Die Stadt liebt es andersherum, sich im Spiegel der Literatur zu betrachten, ob sie sich dort immer unbedingt zu seiner Zufriedenheit wieder erkennt, sei dahingestellt. Was zählt ist, dass die Stadt überhaupt in der Literatur vorkommt. Die Stadt braucht anscheinend dieses Spiegelbild, als ob sie ohne dieses nicht ganz wahr wär’, sie braucht diese beständige Bestätigung durch die Literatur, diesen Glanz in den Augen der Literatur. Literatur verhilft der Stadt zu mehr Selbst- und Mehrwert, sie schmeichelt der Stadt, nobilitiert sie, veredelt, schmückt nicht nur. Sie ist ein Zeichen von Anerkennung und Stellenwert. Dichter werden den Städten zu Heiligen und Patronen, Literatur wird zu immer gerne zitierten heiligen Schriften.

Schon die frühesten bekannten Städte sind nicht nur Stätten des literarischen Schaffens gewesen, nicht nur Fundorte von Fundgruben mit Schrifttum verschütteter Bibliotheken, abgebrannter Archive, untergegangener Listen und verschollener Protokolle. Sie sind nicht nur Orte literarischer Inspiration, nicht nur Wohnorte von Literaten, wo es sich gut schreiben lässt, sondern auch zu Literatur verdichtete Topoi: Jericho, Babel, Palmyra, Ur, Damaskus, Ninive, Memphis, Troja…

Die Beziehungen zwischen Stadt und Literatur werden immer komplexer, immer raffinierter. Im Laufe der Zeit werden Städte für die Literatur nicht nur immer selbstverständlichere Wohnorte der Autoren und Handlungsorte ihrer Werke, Schauplätze von Erzählungen und Geschichten, sondern auch die Stadt selbst wird ihr eigener – und nicht so selten einziger – Stoff, Gegenstand, Thema und Motiv. Manchmal auch die einzige Motivation. Viel später – erst im 20. Jahrhundert – kristallisiert sich sogar eine eigene Gattung, das Stadtporträt heraus, aber die Vorbestimmung dazu ist wohl auch schon bei den Ursprüngen zu erahnen.

In der Tat: diese beiden uralten menschlichen Phänomene, basalen Ausdrucksformen der menschlichen Kultur sind schon von ihrer inneren Beschaffenheit her füreinander bestimmt, weisen sozusagen strukturell schon so verblüffende Wahlverwandtschaften auf, dass sie einfach schon strukturell nicht lange umhin konnten, zueinander zu finden. Sie sind wie platonische Hälften, von unbändigem Eros getrieben, sich zu liieren.

Beide sind sie und beide haben komplexe Strukturen, die fast reflexhaft auf Verdichtung aus sind, selbst wenn man gewiss weiß, dass »Dichtung« nur vermeintlich von »verdichten« kommt, nur auf dem Wege der Volksethymologie. Beides hat Aufbau, Kohärenz, manchmal Plan, zumindest Entwurf oder Skizze. Beides arbeitet mit Begriffen wie Architektur und Architektonik. Nicht von ungefähr werden Bezeichnungen wie Text, Textur auf Literatur wie Stadt bezogen, denn beide sind sie gewaltige symbolische Zeichensysteme, die grundsätzlich lesbar und auslegbar sind, selbst wenn sie mitunter eher Hieroglyphen oder Labyrinthen ähneln als Lettern und Straßen. Auf beide treffen die Begriffe Architektur und Architektonik zu. Aber auch verschiedene Metaphern, wie etwa die des Organismus. Auch liegen andere Metaphern auf der Hand: Schrift, Inscriptum. Beides ist Vehikel und Beschleunigungsmaschine. Beide entstehen entweder nach einem vorgefertigten Plan oder entwickeln sich spontan und sporadisch, um am Ende dann doch Struktur erkennen zu lassen. Beiden liegt die Dialektik von Begrenzung und Entgrenzung, von Geschlossenheit und Offenheit, Einmaligkeit und Universalität zugrunde, diese legen sie auch zutage, beides wird trotzdem als eine gewisse Einheit wahrgenommen. Stadt wie Literatur tragen Zeichen der Zeit und Spuren der Geschichte in sich, sie sind sozusagen intertextuell, sind nur innerhalb von Traditionslinien angemessen zu verstehen. In beiden Bereichen findet sich die Verbindung zur Welt: denn es gibt sowohl »Weltstadt« als auch »Weltliteratur«. Beide verraten Tendenzen, reziproke Einflüsse, Epochen, Moden und Stile. Beide lechzen danach, gedeutet, interpretiert zu werden. Beides ist Konstruktion, beides Ausdruck, nicht bloß Mittel, eine Darstellung. Ausdrucksform der Kultur, Inszenierung. Beides ist Signum.

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