Dritter Stolperstein: Grenzfall
Um die DDR für die SED noch erhalten zu können, schien sicher ein Ausweg darin zu bestehen, wenigstens die vielen DDR-Ablehner loszuwerden um dann mit den Sozialismusverbesserern die DDR erhalten zu können. Auf jeden Fall hätte die Grenzöffnung am 9. November dieses Problem lösen können. Wäre dies Absicht gewesen, hätte dies allerdings für eine weitere krasse Fehleinschätzung der eigenen Bevölkerung gestanden. Zu diesem Zeitpunkt sahen die meisten Demonstranten die Chance, ohne Heimatverlust Freiheit und Demokratie erleben zu können. An den Wochenenden fuhren von da an die Ostdeutschen in den Westen, kamen aber auf jeden Fall zu den alles entscheidenden Demonstrationen rechtzeitig retour. Der Konsumwunsch ging eben nicht über den Wunsch nach sicherer Freiheit. Was für die SED eine weitere Enttäuschung sein musste, war für den Erfolg der Friedlichen Revolution von immenser Bedeutung. Dies wusste das Volk, zu unser aller Glück! Auf uns alle war schwer Verlass.
Ein solches Gespräch hatte ich mit Jochen Lässig zu Beginn der Veranstaltung am Reichsgericht am 18. November 1989. Er befürchtete nicht nur für diesen Samstag weniger Teilnehmer wegen des neuen Wochenendreiseverkehrs nach Westdeutschland und Westberlin, er bangte vor allem auch wegen der kommenden weiterhin wichtigen Montage. Die Situation war doch überhaupt noch nicht sicher. Wir brauchten doch die Hunderttausende weiterhin jede Woche in der ganzen DDR! Ich versuchte ihm die Zweifel zu nehmen. Für mich war es sicher, die Leute würden immer und immer wieder kommen – bis zu den ersten freien Wahlen. Zum Glück lag ich mit meiner optimistischen Einschätzung richtig. Auf die Bevölkerung war Verlass. Wir rechneten wieder Mal besser als die SED/MfS-Strategen.
Persönlich tendiere ich dazu, dass Schabowski den vor ihm liegenden Wust an Materialien in der Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 tatsächlich inhaltlich nicht mehr beherrschte und auf Nachfrage des Korrespondenten beim schnellen Querlesen der Information zum neuen Reisegesetz die Mauer faktisch zum Sturm freigab. Vielleicht ging ihm und anderen vorher auch mehrfach der Gedanke durch den Kopf ›wenn die Störenfriede doch nur alle weg wären‹. Aber das ist spekulativ. Wichtig waren allein das Resultat und das erneute Verkalkulieren hinsichtlich einer Druckentlastung für den Apparat. Reisefreiheit war wichtig, musste aber für immer gesichert sein.