Die Politik der kleinen Schritte und der Wandel durch Annäherung
Zwei Reden, die eine von Willy Brandt als Regierungserklärung am 18. März 1963 vor dem Berliner Abgeordnetenhaus gehalten, die andere von seinem wohl engsten Mitarbeiter, Egon Bahr, am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing referiert, dürfen als die Grunddokumente einer neuen ost- und deutschlandpolitischen Konzeption gelten, zu der sich auch die SPD parallel zur Rezeption der amerikanischen Entspannungspolitik bekannte, nicht zuletzt deshalb, weil »die Einsicht in das Unabänderliche überwog« (Grabbe 1983, S.395). Brandt plädierte im Landesparlament für eine Zwischenlösung in der Berlinfrage, die die aktuellen Gegensätze von Wiedervereinigung und Anerkennung der DDR und von Wiedervereinigung und Entspannung zwar nicht gänzlich aufheben konnte, die aber als ein von Brandt definierter »Status quo plus« die Wiedervereinigung erst einmal in die unbestimmte Zukunft verwies, während sie gleichzeitig die Möglichkeit für mehr Eigeninitiative auf dem Verhandlungswege schuf. Der Status quo plus bestand, so Brandt, aus der alliierten Präsenz, den Verbindungen Berlins zur Bundesrepublik und dem Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung. Als »plus« sollten in der Stadt menschliche Erleichterungen an der Mauer und eine größere Sicherheit auf den Zufahrtswegen nach Berlin erreicht werden. (Prowe 1976, S.272f.)
In Tutzing erläuterte Egon Bahr inzwischen die Prinzipien der «Politik der kleinen Schritte«, die er allerdings als »Diskussionsbeitrag« verstanden wissen wollte. Bahr ging davon aus, daß nicht nur das Berlin-Problem nicht isoliert gelöst werden konnte, sondern auch das Deutschland-Problem Teil des Ost/West-Konfliktes war, und daß die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung nur mit der Sowjetunion zu schaffen seien. Aus der amerikanischen »Strategie des Friedens« folgerte Bahr mit Blick auf die Wiedervereinigung, daß die »Politik des Alles oder Nichts« ausscheide. Die Auffassung von der Wiedervereinigung als einem »einmaligen Akt« müsse dem Verständnis für einen Prozeß mit vielen Schritten und vielen Stationen weichen. Die Ablehnung, »das Zonenregime anzuerkennen«, hielt er weiterhin für berechtigt, die Diskussion über eine Anerkennung der DDR erschien ihm allerdings insofern für zu eng und sogar für gefährlich, weil sie in eine Sackgasse führen und jegliche Politik verbauen könnte. Unterhalb der »juristischen Anerkennung« sei es aber gleichwohl denkbar und zu wünschen, Mittel und Wege der Kontaktaufnahme, die in gewissen akzeptierten Formen schon bestünden, »in einem für uns günstigen Sinne zu benützen«. Dabei habe »es zunächst um die Menschen zu gehen und um die Ausschöpfung jedes denkbaren und verantwortbaren Versuchs, ihre Situation zu erleichtern. Eine materielle Verbesserung müßte eine entspannende Wirkung in der Zone haben.« Im »Prozeß zur Wiedervereinigung« rückten für Bahr die Erleichterungen für die Menschen in den Mittelpunkt der Politik, die er auf die Formel »Wandel durch Annäherung« brachte. Sich selbst und die andere Seite zu öffnen, die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen, die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen und alle Möglichkeiten wahrnehmen, die die Auflockerung der Grenzen und der Mauer wahrscheinlich machten: Das waren die zentralen und wegweisenden Inhalte der Tutzinger Rede.