(49) Erfüllungserfüllung
Der Yagir ist das Land der Frauen. Jedermann will dort Frau sein. Fakt ist, nur wenige schaffen es, die Anforderungen zu erfüllen. Die gefühlte Mehrheit irrt identitäts- und geschlechtslos durchs Land, vom Grübeln gezeichnet, das ihr herbes Los über sie verhängte: »Woran hängt’s? Warum bin ich die, bei der es nicht klappen will? Was habe ich getan? Warum wurde ich abgehängt? Bin ich ein Mann? Nein. Warum nicht? Da beginnt schon das Unrecht. Warum bin ich keine Frau? Habe ich vielleicht keine Rechte? Habe ich keinen Beruf? Ist er nicht ebensoviel wert wie irgendein anderer? Warum? Ist er nicht mehr wert als irgendein anderer? Was hätte ich nicht getan! Sind meine Kinder nichts wert? Bin ich, die ich sie großziehe, nichts wert? Warum habe ich keine? Bin ich perfekt? Gestern abend war ich perfekt und kein Anwesender hat es bemerkt. Bin ich jetzt schwul oder lesbisch oder beides oder etwas Drittes, was ich nicht kenne? Kann, darf oder muss ich dafür dankbar sein und was sagt dazu meine Community? Ich kann gar nicht sagen, was man so alles denkt, wie soll ich dann sagen können, was ich wirklich nicht denke, schon weil ich es beim besten Willen nicht denken könnte, es sei denn, ich hörte auf, mir überhaupt meinen Teil zu denken? Wie soll das denn gehen? Sind meine Gedanken keine Gedanken? Wozu gibt’s überhaupt Gedanken? Zum Wegsaufen?« So oder ähnlich laufen die unkontrollierten Gedanken von Personen, die nicht als Ausziehpuppen der Unterhaltungsindustrie oder als Dozent*innen für weibliches Dozieren oder als Seilschaftsfrauen für politisch korrekte Hochseilakrobatik gebraucht werden und darum das Glück vermissen, ein erfülltes Leben zu führen. Fragen Sie, was die Erfüllten erfüllt, so stößt man Sie, neben den zeitraubenden Terminen, auf echte Füller: den beglückenden Umgang mit anderen, gleichfalls Erfüllten, die ganz ganz große Sensibilität für die großen Fragen der Zeit, darunter die Frage der Abgehängten, denen unser aller Mitgefühl gilt, falls sie nicht gerade zur Wahl gehen oder ein kleines Autodafé veranstalten, und schließlich das Glück der Rolle, denn Erfülltsein heißt hart arbeiten und eine Rolle spielen, »ich weiß nicht, was sonst aus mir würde. Was denken Sie? Eine Rolle? Wo denken Sie hin? Damit kommt keine weit. Wesen wie ich kommen eigentlich aus der Zukunft und kehren, sobald es angeht, dorthin zurück. Ich liebe meine Rollen und sie lieben mich. Jede von ihnen ist die eine, die mir alles abverlangt, für die ich alles gebe – und sei es das Letzte –, die ich mit Leben erfülle, nicht unbedingt mit dem eigenen, aber mit welchem sonst? Mit welchem sonst? Diese Rolle bringt mich weiter, in jener bliebe ich stecken. Da weiß ich schon, welche mich braucht, um zu glänzen. Mit dem Leben ist es schließlich wie mit den Krankheiten. Keine Krankheit ist besser als irgendeine. Ist sie deshalb die beste? Keine Ahnung. Aber das macht doch nichts. Meine Krankheit heißt Luxus.«