Verdeckte Offensive und Gemeinsamkeitspolitik
Die »Politik der kleinen Schritte« hatte die SPD mit dem Passierscheinabkommen in die Offensive gebracht. Die deutschlandpolitische Neuorientierung ging also von der Opposition aus, während die Regierungskoalition durch den Kanzlerwechsel und die während Erhards Kanzlerschaft noch zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen »Gaullisten« und »Atlantikern« ein eher desolates, zumindest doch sehr passives Bild bot. Es war für die SPD allerdings geboten, die Kritik an der Regierungspolitik nicht eskalieren zu lassen, wollte sie ihre deutschlandpolitischen Alternativen auch in die offizielle Bonner Politik einbringen.
Zu dieser Taktik, die darin bestand, Auseinandersetzungen mit den Regierungsparteien zu vermeiden, um Zugang zum außenpolitischen Entscheidungsprozeß zu erhalten, zählten sicherlich auch Vorschläge, wie der Erich Ollenhauers: Er bat die Bundesregierung in einer Plenumsdebatte am 11. Oktober 1962, »einen kleinen Arbeitsausschuß« zu bilden, der »aus Vertretern der Bundesregierung und des Berliner Senats und aus Vertretern der drei Fraktionen des Bundestages« bestehen sollte. Diesem Ausschuß sollte der Auftrag gegeben werden, »den gesamten Fragenkomplex um Berlin zu untersuchen und fortgesetzt den Versuch zu machen, zu gemeinsamen Vorstellungen zu kommen«. (Stenographische Berichte der Verhandlungen des 4. Deutschen Bundestages, S.1886) Da das Berlin-Problem und auch die deutsche Frage von den Sozialdemokraten seit Wehners Plädoyer für eine gemeinsame Politik als Gemeinschaftsaufgabe aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien verstanden wurde, gliederte sich dieser Vorschlag Ollenhauers nahtlos in die Reihe jener Versuche ein – ohne öffentlich Alternativen zu proklamieren – › den Sozialdemokraten beim Wähler Profil zu verschaffen, indem sie sozusagen durch verdeckte Offensiven Verantwortung mit übernahmen.
Die deutschlandpolitischen Erfolge Brandts, zu denen im September 1964 beispielsweise ein weiteres Passierscheinabkommen zählte, das sich gleichzeitig auf mehrere Besuchsperioden erstreckte, steigerten selbstverständlich das Selbstbewußtsein der oppositionellen SPD.
Sie war allerdings darauf angewiesen, eine Gefährdung der Gemeinsamkeitspolitik auszuschließen. Aus ihrer Sicht kam es jetzt darauf an, den Konfrontationskurs der fünfziger Jahre völlig zu verlassen, mithin Alternativen zur Regierungspolitik im Sinne des alten Entweder-Oder zu vermeiden. Erst nach dem abermaligen Wahlverlust im Jahre 1965 kamen in der SPD wieder Stimmen auf, die nach einem geräuschvolleren Oppositionsstil verlangten. Herbert Wehner mahnte beispielsweise an, daß »die wohlabgewogenen Bemühungen um schrittweise Verbesserungen der innerdeutschen menschlichen und geschäftlichen Beziehungen« schon längst »eine gründliche Sachdiskussion erfordert hätten.«
Auch andere Aussagen bestätigten ein Umdenken innerhalb der SPD. Der Dortmunder Parteitag vom 1. bis zum 5. Juni 1966 stellte dann endgültig den Wandel des Oppositionsverhaltens als klar definierten Auftrag an die Bundestagsabgeordneten der SPD ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Herbert Wehner resümierte, die sozialdemokratische Opposition habe seit 1963 die Möglichkeiten zur unmittelbaren parlamentarischen Konfrontation nicht genutzt. Tatsächlich war die Partei aber auch schon auf Bundesebene im Sinne der »Politik der kleinen Schritte« weiter vorgeprescht, als selbst die gewollte Gemeinsamkeit mit der Bundesregierung dies wohl erlaubte. Der geplante Redneraustausch mit der SED war ein Schritt, den die SPD dazu nutzen wollte, die Bundesregierung zur Aufgabe ihrer deutschlandpolitischen Passivität zu zwingen. In ihrer Erwiderung auf den Brief der SED schlug die SPD eine Einbeziehung aller in Bundestag und Volkskammer vertretenen Parteien vor. Dies sollte nicht zuletzt die Bundesregierung veranlassen, deutschlandpolitisch Farbe zu bekennen. Die Antwort enthielt scharfe Angriffe auf die SED. Die SED beharrte auf Rednern ihrer eigenen Partei und der SPD, die in zwei ausgesuchten Städten Deutschlands öffentlich auftreten sollten. Von der SPD wurde ein solches Vorgehen nun begrüßt, sofern damit eine freie und umfassende Berichterstattung in beiden Teilen Deutschlands verbunden wäre.
Die Bundesregierung, die von der SPD um ihr Placet nachgesucht worden war, scheute sich zunächst vor einem deutlichen Bekenntnis zur Möglichkeit eines Redneraustausches. Für sie stand auf dem Spiel, eine Nebenaußenpolitik, bzw. Deutschlandpolitik zuzulassen, die die Opposition auf das gleiche Niveau gestellt hätte, auf dem sie sich selbst befand. Der öffentliche Druck wurde jedoch so stark, daß sie unter der Bedingung der Einhaltung der Prinzipien »Nichtanerkennung der DDR«, »Ablehnung einer Konföderation« und »Betonung des Alleinvertretungsanspruches der Bundesrepublik« zustimmte. Somit war wieder einmal das Prinzip der Gemeinsamkeit gewahrt, die SED sagte aber aus Beweggründen, denen eine Eindeutigkeit fehlte (Czerwick, S.193, Anm.940), den geplanten Austausch von Rednern ab. Dieser gescheiterte Dialog wurde sogar von Unionsseite aus als »Startzeichen für eine neue Politik« bezeichnet. (So z.B. Bergsdorf, Wolfgang, in: Deutschland Archiv, Czerwick, S.138) Letztlich aber war bewiesen worden, daß die Bundesregierung in deutschlandpolitischer Hinsicht das Steuer aus der Hand gegeben und die Sozialdemokraten es übernommen hatten.