Ich fühlte mich geschmeichelt. Carlo Jordan war gekommen. Extra zu meiner Veranstaltung, einem Zeitzeugengespräch im DDR-Museum in Berlin-Mitte, an der Spree, gegenüber dem Berliner Dom, einem in mehrfacher Hinsicht prominenten Ort, im Frühsommer des Jahres 2017, 28 Jahre nach der friedlichen Revolution.
Carlo Jordan fühlte ich mich immer verbunden. Er gehörte innerhalb der christlichen Opposition zur Umweltbewegung. Er war gemeinsam mit Rüddenklau einer ihrer Köpfe. Das Zentrum dieser grünen Opposition in der DDR war lange Jahre die Umweltbibliothek in der Berliner Zionskirche unweit meiner Heimatgemeinde, vielleicht zwei Kilometer Luftlinie.
Carlo Jordan saß in dieser Veranstaltung im DDR-Museum in der ersten Reihe und hörte sich das Gespräch, in das mich Christian Booß als Moderator verwickelte, freundlich über eine Stunde an. Doch die Frage die er dann stellte, führte wieder mitten in die eigentlich abgelegten Diskussionen aus der Gründungsphase, besser, der Vor-Gründungsphase meiner sozialdemokratischen Partei hinein.
Er frug nämlich, warum wir eine sozialdemokratische Partei gegründet hätten. Die hätte ja angesichts des Umstandes, dass es in der DDR kein sozialdemokratisches Milieu gegeben hätte, scheitern müssen. Da war er wieder, der alte Vorwurf, die SDP hätte keinen Nährboden gehabt, sei gewissermaßen aus der Luft heraus geboren, eine Kopfgeburt. All die Probleme, die die Ost-SPD bis in die heutigen Tage gehabt habe und habe, seien bereits in ihrer Gründung angelegt gewesen. Die SDP, im Grund ein Anachronismus.
Ich habe das versucht zu erklären. Aber das kann man eigentlich nicht richtig erklären. Denn die Wurzeln, die zu dieser Ansicht führen, die sie ermöglichen, liegen zu tief, als dass man sie mit einem kleinen Statement freilegen könnte. In einer solchen Veranstaltung geht es auch gar nicht darum, das freizulegen, sondern nur, die aufgestellte These mit einer Gegenthese zu kontern.
Die lautete, dass es gar nicht um das Milieu gegangen sei, sondern um die sozialdemokratischen Traditionen von Demokratie, Freiheit und Selbstverwaltung, die es in einer Gesellschaft wiederzubeleben galt, die durch die in ihr waltenden totalitären Machtverhältnisse der kommunistischen SED ihrer Vitalität beraubt worden sei. Sie neu zu beleben sei der Sinn der Gründung unserer sozialdemokratischen Partei gewesen. Diese Gegenthese, die ich da vortrug, war natürlich nicht falsch. Und sie klingt auch gut. Aber sie ist nicht die Wahrheit, zumindest nicht die ganze.
Die Wahrheit, die ich hier subjektiv für mich vereinnahme, ist meine Zeitzeugenwahrheit. Ich versuche gar nicht erst objektiv zu sein, wer kann das schon. Also: meine Wahrheit besteht darin, dass die SDP-Gründung nur aus der Opposition in der DDR heraus erfolgen konnte, dass sie also ein originärer Teil dieser DDR-Opposition war, gleichzeitig ihre Widerlegung. Sie realisierte die Ziele der Opposition, nämlich die Beseitigung der totalitären Verfasstheit der DDR-Gesellschaft, ihre Befreiung vom totalitären Machtzugriff, aber auf einem Weg, der dem Großteil der Opposition versperrt blieb, weil sie sich aus ihren sozialistischen Zukunftsvorstellungen nicht lösen wollte. Zukunftsvorstellungen, die mit dem totalitären Gefängnis, in dem wir in der DDR alle zusammen saßen, nicht wirklich brechen wollten.
Und gleichzeitig konnte die SDP-Gründung nur aus diesem Oppositionsmilieu heraus erfolgen, weil nur hier genügend politische Selbständigkeit der für die SDP unverzichtbaren Akteure gewachsen war. Insofern war das unser Milieu. Aber nicht das alte Arbeitermilieu im wilhelminischen Reich oder in der Weimarer Republik. Aber das war ja nicht vom Himmel gefallen, sondern letztlich ein Produkt der politischen Zukunftsvorstellungen, das sich innerhalb der Sozialdemokratie entwickelt und natürlich seine Unschuld schon lange verloren hatte – auf eine dramatische doppelte Weise. Zum einen mit jener Entwicklung, die, ausgehend von der Ablehnung der sozialdemokratischen Unterstützung der Kriegführung des wilhelminischen Reiches, also der Ablehnung der Kriegskredite, über den Spartakusbund zur Gründung der Kommunistischen Partei geführt hatte, welche die von der Sozialdemokratie durchgesetzte soziale Republik 1918 von Anfang bitterböse als Verrat an den alten sozialistischen und revolutionären Idealen bekämpfte. Zum anderen durch die Hinwendung großer Teile der Arbeiterbewegung zum Nationalsozialismus und zwar sowohl als Wähler wie auch als Mitglieder.
Auf dieses Milieu konnte man also nicht zurückgreifen, ohne eine Antwort auf die Fallen zu geben, in die es geraten war. Da war die totalitäre Falle. Die Falle des letzten Jahrhunderts, ja der Moderne selbst. Und weil die Sozialdemokratische Bewegung ein Produkt der Moderne ist, hat sie auch die Fallen der Moderne durchlebt und durchlitten.
Martin Gutzeit, der spiritus rector der sozialdemokratischen Idee 1988 in der damaligen DDR, hatte deshalb die Gründung der SDP unter einen Vorbehalt gestellt: »In tiefer Ablehnung jeglichen totalitären Denkens und Handelns – gründen wir eine sozialdemokratische Partei in der DDR.« Die Crux totalitären Denkens besteht darin, die Freiheit der Moderne nur für sich selbst und die eigene politischen Idee akzeptieren zu können, allen anderen hingegen das eigene politisches Selbstverständnis aufzuzwingen. Toleranz gibt es hier nicht, sondern nur eine Wahrheit, nämlich die eigene.