Die Geschichtswissenschaft hat in ihrer Vergangenheit Phasen der Marginalisierung wie auch der Förderung erfahren. Von Seiten der Politik wurden ihr des Öfteren Aufgabengebiete zugedacht, wie beispielsweise in der späten DDR die der staatlichen Legitimation »… indem sie für die Diskussion um ›Erbe‹ und ›Tradition‹ das notwendige Fundament schuf (…) und wesentliche Beiträge dazu leistete (…)« (Brandt 2013, S.14). Jedoch nicht nur politische Einflussträger, sondern auch private Einrichtungen oder Unternehmen wussten und wissen um die Bedeutung der Geschichtsschreibung. Gleichzeitig ist der Stellenwert der Aufarbeitung historischer Sachverhalte im Bereich der Massenmedien in den letzten Jahren deutlich gewichtiger geworden. Wissen um Geschichte bedeutet Deutungshoheit und damit Macht, denn Einfluss auf die Produktion historischen Erinnerns verortet Identität und gibt Standorte und Perspektiven vor.
Sollte Geschichte daher nicht nur als bloße Wiedergabe des Vergangenen betrachtet werden, sondern ist sie vielmehr als ein Wissensentwurf zu Vergangenheit, als eine spezifische Form von Erinnerungs- und Sinnkonstruktion zu verstehen? Im Folgenden wird dargelegt, worin die anhaltende Bedeutung der Geschichtsschreibung begründet liegt.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist deutlich mehr als ein auswirkungsfreier Rückblick. Vielmehr dient sie dem gesellschaftlichen, politischen und individuellen Handeln als normativer und identitätsgenerierender Bezugsrahmen. So sind erinnerungskulturelle Kontroversen nicht allein als geschichtswissenschaftliche sondern auch als gesellschaftlich-normative Debatten zu verstehen, in denen auf zurückliegende Gesellschaften bezogen die aktuelle soziale, politische und kulturelle Struktur und Identität begründet und auch in Frage gestellt werden. Daher stellt das Befassen mit Geschichte nicht nur eine rückblickende Auseinandersetzung dar, sondern hat deutlich stärkere Relevanz für die Bewältigung der Gegenwart (Vgl. Hurrelbrink 2007).
Geschichtsschreibung bezieht sich auf etwas Reales, das in dieser oder ähnlicher Form in der Vergangenheit stattgefunden hat. Die Problematik liegt darin, dass das Vergangene sich nicht mehr direkt beobachten lässt, sondern vielmehr aufgrund von mehr oder weniger konkreten Aussagen und Spuren rekonstruiert und modellhaft beschrieben werden muss. So hat es »der Historiker (…) zunächst mit Quellen zu tun, die die historische Praxis schuf und die Teil dieser Praxis sind. Sie reichen in großer Bandbreite mit fließenden Grenzen von Produkten individueller Herkunft bis zu solchen von öffentlichem Charakter…« (Engelberg 2013, S.186). Historikern kommt dabei die Aufgabe zu, die untersuchte Thematik nicht aus dem geschichtlichen Kontext zu lösen, sondern im Gegenteil diese in Verbindung zu präsentieren, insbesondere bei der Darstellung komplexer gesellschaftlicher Problematiken.
Individuelle und gesellschaftliche Erinnerungskulturen entstehen aus unterschiedlichen Motivationen heraus, wie beispielsweise dem moralischen Antrieb über Geschichte nachzudenken oder aber ein konkretes Interesse aufgrund persönlicher Betroffenheit. Mit diesen verschiedenen Antriebsmustern setzen sich auch die Gedächtnistheorien des Kulturwissenschaftler Jan Assmann und des Soziologen Maurice Halbwachs auseinander. Sie betrachten Erinnerung aus unterschiedlichen Perspektiven: So ließe sich Erinnerung als subjektive Erfahrung eines Individuums betrachten, als kulturelle Schöpfung von Gruppen wie auch als historisches Konstrukt.
Halbwachs interpretiert mit dem Begriff einer ›mémoire collective‹ Gedächtnis als ein Phänomen, das sich nur in seiner sozialen Bedingtheit konstituieren könne (Halbwachs 1985). Damit sei Geschichte niemals frei von Kontext und könnte auch nicht unter selbst gewählten Umständen generiert werden. Der Soziologe konstatiert eine kollektive Dimension der erinnerten Vergangenheit und unterstreicht damit die Funktion des kollektiven Gedächtnisses als Basis für soziale Kohäsion und Solidarität, die die Kontinuität einer Gemeinschaft sichern.
Jan Assmann führt die Gedanken der Theorie von Halbwachs weiter. Er stellt das Fehlen einer scharfen Grenze zwischen eigenen und fremden Erinnerungen fest »einmal, weil sie im Prozeß alltäglicher Gegenseitigkeit und unter Verwendung gemeinsamer Bezugsrahmen entstehen, und zum anderen, weil jeder Mensch auch Erinnerungen anderer mit sich trägt«, was heißen mag, »was ich erinnere, erinnere ich mit Blick auf andere und dank der Erinnerung anderer.« (Assmann, J. 1991, S.346) Als weiteres substantielles Merkmal des Kollektivgedächtnisses betont Assmann den engen Zusammenhang erinnerter Inhalte mit dem jeweiligen Bezugsrahmen der Gesellschaft. In diesem Verständnis ist Vergangenheit eine »soziale Konstruktion, deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwart ergibt. Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung.« (Assmann, J. 1997, S.47f)
Der Historiker Pierre Nora erweitert Halbwachs’ Thesen in seinen Untersuchungen um den Aspekt des Nationalen. Er setzt in der Erforschung von Erinnerung zwar die Gedanken einer gesellschaftlichen Verortung des Kollektivgedächtnisses fort, sieht dessen Konkretisierung jedoch »weniger in der geteilten Praxis des kommunikativen Erinnerns als vielmehr in kulturellen Objektivationen.« (Neumann 2005, S.75) Noras Konzept der Erinnerungsorte, der ›lieux de mémoire‹ zeigt, dass das Gedächtnis in Unterscheidung zur Geschichte stets in einen aktuellen, individuellen Kontext eingebunden ist. Dessen kritisches, wissenschaftlich fundiertes Hinterfragen ermöglicht den Zugang zu universalen Deutungsmustern.
An diese Theorien anknüpfend lässt sich weiter schließen, dass geteilte Erinnerungen die Kontinuität von Erfahrung und damit die Stiftung von Identität gewährleisten. Dadurch übernimmt Geschichtsschreibung die Funktion als Teil des kulturellen Gedächtnisses.
Nach Interpretation der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann steht der Prozess des Erinnerns »immer im Dienst der Gegenwart« (Assmann, A. 1999, S.173), wobei die Inhalte der Erinnerung sowohl in einen zeitlichen als auch gesellschaftlichen Kontext eingebunden sind. Da jede Form des Erinnerns persönliches Wissen und Erfahrungen beinhaltet, ist Reminiszenz in hohem Maß vom sozialen Standort des Erinnernden abhängig, was wiederum maßgeblich die Herausbildung kollektiver und individueller Identität beeinflusst. Die Existenz eines singulären kollektiven Gedächtnisses setzt jedoch eine kulturelle Homogenität voraus, welche in pluralen, demokratischen Gesellschaften so nicht gegeben ist; vielmehr variieren individuelle Erfahrungen und damit Erinnerungen. Zudem unterliegt das kollektive Gedächtnis einem beständigen Wandel, da der Erinnerungsprozess unweigerlich durch Verdrängung, Vergessen und Verschweigen beeinflusst wird. Deswegen existieren auch im kollektiven Gedächtnis unterschiedliche Lesarten der Vergangenheit, die schwer miteinander kompatibel sind und damit in Deutungskonkurrenz zueinander stehen (Vgl. Neumann 2005, Hurrelbrink 2007).
Durch die stattfindende Selektion in der Tradition von Vergangenheit werden insbesondere Topoi erinnert, die in gegenwärtiger Beurteilung als erinnerungswürdig und relevant erscheinen. Da aber die öffentliche Akzeptanz eines Vergangenheitsentwurfs unweigerlich als Voraussetzung für die gesellschaftliche Legitimation von Gruppen im allgemeinen gilt, streben Vertreter von Randgruppen danach, den gesellschaftlich etablierten Erinnerungskanon um gesellschaftlich verdrängte oder gar vergessene Erinnerungsalternativen zu erweitern oder diese gar in Frage zu stellen. Die Versuche minoritärer Gruppen auf diese Weise ein dominantes Kollektivgedächtnis zu hinterfragen, münden nicht selten in eine Debatte um Erinnerungs- und Gedächtnishoheiten, was nach Ansicht des Philosophen Paul Ricoeur zum Entstehen eines »Gedächtnis(ses) zweiter Ordnung« bzw. eines »Gedächtnisses des Vergessens« beiträgt (Ricoeur 1998, S.141). Damit stellen sich den Historikern ethische Fragen, die ihnen in der Arbeit Entscheidungen abverlangen, welche mit ihrem Selbstverständnis als Vertreter ihrer Profession und der Profession an sich zusammenhängen. Hierzu gehören Aspekte der Auswahl der Themenfelder, der eingesetzten Methodik und Theorienbildung, aber auch die Reflexion hinsichtlich der verwendeten Terminologie, Fragestellungen und Kategorisierung (Vgl. Kühberger 2008). Jenes selbstreflektierte Auseinandersetzen ist in der historischen Arbeit unabdingbar, denn in diesem Prozess erhöht sich gleichzeitig die »epistemische Qualität der wissenschaftlichen Arbeit und erweitert (damit) den Entscheidungsspielraum in der Theoriebildung.« (Gadebusch 2009, S.42)
Auch ist diese Reflexion umso dringlicher, als ein Großteil der Historiker in Feldern arbeitet, die mit der Öffentlichkeit in Kontakt stehen und dieser ihre wissenschaftlichen Dienstleistungen anbieten. Insbesondere in Themenfeldern, die als sogenannte ›heiße Geschichte‹ gelten, entstehen häufig Konfliktsituationen in denen sich wissenschaftlicher und moralischer Anspruch gegenüberstehen. Weiter zeigt sich die ethische Verantwortung von Historikern gegenüber der Gesellschaft in dem Aspekt, dass Erinnerungen auch Verpflichtungen mit sich bringen. So hat unter anderem der Holocaust-Überlebende »Eli Wiesel (…) darauf hingewiesen, dass die Erinnerungen an die Gräuel des NS-Regimes ihn darauf verpflichten, nicht zu vergessen, immer wieder seine Stimme zu erheben.« (Kühberger 2008, S.122) Dies sollte nun nicht bedeuten, dass jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft verpflichtet sei, historisch zu arbeiten. Vielmehr sollte hierin die Verpflichtung für eine Gesellschaft verstanden werden, dafür zu sorgen, dass jemand aus den eigenen Reihen die Vergangenheit erinnert. Der Geschichtswissenschaft selbst kommt in ihrer Arbeit die Verantwortung zu, eine Ethik der Erinnerung voranzutreiben, welche nach den Regeln der Wissenschaftlichkeit und Objektivität auch minoritäre Strömungen berücksichtigt und in ihre Untersuchungen mit einbezieht (Vgl. Kühberger 2008).
Dieser Zusammenhang zwischen Ethik und Erkenntnis tritt deutlich zu Tage in der Frage nach der Verantwortung von Historikern, die sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft und deren Vergangenheit und Kultur ergibt. Hierzu zählt insbesondere die zentrale Verantwortung zur Wahrheit, welche es aufzudecken und zu repräsentieren gilt. Nach Ansicht des Historikers Ernst Engelberg liegt das Ziel von historischer Forschung darin, »einen möglichst hohen Grad von Übereinstimmung der Erkenntnisse (…) mit dem Erkenntnisobjekt zu erstreben, d.h. einen möglichst hohen Wahrheitsgehalt.« (Engelberg 2013, S.21) Geschichtswissenschaftler tragen so eine soziale Verantwortung für ihre eigene Arbeit samt deren Implikationen und damit indirekt, wie andere Wissenschaftler und Intellektuelle auch, Verantwortung für die Gesellschaft, deren zukünftige Entwicklung sie in maßgeblicher Weise beeinflussen können.
Historische Forschung setzt sich als Aufgabe, allgemein nachvollziehbare und subjektiv überprüfbare Darstellungen der Vergangenheit zu schaffen. Dabei lässt sich eine Problematik in der Gewichtung von Prioritäten dann erkennen, wenn Historiker mit den Massenmedien oder der Tagespolitik zusammenarbeiten: Während es der Geschichtswissenschaft darum geht, Sachverhalte wissenschaftlich zu ermitteln und damit den aktuellen Wissensstand zu erweitern, ist die Medienwelt daran interessiert, Sachverhalte publikumsorientiert zu vermitteln und auf dessen Bedürfnisse nach Information und Unterhaltung einzugehen. Auch kann die Wissenschaft aufgrund ihrer methodisch streng festgelegten Arbeitsweise deutlich langsamer reagieren, als dies in individuellen oder kollektiven Erinnerungsformen möglich ist. So steht das Streben danach, im öffentlichen Dialog mithalten zu können, den Maßgaben einer wissenschaftlichen Grundhaltung oft entgegen.
Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka führt in seinen Überlegungen zu sozialen Funktionen und Aufgaben von Geschichte zuvorderst die Orientierungshilfe durch historisches Erklären und damit das Überblicken von Ursachen und Entwicklungen gegenwärtiger Phänomene an. Daneben bemerkt er das Potential der Vermittlung von Kategorien und Einsichten zu politischen Vorgängen der Gegenwart, die anhand historischer Beispiele deren Begreifen und Verstehen ermöglichen. Weiter nennt der Sozialhistoriker praxisbezogene Aufklärung durch rationale, kritische Beschäftigung mit der Geschichte, insbesondere im Feld der herrschaftlichen Legitimation durch bewusst benutzte ›Tradition‹. Zudem unterstreicht er die historische Funktion der Generierung eines Möglichkeitsbewusstseins indem sie Alternativen in der Geschichte zu scheinbaren Notwendigkeiten der Gegenwart darstellt. Abschließend führt Kocka die Erziehung zum Denken an. Geschichte erziehe zu konkretem Denken, das einer allzu schnellen Reduktion komplexer Realitäten und vorschnellen Schlüssen entgegensteht (Vgl. Kocka 1972).
Als weitere besondere Aufgabe sollte Geschichtswissenschaft nach Engelberg herausarbeiten, welches Ausmaß die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des Menschen je nach Epoche, nach Gesellschaftsbereich und Klassenzugehörigkeit annähme und sich jene Freiheit widerspruchsvoll entwickele (Engelberg 2013, S.191).
In diesem Kontext stellt sich die Frage nach den Werten und damit der Verantwortung der Wissenschaft. Der Wissenschaftstheoretiker Hans Lenk geht dabei von internen und externen wissenschaftlichen Werten aus, die im Forschungsprozess eine maßgebliche Rolle spielen (Lenk 1991) Wissenschaftsinterne Werte beziehen sich vor allem auf die Wissenschaft als Kommunikationssystem und werden durch die forschende Gemeinschaft legitimiert und überprüft. Dazu zählen etwa Wahrheit, Objektivität, Validität, aber auch Reliabilität. Als von der Wissenschaft angestrebte Ideale fordern sie neben niveauvoller beruflicher Kompetenz und intersubjektiver Nachvollziehbarkeit, die Integrität des Forschenden durch faires, ehrliches und respektvolles Verhalten im Sinne der Good Scientific Practice (Vgl. Gadebusch 2009). Da historisches Wissen im Rahmen einer Gemeinschaft generiert wird, sollte neben dem Diskurs zur wissenschaftlichen Objektivität jeder Forschende sich mit seinen organisationalen, oft weit verzweigten Commitments, also seinen persönlichen Verpflichtungen und Bindungen, auseinandersetzen, die den Erkenntnisprozess begleiten und prägen werden. Auch wenn der Historiker nach den Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis arbeitet, werden das wissenschaftliche Ergebnis und dessen Präsentation immer durch persönliche Option, Interessenschwerpunkte, erwartete bzw. derzeitige Entwicklungstrends beeinflusst sein. Darauf bezieht sich auch die Erkenntnistheorie des Sozialethikers Clemens Sedmak, die feststellt, dass Denkweise und Lebensform miteinander zusammen hängen, und damit erstere wiederum auch mit kulturellen und sozialen Hintergründen. Als Konsequenz daraus sollte das wissenschaftliche Produkt unabdingbar in seinem Eingebundensein in den gesellschaftlichen und zeitlichen Kontext vom Forschenden selbst reflektiert werden, um der Leserschaft die Möglichkeit zu geben, die Perspektive des Wissenschaftlers nachzuvollziehen (Sedmak 2003). Den Auftrag zur Selbstreflexion bestätigt der Philosoph Thomas R. Flynn in seinen Gedanken zur Geschichtsethik: »… the historian must be clear as possible about his own situation out of which this investigation is undertaken.« (Flynn 2004, S. 232)
Wissenschaftsexterne Werte richten sich hingegen vielmehr nach Maßgaben allgemeiner moralischer Ideale, welche gleichzeitig die Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft bedingen. Sie umfassen sämtliche Ziele, die die Wissenschaftler in ihrer Tätigkeit fokussieren und damit eine weit gefasste Bandbreite, welche durch ökonomische, politische Interessen, manchmal sehr persönliche Motive und moralische Grundwerte beeinflusst wird. Zu ihnen zählen beispielsweise die Anerkennung der Menschenrechte im Allgemeinen wie auch die persönlichen Rechte der Untersuchten, sowie die Schadensvermeidung und das Interesse am Gemeinwohl. Genauer betrachtet scheinen externe Werte ebenso allgemeinen sozialen, kulturellen und politischen Strömungen unterworfen und damit »nahezu beliebig« (Gadebusch 2009, S.40). Letztendlich hat intellektuelle Redlichkeit mit dem Respekt vor der Alterität des Anderen zu tun und damit vor einer allgemeingültigen Menschlichkeit. Diese Sicht unterstreicht die Haltung der Philosophin Martha Nussbaum, die als eine der wichtigsten Aufgaben von Bildung und Wissenschaft die Fähigkeit angeführt hat, sich selbst und andere Menschen in erster Linie als Menschen zu sehen, die Gemeinsames teilen und sich damit als Teil der Menschheitsfamilie verstehen (Nussbaum 2003, S.10ff). Vor diesem Hintergrund ergibt sich für den Wissenschaftler die Verpflichtung, persönliche Haltung, Thesen und Urteile kritisch zu reflektieren. In diesem Grenzbereich von Geschichtswissenschaft und Ethik spielt die Verantwortlichkeit des einzelnen Forschenden eine elementare Rolle.
Verstand die Geschichtswissenschaft der Vergangenheit sich eher als Niederschlag geistesgeschichtlicher Traditionen und Dienstleistung, deren Aufgabe es war, Könige und Helden zu ehren, so hat sie im Vergleich zu früheren Zeiten einen Bedeutungswandel erfahren. Der forschende Historiker hat es zwar zunächst scheinbar nur mit Ereignissen zu tun und vergegenwärtigt durch den Vorgang des Schreibens von Geschichte das Gewesene (Vgl. Joister 2007), doch er darf es nicht bei einer bloßen Deskription singulärer Tatsachen belassen, sondern hat die Aufgabe, diese einzuordnen und zu beurteilen. So lässt sich Geschichtsschreibung nunmehr als eine »aktive Form der (…) Identitätsbildung« (Eckel 2007, S.16.) verstehen, deren Forschungsdiskurse zur Konstruktion nationaler Selbst- und Fremdbilder beitragen. Parallel kann Geschichtswissenschaft ebenso als ein Produkt von Erinnerungen verstanden werden, welche wiederum selbst durch ihre Einbindung in das zeitgenössische Geschehen gestaltet wird.
Damit trägt die historische Wissenschaft die unerlässliche gesellschaftliche Funktion, der Öffentlichkeit methodisch gesicherte Fakten zur Vergangenheit zur Verfügung zu stellen. Geschichtswissenschaft wird somit zugleich »zum Bezugspunkt moralischer Selbstbefragung und in dieser Verschränkung von objektiven und subjektiven Momenten zu einer prekären Herausforderung für eine neue gesellschaftliche Identitätsfindung.« (Thomas 1993, S.263) Die Gemeinschaft der geschichtswissenschaftlich Arbeitenden leistet so einen Beitrag zur Kultur, der über die streng historischen Kontexte hinausgeht. Durch die Gestaltung des Diskurses über das Vergangene prägen Historiker Gesellschaft und deren kulturelles Selbstverständnis. Aus dem Blick auf Genese, Verlauf und Relevanz zurückliegender Ereignisse lassen sich Impulse zur Bewältigung der Gegenwart gewinnen. Damit leistet Geschichtswissenschaft nicht nur einen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis sondern auch zur Bildung kultureller und sozialer Strukturen.
Historiker tragen somit die soziale Verantwortung über kritische Wissenschaftlichkeit und historische Bewusstseinsbildung die geistige, politische, soziale oder ökonomische Reflexion einer Gesellschaft zu fördern und damit zum Aufbau des Gemeinwohls beizutragen (Vgl. Kühberger 2008). Dabei sollten sie weniger als »professionelle Erinnerer der Gesellschaft [auftreten], die Handlungsanweisungen geben, [sondern] können [durch ihre wissenschaftliche Kritik] nur Angebote für eine höhere Sensibilisierung des individuellen wie kollektiven Erinnerungsvorganges machen.« (Haas 1996, S.53) Den Geschichtswissenschaftlern kommt dabei die elementare kritische Aufgabe zu, medial und persönlich tradierte Erinnerungen zu verifizieren, zu ordnen und professionell zu beurteilen, dies gilt insbesondere im Bereich der Oral History. Gleichzeitig können die wissenschaftlich Tätigen zu den untersuchten Ereignissen keine wertneutrale Haltung einnehmen, sind sie doch ebenfalls interessen- und zeitgebunden sowie kulturell und sozial eingebunden. Die Crux wie auch Chance, dass Historiker gleichzeitig Teil der »Erinnerungsgemeinschaft sind, in der sie leben und forschen« (Schönhoven 2007 S.11), was wiederum deren Themenwahl, Wahrnehmung wie auch Kategorisierung und Beurteilung des untersuchten Gegenstands beeinflusst, gehört zum Arbeitsalltag der historischen Forschung, in der untersuchte Vergangenheit unwillkürlich persönlich erlebten Ereignissen und Erfahrungen gegenübergestellt wird. Die daraus resultierenden unterschiedlichen Lesarten von Geschichte behalten, soweit selbstkritisch reflektiert, jede für sich ihr eigenes Recht.
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