(64) Leviathan
»Wir bauen unserm Walfisch ein Gefängnis. Lasst ihn frei, lasst ihn frei, lasst ihn frei…« So tönte der letzte Karnevalsschlager im Yagir, auf der Straße konnte man Menschen beobachten, die dazu rasend auf die Trommel einschlugen und sangen, was das Zeug hielt. Selbst die verknöcherte Garde wurde vom Rausch ergriffen. Sie beschloss, zur Tat überzugehen und das Gefängnis, ursprünglich nichts weiter als ein jahreszeitlich korrekt ausgebrütetes Windei, wirklich zu bauen. Der Bau wurde weltweit ausgeschrieben und anschließend an die üblichen Verdächtigen vergeben. Überall im Land klaffen jetzt Löcher und Betonstümpfe ragen in die Höhe. Auch hat man Aussichtspunkte eingerichtet; von ihnen aus kann die Bevölkerung den Fortschritt der Bauarbeiten besichtigen. Sie haben rasanten Zulauf. Nur der Walfisch hat sich bisher nicht blicken lassen, obwohl die schönsten Geschichten über ihn sich im Umlauf befinden. Killerwal und Schmusemonster: so titelte eine Boulevardzeitung, deren gesellschaftspolitische Aufgabe darin besteht, die Dinge auf den Punkt zu bringen oder zu treiben, falls sie nicht allein hinaufwollen. Besagter Boulevardzeitung fiel auch auf, dass der Schlager, wie das Volk, das ihn nach Herzenslust sang, einen Widerspruch enthält. Das setzte, wenngleich nur für kurze Zeit, einige Intellektuelle ins Brot, die erklärten, die Freiheit, welche die Bevölkerung meine, müsse, um zu funktionieren, als Gefängnis konstruiert sein, im übrigen komme es darauf an, das Volk, als seinen größten Peiniger, zu stürzen. Zu allem entschlossene Philosophie-Professoren fingen bereits an, im Dunkeln Hochspannungsmasten zu fällen, um dem Volk den Saft abzudrehen. Sie wurden gestoppt und der Psychiatrie anvertraut, deren lange Erfahrung im Umgang mit Angehörigen der Elite weltweit Anerkennung genießt. Frauen kamen, die auf die ungebrochene Männlichkeit des Walfisches hinwiesen und zu verstehen gaben, dass es an der Zeit sei, ihn von alten Identitäten zu befreien und neue Formen des Miteinander zu erkunden. Ein paar Männer erregten landesweit Aufsehen, weil sie sich, im strikten Glauben, der Lebertran ihrer Kindheit habe ihnen eine walische Identität eingeflößt, bei der nächsten Polizeistation meldeten, um die für sie vorgesehenen Zellen in Augenschein zu nehmen. Langsam sickerte durch: unser Wal ist weder Wal noch Mensch, er ist anders als gedacht, er ist noch gar nicht erkundet, geschweige denn zuverlässig gesichtet, er ist der Staat. Der freigelassene Staat ist der überwachte. Solange der Staat noch seine Bürger überwacht, ohne an sich selbst zu denken, fehlt ihm etwas, das keiner ihm geben kann – weder seine Bürger noch der Kapitalmarkt, schon gar nicht die Großindustrie. Erst der vollständig überwachte, seiner selbst und seiner Bürger zutiefst gewisse, selbsternannte und selbstversorgte Staat ist der Staat, von dem die Freiheit stets träumte und dem sie endlich vertraut. An ihm wird gebaut und die Kosten wachsen ins Ungemessene.