Anfänge sozialdemokratischer Deutschlandpolitik in Berlin
Tatsächlich ging der Wandel der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der Ost- und Deutschlandpolitik von Berlin aus. Die grundlegenden Ideen und Konzepte für diese neue Politik, die den programmatischen Titel: »Wandel durch Annäherung« im Jahre 1963 erhalten sollte, und deren Praxis durch eine »Politik der kleinen Schritte« geprägt werden sollte, wurden in einem engen Beraterkreis um Willy Brandt entwickelt. In diesem nach amerikanischem Vorbild gebildeten brain-trust wurden die Faktoren erkannt, die zu einem Umdenken in der Deutschlandpolitik führen mußten, die ein Nachdenken auslösten über die Frage, »ob noch die Voraussetzungen jener Wiedervereinigungspolítik stimmten, die stets als die alleingültigen bezeichnet worden waren«. (Brandt 1976, S.25)
In Berlin, der prägnanten Schnittstelle der Blocksysteme, geprägt durch seine Insellage und mit dem Etikett »Frontstadt« versehen, lebten Menschen, die unmittelbar erleben und erfahren mußten, welche Bedeutung der Kalte Kgieg mit seinen Krisenhöhepunkten für eine Stadt haben konnte. Der Mauerbau am 13. August 1961 und der qualvolle Tod des Ostberliner Bauarbeiters Peter Fechter, der am 17. August 1962 zwischen Mauer und Stacheldraht verblutete, ohne daß Hilfe vom Westteil der Stadt aus möglich gewesen wäre, waren Stationen und Situationen, die in der Westberliner Bevölkerung von Panik und Verzweiflung geprägte Emotionen hervorriefen. Zwei Dinge wurden dabei deutlich, die geradezu nach einer neuen Lagebeurteilung durch die Politiker riefen: Erstens waren die Vorgänge für die meisten Berliner Beweise für die Unwahrhaftigkeit der Illusionen über eine verschönte Lage der Stadt. Zweitens war durch die endgültige Abschottung Berlins – und in der Folge der DDR – klar sichtbar, wie es um den Treueschwur der westlichen Alliierten in der Realität bestellt war: Die Garantien der drei Westmächte existierten lediglich für die Westsektoren der Stadt und implizierten somit das Anerkenntnis eines Status quo, wie er von Kennedy in seiner Rede über die »Strategie des Friedens« betont worden war. Diese beiden Faktoren, die in der Bevölkerung rasch zu einem neuen Realitätsbewußtsein führten, mußten in eine neue Berlin-Konzeption eingehen, sollte nicht das Vertrauen der Berliner in ihre politische Führung verlorengehen.
Willy Brandt erkannte, daß er zum einen über die wirkliche Lage Berlins aufklären mußte, was er »nur noch mit einer schonungslosen Aufzählung eiskalter Realitäten und möglichst überzeugender Ehrlichkeit« (Prowe 1976, S.252) erreichen konnte. Zum anderen mußte er sich an die osteuropa- und deutschlandpolitischen Leitlinien der USA anpassen, wollte er die Existenzgrundlage der Stadt nicht riskieren.
Wenn schon die Westmächte den Status quo zementierten, indem sie als Schutzmächte nur für die Westsektoren auftraten, den Ostsektor der Stadt und die DDR allerdings dem sowjetischen Einflußbereich zuwiesen, dann mußten dort, wo dem Westen ohnehin die Möglichkeiten zur Einflußnahme fehlten, unhaltbare Rechtspositionen abgebaut werden. Die Anerkennung dieser politischen Realitäten wurde zur Vorbedingung für 0st-West-Verhandlungen, die auch von den Westmächten gedeckt werden konnten.
In der Adaption an westliche Positionen lag also die einzige Möglichkeit zur erfolgversprechenden Durchsetzung des zweiten Zieles, mit dem Osten in Gespräche über technische und menschliche Erleichterungen für die Bevölkerung und die geteilte Stadt zu kommen. In Berlin wurden so von Willy Brandt als erstem westdeutschen Politiker zentrale Positionen der amerikanischen Politik übernommen, während die CDU-geführte Koalition in Bonn auf zunehmende Distanz zu den Amerikanern ging. Gerade der Entspannungskurs Kennedys stieß bei den Unionsparteien, insbesondere bei Adenauer, auf schwerwiegende, die deutsch-amerikanischen Beziehungen belastende, Vorbehalte. Es waren, von Berlin ausgehend, erneut die Sozialdemokraten, die die amerikanische Entspannungspolitik vor allen anderen politischen Kräften rezipierten und sich so in Opposition zum Regierungslager als »Garanten einer pro-amerikanischen Außenpolitik« (Grabbe 1983, S.404) zu qualifizieren vermochten.
Die Übernahme der amerikanischen Politik der Entspannung durch die SPD bezeugte Brandt auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Köln vom 26. bis zum 30. Mai 1962, indem er auf die deutliche Distanz hinwies, die die Regierung zu den USA geschaffen hatte: »Viele Mißverständnisse der letzten Monate sind das Ergebnis der Tatsache, daß bei uns vielfach die Konzeption unserer wirklichen Freunde jenseits des großen Wassers nicht verstanden worden ist. Sie bedeutet: stark sein und verhandeln. Hier gibt es keine Alternative mehr. Stärke ist kein Selbstzweck. Sie ist kein Mittel, den Gegner in die Knie zu zwingen. Sie ist die Basis, um den Ausgleich zu suchen, um zu überleben und im friedlichen Ringen die Position zu verbessern.«
Einen »raschen und einfachen Weg zur Wiederherstellung einer staatlichen Einheit« sah Brandt nicht, und eine »abschließende Lösung des Berlin-Problems« gebe »es erst im Zusammenhang mit einer Lösung der deutschen Frage«. Ich bin für einen modus vivendi, der den drei bekannten Garantien entspricht«; (diese waren von J.F. Kennedy am 25. Juli 1961 ausgesprochen worden: 1. Präsenz amerikanischer Truppen in Berlin; 2. Freier Zugang von der Bundesrepublik nach Berlin, und 3. Sicherung der Lebensfähigkeit der Stadt).
»Für die Einhaltung dieser ›essentials‹ sei das westliche Bündnis zum Risiko bereit und umfassendere Lösungen zu einem späteren Zeitpunkt nicht verbaut. Gerade wenn es sich um einen technischen modus vivendi handelt, müssten allerdings alle Einzelheiten genau beschrieben und festgelegt werden, denn der Teufel kann bekanntlich im Detail liegen«. (Krause et al. 1984, S.61ff.)
Tatsächlich hatte der Berliner Senat bereits im November 1961 durch das Rote Kreuz in Ostberlin vorfühlen lassen, ob nicht die Wiederaufnahme von Verkehrs- und Fernmeldeverbindungen zwischen den West- und Ostsektoren der Stadt möglich sei. Diese erste Initiative wurde von Ostberlin zwar abgelehnt. Sie zeichnete jedoch den Weg vor, auf dem vorläufig in Kontakt getreten werden konnte und sollte.