I. Das Ende des Westens, wie wir ihn kennen
Der drohende Zerfall des Westens
Nach dem bipolaren Zeitalter der Nachkriegszeit endet das multilaterale Zeitalter, in dem möglichst viele Staaten möglichst viele Verträge unterzeichneten, in der Hoffnung, auf diese Weise eine neue globale Ordnung begründen zu können.
Unsere Zeit wird nicht von einer neuen Weltordnung, sondern von ideologischer und struktureller Konfusion geprägt. Statt der altvertrauten Unterscheidungen nach Demokratie und Diktatur oder Sozialismus und Kapitalismus sind neue Hybridsysteme entstanden, Demokraturen wie in Russland und der Türkei oder auch ein totalitärer staatskapitalistischer Ökonomismus wie in China. Die islamische Welt hat in der Globalisierung ihre Rolle noch nicht gefunden und flüchtet sich stellenweise in regressive und darüber hinaus tendenziell totalitäre religiöse Identitäten.
Die westliche Welt hat über die Wirren der letzten beiden Jahrzehnte die in den neunziger Jahren noch erhoffte Weltherrschaft aus dem Blick verloren. Heute wird sie umgekehrt kulturell, wirtschaftlich und auch politisch von anderen Kulturen und Mächten herausgefordert.
Die Reaktion des Westens auf die neue Weltlage ist von Ratlosigkeit und von innergesellschaftlichen Spaltungen gekennzeichnet, die schlimmstenfalls in einem Zerfall von EU und Nato enden könnten.
Die Brexit-Abstimmung von 2016 beruht auf der Angst, dass Großbritannien zu einer Kolonie der Europäischen Union wird. Dabei wäre die Angst, eine Kolonie Pekings zu werden, viel berechtigter. Wie die USA, aber ohne deren Kapazitäten, wollen die Brexiter für Großbritannien die Rosinen aus der Globalisierung herauspicken und sich dabei nicht mehr von den Regeln des europäischen Binnenmarktes einengen zu lassen.
Die US-Wirtschaft kann mit ihrer hohen Binnennachfrage und einem privaten Konsum von 70 Prozent der Wirtschaftsleistung rechnen. Die geografische und demografische Ausgangslage der USA ist günstig. Dank der Frackingtechnologie nähert sie sich der Energieautarkie. Die USA können sich von der Welt zurückziehen, ohne sich selbst zu gefährden. Schon fürchten manche im Fall der Selbstisolation ein weltweites Machtvakuum. (Peter Zeihan, The Absent Superpower. The Shale Revolution and a World without America, o.O. 2016.)
Mit den neuen nationalen Globalisierungsstrategien der USA und Großbritanniens spaltet sich der Westen zwischen den angelsächsischen Staaten und der EU. Ein gemeinsamer westlicher Freihandelsraum, wie noch vor der Wahl Trumps geplant, ist kein Thema mehr.
Die Europäer sind ohne die USA militärisch kaum selbstbehauptungsfähig. Die Zahl der autoritären Regime nimmt zu. (Larry Diamond, Facing up the Democratic Recession, in: The Journal of Democracy, Nr. 1, 2015, S. 141ff. Die ausgewerteten Daten zu Bürgerrechten, Wahlprozessen, zivilgesellschaftlichem Engagement und Korruption zeigen weltweit autoritäre Tendenzen, ob in der Türkei, in Mexiko, in Thailand, in der Ukraine, auf den Philippinen, in Polen und Ungarn.) Über die Entfremdung zwischen den USA und der EU könnte der Unterschied von Demokratie oder Diktatur irrelevant werden. Wir erleben das Ende der westlichen Welt, wie wir sie kennen. Die entscheidende Frage lautet, ob danach der Westen und insbesondere Europa noch selbstbehauptungsfähig sind. Der große Historiker des Westens – Heinrich August Winkler – sieht den Westen entweder vereint stehen oder getrennt fallen.