Vierter Stolperstein: Aufruf für unser Land
Ostberlins Künstler- und Intellektuellenszene war seit längerem schwer in Sorge um die kleine Republik, die so ein schönes Terrain für die Verbesserung des Sozialismus abgab. Dabei gänzlich übersehend, dass diese Idee schon 1968 endgültig desavouiert und gemordet war. Auch übersehend, dass der weitere Druck des Marxschen Kapitals sinngemäß wegen fehlender Ersatzteile nicht mehr möglich war. Oder anders gesagt, die Idee hatte den materiellen Unterbau restlos aufgefressen. Die Proleten in der Provinz wussten das alles einfach besser.
Dies alles konnte so deutlich in das bemuttelte und aufgepäppelte Ostberlin auch nicht wirklich durchdringen. Trennte die Mauer Ost- von Westberlin brutal, so gab es eine zweite etwas durchlässigere Wand zwischen der Hauptstadt der DDR und dieser DDR. Mir kommt immer wieder das geflügelte Wort von Ostberliner Freunden in den Sinn, die bei Fahrten ins Umland launig von Kurzreisen in die DDR sprachen.
Nicht nur zwischen der weltweiten Reisefreiheit einer Christa Wolf und den anderen 16 Millionen NSW-Nichtreisekadern lagen Welten, auch zwischen jedem Ostberliner und jedem DDR-Betrieb, zwischen den Baukapazitäten für Ostberlin und den verfallenden Städten der Restrepublik.
Die DDR war alles, nur kein Land, für das es sich lohnte zu streiten.
Am 26. November 1989 wurde der Aufruf »Für unser Land« bekannt. Am 27. November, ein Montag, war in Leipzig Demonstration angesagt und damit eine wunderbare Gelegenheit gegeben, sozusagen sofort in überregionale Kommunikation zu Frau Wolf und der sich am Aufruf mitfreuenden SED zu treten. Ich nutzte die Gelegenheit, mit dem Satz »Es gibt kein Volk der DDR« die Existenz eines solchen staatsrechtlichen Separatanspruchs abzustreiten. Der Jubel war gewaltig – auf dem Karl-Marx-Platz.
Abends in den DDR-Nachrichten wurde ein kurzer Bericht vom Leipziger Dokfilmfestival gebracht, in dem eine Ostberliner Regisseurin fassungslos von einem Sozialdemokraten sprach, für den es kein Volk der DDR zu geben schien. Das war lustig – für mich.
Jetzt lief die Kampagne auf vollen Touren. Die CDU-DDR, noch immer Blockpartei, ließ sich nicht zum letzten Male vor den Karren spannen. Lothar de Maiziere sprach einem »warmen Sozialismus« das diensteifrige Wort und er sollte noch Claqueur der antifaschistischen Plänterwaldorgie Ende Dezember werden.
Für die Blockflöten war es halt ein sehr mühsames Sich-Aufrichten in den erhobenen Gang. Das diesbezügliche Knacken in den lange verbogenen Wirbelsäulen und Gelenken würde die ostdeutschen Landtage noch auf Jahrzehnte lähmen. In die Blockparteien konnte nämlich nur eintreten, auf den die SED verzichtete oder den sie dort benötigte. Die Blockparteien mussten bei der SED-Kreisdienststelle anfragen, ob und wen sie aufnehmen durften.
Am 4. Dezember 1989 verfasste Johannes Wenzel seinen Leipziger Aufruf, der den Gedanken einer Konföderation mit dem Ziel der staatlichen Einheit zum Inhalt hatte. Ähnlich dachten zunehmend mehr Menschen und der Zug in die Deutsche Einheit gewann an Fahrt, zum abermaligen Verdruss der SED. Denselben Wunsch rief an diesem Tag auch Elke Urban den Leipziger Montagsdemonstranten unter großem Beifall zu.
Der Aufruf Johannes Wenzels erreichte ohne die Unterstützung der SED-Medien beachtliche 16000 Unterschriften binnen weniger Tage. Mit großen Medien im Rücken wäre er zum DDR-weiten Schlager geworden.
Einmal Blockflöte, immer Blockflöte? Der Leitantrag der DDR-CDU zu ihrem Parteitag stand pflichtgemäß für eine Nationale-Front-Partei deutlich gegen eine Wiedervereinigung. Kohl hatte halt noch nicht in Dresden gesprochen. Bis dahin galt eben das, was gelernt war: das Kuschen:
Im ursprünglichen Entwurf stand sogar noch das Ziel eines »warmen Sozialismus«. Der Chef in spe de Maiziere hatte dies noch Höchstselbst medial verkündet, was ihm »unterwegs« bis zur Endfassung des Leitantrages offensichtlich abhanden gekommen war - wie der obige Antragstext zeigt.