Ulrich Schödlbauer

9.

Die bloße Wahrheit ist ein simpel Ding. – Wäre es nötig, die Begegnung Casanovas mit Voltaire mit einem Emblem zu bedenken, es wäre das von Hahn und Pfau. Treffender könnte das Arrangement nicht sein: vom milden Haller kommend wendet sich der Abenteurer dessen unerschöpflichem Thema zu, den berühmten Mann in Les Délices aufsuchend, sich ihm stellend inmitten eines Hofstaats von Kavalieren und Damen – sie sollen auf ihre Kosten kommen. Was auffällt, ist dieses ungemeine Sichspreizen beider Parteien; es zeigt, worauf Casanova von Anfang an aus ist, und auch, dass Voltaire die Herausforderung routiniert annimmt – da ist keiner, der dem anderen den Vortritt lassen möchte, genau darum geht es. Und alles ist Theater: drei Tage Tragödie, die Helden schlagen sich um die höchsten Werte Europas – das Gewicht eines Ariost-Verses hier, eines Tassoni-Wortes dort –, und dann das Satyrspiel, der obligate Disput über die Menschennatur und den Aberglauben, diese »Bestie«, wie Voltaire ihn nennt, welche das Menschengeschlecht zu verschlingen drohte, worauf Casanova entgegnet, sie verschlinge niemanden, sei vielmehr notwendig zum Bestehen der Menschheit – über diese, Voltaire zufolge, »furchtbare Lästerung« also wechselt man Formulierungen aus der Kladde: Hobbes und Locke, Notwendigkeit und Freiheit, der Souverän und die Stände. »Und Sie gehören doch zum Volk«, ruft Voltaire aus – Sie sind doch Volk, soll das heißen –, als Casanova die Monarchie verteidigt, die in den Augen des anderen ein Despotismus ist, unverträglich mit den Freiheitsrechten der Völker. Zwar speist man gut beim Dichter nach des Gasts Bemerkung, doch diesen Früchten vom Baum der Erkenntnis fehlt es an Frische des Geschmacks. Der Leser, beunruhigt, nimmt Zuflucht zu einer Hypothese: Aus welchem Grunde wohl provozierte Casanova diesen dürren Disput – denn das tut er, in der Tat –, einen Disput, in dem er sich darauf beschränkt, dagegen zu halten, wenn nicht eben das seine Absicht wäre: den anderen vorzuführen, späte, subtile Rache für erlittene Unbill in diesem Treffen der Eitelkeiten zu üben. Die Miniatur des Philosophen, der nicht in Form ist, mit spitzem Pinsel entworfen und sorgsam eingefügt in die Bestandsaufnahme der alten Gesellschaft, wie sie der Memorist erfahren hat und zu verstehen glaubt, sie denunziert den Denkstil des Antipoden als thetisch und revolutionär und erfahrungsblind; man kennt die Gleichung. Seine Form, fast überflüssig zu sagen, stellt er, Casanova, solange der Besuch dauert, allnächtens verschwenderisch unter Beweis – ein wohlgenährter Gast im Stall Epikurs.

 

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