Küchen wie Pilze aus dem Boden. Afrikanische Trommeln, berberische Geigen, indianische Instrumente ertönen in den Gängen der Metro. Die Stände mit Masken und Elfenbeinschmuck erobern mit jedem Tag ein Stück mehr vom Bürgersteig. Die Kartons, auf denen man Geld auf Spielkarten setzt, um Schaulustige zu übervorteilen, sind vom Djemaa el-Fna nach Barbès übergesprungen.

Überflüssig zu sagen, dass dieses einmalige Bild der «Ville Lumière» bei denen auf wenig Gegenliebe stößt, die sich an das einer Stadt klammern, die mehr und mehr dazu neigt, sich nach dem Verschwinden der meisten jener renommierten Intellektuellen, die sie zu einem Leuchtturm gemacht und ihre Bewunderer magisch angezogen haben, in ein Museum zu verwandeln. So berichtete mir jemand von der indignierten Reaktion des verantwortlichen Redakteurs eines bekannten Kulturmagazins: Für wen hält sich der, dass er so über Paris spricht. Die Wahrheit, die an den Rändern hervorbricht, beleidigt stets jene, die in Unkenntnis der Folgen von Kolonialismus, Sklaverei, Eroberungskriegen, Hunger, erzwungener Emigration aus Konfliktgebieten, die unseren Planeten verheeren, die Gegenwart in unbeweglicher Fülle erleben. Aber auch wenn es manche Leute beleidigt: Das war das andere Paris der Sechziger und Siebziger des vergangenen Jahrhunderts, das der ruhmreichen zwei Dekaden vom Ende des Algerienkriegs bis zum Auftreten von Aids und dem Erstarken eines radikalen Islamismus neuer Prägung, in deren Folge gewisse Formen der Freizügigkeit obsolet wurden, sich die relationale Wahrnehmung fremder Gemeinschaften veränderte und der Weg frei wurde für neue „Hygiene“-Maßnahmen zur „Aufhellung“ der Bevölkerung und die allmähliche Vertreibung fremdländischer Gruppen in die Vorstädte, verbunden mit Ghettobildung und identitärer Abschottung, wie sie heute unsere verzagten und fragilen Demokratien bedrohen. Überflüssig zu sagen, dass man genauso gut Türen auf freiem Feld errichten könnte. Die Natur verfährt nach dem Prinzip des Horror vacui, und keine europäische Verordnung wird die Bildung von maghrebinischen Marktplätzen, karibischen Dörfern, indischen, pakistanischen oder türkischen Ballungszentren innerhalb unserer Städte verhindern, so wenig wie die Mestizisierung und gegenseitige Kontamination als Ursprung neuer Formen des Zusammenlebens und der Kunst. Wie meine alte Freundin Scheherazade in ihrem Buch der Bücher sagte – und wie ich zu wiederholen nicht müde werde: „Die Welt ist das Haus derer, die keines haben.“

Herbert Schero
Juan Goytisolo

Schriftsteller

 

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