Neunter Stolperstein: Verfassungsentwurf der Runden Tisches und das »Lied vom Dritten Weg«

Lange ersehnt und im Moment seiner Konstituierung wie eine Botschaft aus ferner Zeit wirkend: der Runde Tisch in Ostberlin. Eben noch Herzenswunsch vieler Menschen und so kurz nach dem Mauerfall bereits hinter seinem Verfallsdatum liegend, so ähnlich meine damaligen Gefühlslage.

Es war schon eigenartig. Der Runde Tisch war doch gleichbedeutend mit einem triumphalen Sieg über die SED, die mit diesem konstitutionellem Schritt ihren unumstößlichen Machtanspruch offensichtlich teilen musste. Ob dies unumkehrbar blieb, das war allerdings noch lange nicht raus! Da mussten täglich weiterhin noch viele hunderttausend Menschen zeigen, dass des Volkes unumstößlicher Wille die SED/MfS-Abkehr von der Macht war.

Von Stund’ an konnte die SED nur noch mit der Opposition regieren. Das war wirklich ein Triumph. Aber wie schmeckte der jetzt, nach dem Mauerfall in der mächtigen Ahnung, dass plötzlich noch weit mehr drin war? Wie guter und schal gewordener Wein, den keiner mehr wirklich brauchte.

Im Gegenteil, durch diese der SED abgerungenen Teilhabe war die Opposition von nun an vielleicht sogar nur der nützliche Idiot der DDR auf ihrem Weg zu einem neuerlichen Sozialismusversuch, dem Dritten Weg? Freude und Misstrauen waren fortan wie Geschwister die Beobachter der Aktivitäten des Runden Tisches. Kurz gesagt, viele Demonstranten hatten das Gefühl, nun zum Druck auf die SED zusätzlich Druck auf den Runden Tisch ausüben zu müssen. Der Druck der Straße musste bis zu den ersten freien Wahlen die SED weiterhin gefügig halten, ihr die Notwendigkeit des Runden Tisches weiterhin vor Augen führen und den Oppositionsteilnehmern am Runden Tisch Unterstützung geben und jenen gleichzeitig zeigen, dass es um den restlosen Abriss der SED-DDR bis in die Deutsche Einheit gehen musste. »Keine Experimente!« hieß die Parole.

Die Protokolle des Runden Tisches geben das auch alle so her. Die SED mit ihrer machtpolitischen Erfahrung und der scheinbaren Fachkompetenz ihrer Minister suchte von Anfang an zu zeigen, wer Koch und wer Kellner und bei wem die Sicherheit der Bevölkerung in besten Händen sei. Die beinahe alte mediale Präsenz der SED in der Demonstrationsweihnachtspause im Rücken nutzend, suchte sie zwischen dem 8. und 15. Januar 1990 die Machtprobe mit dem Runden Tisch und mit der Bevölkerung. Möglicherweise war die SED damit wieder Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden und glaubte selbst an das von ihr erneut geschaffene potemkinsche mediale Dorf der vorangegangenen Wochen. Die SED glaubte sich wieder stark und wurde von der Straße wieder einmal eines besseren gelehrt. Was ihr die Oppositionsteilnehmer am Runden Tisch dann auch zeigen konnten.

Die SED wollte Zeit schinden, die linksalternative Opposition einfangen, die Demonstrationslust einschläfern, mittels Unsicherheits- und Faschismuskampagnen als Garant von Sicherheit erscheinen sowie Gorbatschow zum Eingreifen locken, das MfS als Verfassungsschutz erhalten und die Deutsche Einheit mit einem Verfassungsentwurf des Dritten Weges der als imperatives Mandat an die noch zu wählende Volkskammer gehen sollten, faktisch konstitutionell verhindern. Letzteres war überhaupt nicht machbar. Weder waren die DDR-Regierung noch bei aller Wertschätzung die Oppositionsgruppen am Runden Tisch in Wahlen demokratisch legitimiert. Ein solcherart nicht legitimiertes Gremium hatte nur eine angemessene Kernaufgabe: Den ersten freien Wahlen den Weg ebnen. Eine konditionierte Verfassungsdiskussion konnte nur das kommende erste freie Parlament der DDR in seinen demokratisch ermittelten Mehrheiten führen. Kein Übergangsgremium hatte das Mandat, dem kommenden Parlament Aufträge zu geben. Gewissermaßen war der Runde Tisch von seiner Anlage her ein Rat selbsternannter Revolutionäre (Opposition) und Konterrevolutionäre (alte Garde).

An diesem Punkt lohnt die Lektüre von Uwe Thaysen »Der Runde Tisch oder wo blieb das Volk? (Westdeutscher Verlag, Opladen 1990).

 

(S. 57)

 

Im Hintergrund wirkte zudem die Stasi. Ihr es ging um ihre Existenz und ihren Staat. Wenn schon nicht mehr »Staatssicherheit« oder »Amt für Nationale Sicherheit« dann wenigstens »Verfassungsschutz«. An Putsch wurde auch gedacht:

Fernschreiben vom 9. 12., 11.00 Uhr


Ministerpräsident
Amt. Staatsratsvorsitzender
Präsidium der Volkskammer
Minister für Innere Angelegenheiten / alle BDVP
Minister für Verteidigung
Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit / alle Bezirksämter für Nationale Sicherheit
Vorsitzender der in der Volkskammer vertretenen Parteien, Fernsehen und Rundfunk der DDR und ADN

Als Anlage erhalten Sie einen Aufruf zum Handeln.

Heute wir – morgen Ihr

Genossen, Kampfgefährten, Patrioten im In- und Ausland, Bürger der DDR

Von tiefer Besorgnis getragen über die gegenwärtige und sich weiter abzeichnende innenpolitische Situation in unserer sozialistischen Heimat, DDR, wenden wir uns an euch und an die, für die auch ihr Verantwortung tragt, mit einem Aufruf zum noch möglichen gemeinsamen Handeln für die Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und damit der Existenzgrundlage für den weiteren Bestand der DDR.
Unser Land befindet sich gegenwärtig in einer Phase der revolutionären Veränderungen, das Ziel soll und muss ein neuer, wahrer Sozialismus sein, mit dem wir uns eindeutig identifizieren. Diesen können wir jedoch nicht erreichen, wenn wir zulassen, dass unserem Staat Stück für Stück alle Machtinstrumente aus der Hand genommen (gegeben?) werden.
Beherzigen wir die Erkenntnis von Lenin über die Fragen der Macht.
Genossen, Bürger und Patrioten der unsichtbaren Front im In- und Ausland, wer mit Macht spielt, sie sich aus der Hand nehmen lässt – besonders während einer Revolution – in der wir uns zur Zeit befinden, der wird scheitern.
Der nutzt nicht uns, der dient der Reaktion.
Genossen, Bürger, heute richtet sich der Hass eines Teiles unseres Volkes, geführt durch eine Minderheit unserer Bevölkerung, gegen das ehemalige MfS und jetzige Amt für Nationale Sicherheit. In unserem Bezirksamt gibt es Erkenntnisse, dass Bestrebungen existieren, den ›Volkszorn‹, nachdem das Amt für Nationale Sicherheit zerschlagen ist, schnell auf die Strukturen und Kräfte der anderen bewaffneten Organe zu lenken, um diese ebenfalls zu zerschlagen. Sollte es uns allen gemeinsam nicht kurzfristig gelingen, die Anstifter, Anschürer und Organisatoren dieser hasserfüllten Machenschaften gegen die Machtorgane des Staates zu entlarven und zu paralysieren, werden diese Kräfte durch ihre Aktivitäten einen weiteren Teil unserer Bevölkerung gegen Staat, Regierung und alle gesellschaftlichen Kräfte aufbringen. Was kommt dann?
Sorgen wir also gemeinsam für diese unverzügliche Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit - und dies ist unsere Forderung gegenüber jedermann.
Genossen, Bürger, damit keine Zweifel aufkommen, auch wir sind für die Aufklärung und notwendige Bestrafung bei Fällen von Amtsmissbrauch, Korruption und ähnlichen Delikten.
Täglich erhalten wir zahlreiche Anrufe aus dem In- und Ausland, die zum Ausdruck bringen, dass wir alles in unseren Kräften stehende tun müssen, um unseren sozialistischen Staat im Interesse aller zu schützen und zu erhalten.
Diese berechtigte Forderung kann jedoch nur erfüllt werden, wenn die bewaffneten Organe unserer gemeinsamen Heimat DDR weiter bestehen und aktiv handeln können.
Dies schließt nach unserem Verständnis und den Praktiken und Notwendigkeiten aller entwickelten Staaten dieser Welt die Existenz eines Organs, welches mit spezifischen Mitteln und Methoden arbeitet, ein.

Das Kollektiv des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Gera und die Kreisämter.

Wieder Thaysen auf S. 58:

 

 

Die Machtprobe bis zum 15. Januar 1990. Zuerst Thaysen (Seite 59 bis 62):

 

 

Wer am 15. Januar 1990 (siehe Uwe Thaysen letzter Absatz) nicht kommen wollte, war der im naiven Westen als Reformer angesehene Modrow. Mit dem anmaßendem Hinweis, er sei schließlich nicht durch eine Machtergreifung Ministerpräsident geworden und er außerdem keine Zeit habe, wollte er den Runden Tisch schwänzen. Gerade die freche Behauptung, ohne Machtergreifung sein Amt innezuhaben, brachte das Fass auf den Straßen wieder zum Überlaufen (siehe auch meine Rede vom 15. Januar 1990). Die SED hatte sich nie wählen lassen und der Kasper behauptete, er sei anständig ins Amt gekommen. Das war frech, so frech wie die SED immer war. Sein Amt war das Ergebnis 40jähriger Machtusurpation seiner Partei. Nicht mehr und nicht weniger. Die Straße machte es ihm wieder klar. Überall wurde wieder demonstriert, besonders in Ostberlin und Leipzig. Ein Transparent in Ostberlin lautete »Opposition am Runden Tisch – wir Bauarbeiter unterstützen dich.« Und es stand für alle Demonstranten dieser Tage und Wochen.

Am Ende kam Modrow doch und verkündete das Ende von Verfassungsschutzvorbereitungen bis zur Wahl am 6. Mai 1990.

Ob dies der Speck für die oppositionellen Drittwegler war, dafür den Verfassungsentwurf manifest mit auf den Weg zu bringen? Die SED/MfS-Hoffnungen lagen mit Sicherheit auf einen ihr genehmeren Wahlausgang, um dann mit Hilfe der Drittwegler in der Opposition einer gemeinsamen Sperrminorität gegen die Einheit in der neuen Volkskammer zu schmieden. Die Kampagne für einen Verfassungsentwurf des Runden Tisches war jedenfalls darauf ausgelegt. Viel erreichte die SED auch damit nicht. Am 18. März 1990 votierten 16,4 Prozent der Ostdeutschen für die Partei Der Stasi.

Zu Uwe Thaysens Verdiensten um die Beschreibung des Zentralen Runden Tisches in Ostberlin gehört u.a. eine sehr schöne schematische Darstellung der Kräfteverhältnisse und Machtproben am Tisch. Auf den Seiten 152/153 ist dies anschaulich dargestellt:

  • – 1./2. Sitzung (7.-18.12.89) : Fixierung der Formation zum alten Machtkampf
  • – 1.-9. Sitzung (7.12.89-22.1.90): Der alte Machtkampf: Die Niederringung der SED und ihres Staatssicherheitsdienstes
  • – 6./7. Sitzung (8.1.-15.1.90): Woche der Wende: 8.1.90 Ultimatum an Modrow, 12.1.90 Verzicht auf neuen Sicherheitsdienst, 15.1.90 Stürmung des MfS-Hauptquartiers
  • – 6.-9. Sitzung (8.1.-22.1.90) Machtvakuum
  • – 7.-10. Sitzung (15.1.-29.1.90): Von der Koalitionsregierung zur Regierung der nationalen Verantwortung oder vom Veto-Organ zur Steuerungsinstanz
  • – 9./10. Sitzung (22.1.-29.1.90): Zustandekommen der Regierung der nationalen Verantwortung /Vorziehung Wahltermin vom 6. Mai auf den 18. März 1990 (GW)
  • – 10.-16. Sitzung ( 29.1.-12.3.90): Steuerungsinstanz Einbindung in die Regierung der nationalen Verantwortung
  • – 11. Sitzung (5.2.90): Beschluss gegen westliche Gastredner
  • – 11.-16. Sitzung (5.2.-12.3.90) Arena des neuen Machtkampfes / Wahlkampfforum
  • – 12. Sitzung (12.2.90): Positionen für Modrows Bonn-Besuch
  • – zwischen 14. und 14. Sitzung am 23. 2.1990 Beschluss der AG Sicherheit des Runden Tisches


    Beschluss der AG Sicherheit des zentralen Runden Tisches zur Auflösung der HVA:
    Die Arbeitsgruppe Sicherheit des zentralen Runden Tisches gibt den Mitarbeitern der ehemaligen Hauptverwaltung Aufklärung den Auftrag, ihre Diensteinheit gewissermaßen selbst aufzulösen: In der Annahme, es handle sich um einen mehr oder weniger normalen Nachrichtendienst werden dessen Geheimhaltungsregeln weiterhin respektiert. Das hat zur Folge, dass diese Akten weitgehend vernichtet worden sind.
    (Quelle BStU)

  • – 12.-16. Sitzung (Exponent einer neuen/alten DDR-Regierung?
  • – 15. Sitzung (5.3.90): Sozialcharta
  • – 16. Sitzung (12.3.90): DDR-Verfassung/ Dritter Weg!!! (GW)

Der Runde Tisch war eindeutig ein Symbol des Sieges der Friedlichen Revolution 1989. Die SED suchte diese Niederlage über Monate in klingende Münze für die kommenden Volkskammerwahlen umzurubeln. Die beiden letzten Sitzungen des Runden Tisches mit den Punkten Sozialcharta und Verfassung waren wohlgesetzte Kernpunkte der DDR-Erhalter und Drittwegler. Die Wählerinnen und Wähler entschieden dessen ungeachtet: Keine Experimente und wir wollen die Einheit.

Die Bilanz muss gemischt bleiben. Der geordnete Weg zur Volkskammerwahl, zur Teil-Entmachtung der alten Garde, zur Überwindung der Kräfteverhältnisse am Tisch selbst, dies alles sind gewaltige Meilensteine der Freiheitsgeschichte der DDR. Der Beschluss zur Selbstauflösung des MfS/der HVA und der Ritt auf dem Dritten Weg der SED beschädigen den Gesamteindruck.

 

 

Stolpersteine eins bis drei erschienen in Globkult: Die SED setzte Stolpersteine, 22. 4. 2017

 

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