Erster Stolperstein: Der Dialog über den Dritten Weg

Ob hierbei die parteilosen Leipziger Persönlichkeiten insgeheim weiter dachten, vermag ich nicht zu deuten. Auch nicht aus heutiger Perspektive. Die Unterschriften der SED-Mitglieder sind jedenfalls nur in dieser Diktion zu deuten. Erhalten durch Tapezieren und über das Trittbrett des Bremserhäuschens den Zug in Freiheit und Demokratie für die SED zu entern und am Ende im Lokführerstand die Fahrtrichtung zu bestimmen. Ein anderes Ziel stand bei jenen nicht zur Debatte. Das alles war so offensichtlich. Die Ostdeutschen fielen darauf nicht herein. Die Chance, alles abzuräumen, würde nie wieder friedlich kommen. Noch deutlicher wurde der Folgeaufruf vom 16. Oktober 1989:

Für Pommert war mit dem 9. Oktober alles erreicht, es ging nur noch um die Verbesserung des Sozialismus. Und dafür war dem SED-Mann die Straße überhaupt nicht der richtige Ort.

Im Gegensatz dazu die 30 000fach kopierten und verteilten klaren Worte Pfarrer Wonnebergers vom 9. Oktober:

Wonneberger machte Partei und Regierung (Reihenfolge sic!) für die Situation verantwortlich. Das Wort Sozialismus ist bei ihm vergeblich zu suchen. Vor der Unrechtsjustiz der DDR hätte ihm genau dies den höchststrafbewehrten Vorwurf des Hochverrats eingebracht. Im Falle des blutigen Niederschlagens des Volksaufstandes wäre dies mit hoher Wahrscheinlichkeit die Todesstrafe geworden.

Bernd-Lutz Lange ging seitens der sogenannte Leipziger Sechs das größte Risiko ein. Hätten sich die Hardliner in Ostberlin zum Niederschlagen entschlossen, er hätte sich nicht auf die sogenannten Reformer in der SED berufen können, ebenso nicht auf Masurs Weltruf, auch nicht auf das Schutzdach der Kirche wie es für Zimmermann gegolten hätte, der ohnehin wie inzwischen bekannt ist, für das MfS dabei war. Lange gehörte in der Tat zu den sehr Mutigen im Oktober 1989.

 

 

Die sich zum selbstbewussten Gang aufmachende Bevölkerung roch den Braten. Die SED wollte offensichtlich Zeit gewinnen und Dampf raus lassen.

Zeit für die Stabilisierung der bisherigen Ordnung in neuer Tapete, vielleicht sogar so viel Zeit, wie sie bis zum ersehnten Ende des unerhörten Anfalls von Milde in Moskau nötig war. Im Baltikum und in Berg-Karabach bewies doch auch Gorbatschow, dass er wie seine Vorgänger könne.

Die Zeit war für die SED und deren MfS nur über Diskussionsangebote zu gewinnen. Die Leute sollten in die Falle und der Speck darin hieß ›Dritter Weg‹. Was aber war nun dieser Dritte Weg, welche Konsistenz, welche Beschaffenheit hatte dieser Speck?

Mehr als genug zum Anbeißen, wenig genug, um schnell damit fertig zu werden. Das freiheitliche und demokratische System der Bundesrepublik auf den Füßen der sozialen Marktwirtschaft galt als die kapitalistische Variante, das Kasernensystem des Ostblocks als die sozialistische Alternative. Beides sollte nicht wünschenswert sein, was im Umkehrschluss bedeutete, der westdeutsche Kapitalismus müsse gar nicht erst probiert werden. Das was bis dato bestand, solle verändert werden. Und das Verändern sollte langwierig (bis zum Sankt Nimmerleinstag) besprochen werden. Für Ostdeutsche war das als Botschaft deutlich genug. Die SED setzte darauf, dass ihre 40järige Indoktrination die Sinne ihrer Untertanen so vernebelt hatte, dass diese plump die soziale Marktwirtschaft, die so unheimlich erfolgreicher und wohlstandsschaffender war, angsterfüllt wie den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts einschätzten.

Das ging schon im Ansatz schief. Die im Kapitalismus Ausgebeuteten wollten nicht in die von Ausbeutung freie DDR übersiedeln. Das musste gewichtige Gründe haben, zumal diese eigenartig Ausgebeuteten problemlos in die ganze Welt reisen und auswandern konnten. Diese Ausgebeuteten genossen nicht nur die Freiheiten der Menschenrechtskonvention der UN. Sie litten sogar unter einem wesentlich höherem Lebensstandard und älter als die Nichtausgebeuteten wurden sie zu allen Überfluss auch noch.

Den sogenannten Kapitalismus der Bundesrepublik bewunderten die DDR-Insassen. Den Sozialismus, im Grunde ein bis zum Erdrosseln abgeschnürter Kapitalismus, den kannten die Leute. Zu verlassen war er bis vor kurzem nur über den Freikauf aus dem Gefängnis oder durch von Todesstrafe bewehrter Flucht über die Zonengrenze. Ein Staat, der seine Bevölkerung einmauert, hat nie die Spur einer Chance im Wettbewerb mit der Freiheit.

Den ersten und letzten Versuch, dem Sozialismus ein menschliches Antlitz zu verpassen, zerpanzerten die Realsozialisten 1968 in der CSSR. Über diesen Versuch waren 1989 einundzwanzig Jahre ins Land gegangen. Einundzwanzig Jahre, in denen er keine aus Freiheit geborene Renaissance erfuhr. Ein weiteres sozialistisches Experiment hatte keinerlei Chance. Zumal dieses Experiment die weitere Staatlichkeit der DDR bedeutet hätte. Eine selbständige DDR hätte aber niemals die Hilfen bekommen, die innerstaatliche Regionen eines prosperierenden Gemeinwesens jederzeit und dauerhaft bekommen. Die DDR-Insassen wussten um ihren phänomenalen Vorteil gegenüber ihren Ostblockleidensgenossen Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Bulgaren, Rumänen, Albanern, Russen, Ukrainern, Georgiern usw. usf. Die alle hatten kein Westpolen, Westtschechien, Westungarn….Westrußland, Westukraine, die ihnen hätten so helfen können wie es Westdeutschland mit der ehemaligen DDR bis heute vollzog.

Der Dritte Weg wäre alles gewesen, nur definitiv kein Weg über das westdeutsche System zu einem weiteren Sozialismusversuch!

Die Gefahr, dass die Ostdeutschen beim westdeutschen System nicht nur Rast auf dem Weg zum nächsten Versuch machen, sondern den Weg nicht weitergehen würden, lag auf der Hand. Wie sagte der SED-Mann Otto Reinhold am 1. September 1989 in der Zeit auf die Frage, welche Existenzberechtigung eine marktwirtschaftlich orientierte DDR neben der Bundesrepublik haben würde: »Natürlich keine!«. Der Dritte Weg sollte ausdrücklich nicht in das freiheitlichen Systems der sozialen Marktwirtschaft Westdeutschlands führen. Unüberwindliche Hindernisse mussten bleiben bzw. geschaffen werden. Der Dritte Weg sollte nicht in die Deutsche Einheit führen und die Ostdeutschen in die nächste Sackgasse locken.

Inhaltlich war ohnehin nicht klar, was freiheitlich, demokratisch, wirtschaftlich, sozial die Theorie des Dritten Weges bedeutet hätte. Hätte es Privateigentum gegeben? Privatwirtschaft? Freizügigkeit der Menschen, Produkte und Dienstleistungen? Banken? Bereits an der Frage, inwiefern Demokratie und Volkseigentum zusammenzuhalten wären, sagten sich Fuchs und Hase ›Gute Nacht‹, weil diese Frage alternativlos das Volkseigentum als nichtverhandelbare Kondition beantwortete. Das sogenannte Volkseigentum kam aber auf verschiedensten Wegen zustande. Das meiste war vordem enteignetes, unrechtmäßiges Eigentum des Staates. Dies aufrechtzuerhalten hätte die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Kommunisten weiterhin am Leben erhalten und mit Staatsknete hätten die staatlichen Kombinate erhalten werden müssen. Konkurrenzfähig wäre diese Wirtschaft auf diese Weise niemals geworden.

Eine Deutsche Einheit hätte es nicht geben können, wenn ein größerer und leistungsfähigerer westdeutscher marktwirtschaftlicher Teil mit einem kleineren ostdeutschem staatswirtschaftlich organisiertem Teil in einem Hoheitsgebiet gemeinsam hätte liegen sollen. Der kleinere staatswirtschaftliche Teil hätte den gemeinsamen Staatshaushalt ruiniert. Oder die staatliche Konkurrenz hätte den Marktwirtschaftspartnern den Boden entzogen. Oder beides wäre eingetreten und statt der kleineren DDR wäre wenig später die große Bundesrepublik wirtschaftlich denselben Bach heruntergegangen.

In der breiten Bevölkerung, die täglich außer Weiß-, Rotkohl und Äpfeln nicht allzu viel Obst und Gemüse sah und im Betrieb ständige Ersatzteilkrisen umrahmt mit sozialistischer Litanei erlebte, verhungerte das Trojanische Pferd Dritter Weg. Nach dem Nationalsozialismus, dem realen Sozialismus und dem zerpanzerten Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der CSSR 1968 wollten die Menschen keine weiteren Sozialismusexperimente am lebenden Bevölkerungskörper. Der Westen Deutschlands funktionierte nachweislich und war höchst attraktiv, auch war er nicht Kapitalismus pur. Die soziale Marktwirtschaft entsprach bereits dem, was viele unter einem sozialgebändigtem Kapitalismus verstanden.

Die Hürden waren für die SED hoch, was den Dritten Weg anging. Langer Atem und weitere Fallen waren nötig. Was dann auch so step by step geschah.

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.